Wird die CDU jetzt aufwachen in ihrer Merkel-Traumtänzerei? Jetzt, wo Merkel die Maske fallen ließ, jetzt wo Merkel den CDU-Ehrenvorsitz und („aus Termingründen“!) ein Abendessen mit dem neuen Vorsitzenden Merz rüde ausschlägt? „Aus Termingründen“! Spötter behaupten, dass Merkel zur gleichen Zeit wohl bei der parallel stattfindenden „Ampel“-Klausurtagung als Schattenkanzlerin zugegen ist. Hineinpassen würde sie dort.
Eine Chance hat die CDU aber nur, wenn sie sich definitiv von Merkel lossagt und deren Verirrungen klar benennt. Beißhemmungen und Heiligsprechungen müssen aufhören. Deshalb war es von Friedrich Merz völlig naiv anzukündigen, dass er die Ex-Kanzlerin und CDU-Ex-Vorsitzende einbinden wolle: „Ich würde mich freuen, wenn Angela Merkel und die CDU auch in Zukunft beieinander bleiben“, sagte Merz am 23. Dezember 2021 in einem Interview mit dem „Spiegel“.
Das waren Steilvorlagen für eine Merkel, die ihrem Erzfeind Merz nun den brutalst möglichsten Korb gab. Was übrigens auch Kramp-Karrenbauer getan hat. Auch sie verweigerte sich einem Abendessen mit Merz. Dabei hätte sie genug Grund, auf Merkel sauer zu sein. Schließlich hat Merkel sie von der Position der beliebten saarländischen Ministerpräsidentin weggelockt und in zwei sie maßlos überfordernden Ämtern (als Parteivorsitzende und Verteidigungsministerin) verschlissen.
Damit hatte die CDU an der Spitze eine Frau, die von sich sagte: „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial.“ So formulierte es Merkel bei „Anne Will“ im März 2009. Gleichwohl trat sie 2017 zum Wahlkampf mit dem Satz an: „Sie kennen mich“. Nein, man kannte und kennt sie ob ihrer ständigen Kehrtwendungen, ob ihrer „Wendehalsigkeit“ eben nicht. Helmut Kohl hat „sein Mädchen“ in seiner manchmal begrenzten Menschenkenntnis nicht durchschaut. Zumindest so lange nicht, bis Merkel ihn 1999 vor die Tür setzte.
1999 und 2022: „Die Partei muss laufen lernen“
„Die Partei muss laufen lernen.“ Dieser Satz stammt von der vormaligen CDU-Generalsekretärin Angela Merkel, die damit die Abnabelung der CDU von Helmut Kohl einläutete. Am 22. Dezember 1999 hatte sie unter dem Titel „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“ in einem FAZ-Namensbeitrag formuliert: „Die Partei muss laufen lernen.“ Welch prophetischer Satz, geschrieben Ende 1999 und gültiger denn je nun Anfang 2022.
Aber: Kohl hat Deutschland vereint, er hat sich um Deutschland historische Verdienste erworben. Merkel hat das Gegenteil getan, sie hat Deutschland gespalten und an die Wand gefahren. Was die „Ampel“ seit November 2021 inszeniert, ist nicht nur im Keim bei Merkel angelegt: eine De-Industrialisierung Deutschlands durch eine aberwitzige Energiepolitik, eine De-Nationalisierung durch offene Grenzen, eine EU-Schuldenunion und die Preisgabe nationaler Souveränität Richtung Brüssel sowie eine Atomisierung der herkömmlichen Familie.
Folge: Die CDU liegt am Boden. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde sie inklusive CSU mit 25,7 Prozent brutal abgestraft und in die Opposition verbannt. Zum Vergleich: 2013 hatten CDU/CSU noch 41,5 Prozent, 2017 dann 32,9 Prozent. Das heißt: CDU/CSU haben seit 2013 exakt 17,4 Prozentpunkte verloren; das sind gut zwei Fünftel ihrer früheren Wähler. Parallel dazu verlor die CDU seit 1990 rund die Hälfte aller Mitglieder. Binnen etwas mehr als 30 Jahren, von denen Merkel mehr als 18 Jahre Vorsitzende war, schrumpfte die CDU von 790.000 Mitgliedern über 405.000 (2018) und mittlerweile 385.000.
Merz als absurder Sisyphos?
Und der neue CDU-Vorsitzende? Mehr als ein Nachlassverwalter? Merz muss endlich dem Image gerecht werden, das er selbst pflegte: ein Mann mit klarer Kante zu sein. Wenigstens einmal, im Jahr 2000, war er das, als er die damals schon wichtige und heute schier überfällige Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ initiierte, aber bald wieder zurückzog.
Vor allem darf man gespannt sein, wie der „Neue“ die vier im Jahr 2022 anstehenden Landtagswahlen übersteht: am 27. März im Saarland, am 8. Mai in Schleswig-Holstein, am 15. Mai in NRW und am 9. Oktober in Niedersachsen. Merz steht zwar dort nicht zur Wahl, aber Wahlschlappen dort werden auch ihm angerechnet.
Merz hat jedenfalls eine Sisyphos-Arbeit vor sich. Merz als Sisyphos? Ja und nein! Sisyphos – das ist bekanntermaßen ein Held der griechischen Mythologie. Wir kennen ihn als rastlosen Seefahrer, ja, so will es manche Sagenversion, als unehelichen Vater des nicht minder listenreichen Odysseus. Vor allem aber kennen wir Sisyphos als gerissenen und zugleich tragischen Helden.
Der französische Philosoph und Nobelpreisträger des Jahres 1957 für Literatur, Albert Camus, hat exakt unter dem Titel „Der Mythos des Sisyphos“ 1942 einen philosophischen Essay veröffentlicht. Der Untertitel dazu lautet: „Ein Versuch über das Absurde“. Camus greift hier die existenzielle Grunderfahrung des Absurden auf – nämlich die Erfahrung der permanenten Konfrontation von Geist und Faktizität, von Hoffnung und Wirklichkeit, von Intention und Ergebnis. In seinem kurzen Sisyphos-Text gewinnt Camus dem Sisyphos als absurdem Helden deshalb auch viel Positives ab. Camus bewundert an Sisyphos unter anderem dessen Verachtung der Götter und dessen leidenschaftlichen Lebenswillen. Insofern ist es nicht so ganz überraschend, dass dieser Essay mit dem Schlusssatz endet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Ob Merz dieser Perspektive gerecht wird? Ob er mit seinem neuen Amt glücklich wird? Ob die CDU mit ihm „laufen lernt“? Oder ob der CDU-Brocken immer wieder den Berg hinab poltern wird? Wir werden es 2022 sehen.