Es war keine große Rede, mit der Angela Merkel ihr wohl letztes bedeutendes politisches Zeichen setzte. Es brauchte nur ein Nicken an der einen, ein Schweigen an der anderen Stelle – und einen Satz, um klar zu machen, was Sache ist; einen Satz mit der brachialen Beiläufigkeit, die nicht nur für Merkels Corona-Politik so typisch ist. „Es wird starke Einschränkungen für Ungeimpfte geben“, sagte sie auf der Sitzung des CDU-Bundesvorstandes am Dienstag – und zwar Einschränkungen sogar über das 2G-Modell hinaus.
Dabei ist ein flächendeckendes „2G-Modell“ nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes als ein Lockdown für Ungeimpfte – etwas, das darüber hinaus gehen sollte, ist eigentlich kaum vorstellbar. Es wäre der härteste Lockdown, den wir in Deutschland bis dato hatten – dass er nur für Teile der Bevölkerung gelten würde, macht es nicht milder, sondern auch im Hinblick auf den Zustand des Rechtsstaates nur noch schlimmer.
Angesichts von niedrigen Todeszahlen, von einer Impfquote bei fast 80 Prozent, die doch nach eigener Aussage die Normalität zurückbringen müsste, und angesichts von erfolgreichen Freedom-Day-Projekten in Großbritannien, Dänemark und Schweden entbehrt ein solcher Schritt jeglicher Logik, aber um die ging es ja ohnehin nie.
Wir haben eben „exponentielles Wachstum“, sagt Merkel. Und wir alle wissen, was es bedeutet, wenn sie das sagt.
Merkels Chancen: Die CDU ist schon wieder auf ihrem Kurs
Merkel hat den Beschluss von Maßnahmen wie dieser nicht mehr in der Hand – im Bundestag ist sie ohne Mehrheit, ihre letzte Hoffnung sind die Ministerpräsidenten. Chancen hat sie dennoch: Markus Söder will Ungeimpften nur noch mit schwer bis unbezahlbarem PCR-Test Zutritt zum öffentlichen Leben gewähren; Winfried Kretschmann geht in Baden-Württemberg einen ähnlichen Weg. Am radikalsten zeigt sich Sachsens Michael Kretschmer, der noch vor nicht allzu langer Zeit die Behauptung, es komme eine Impfpflicht durch die Hintertür, als falsch und „bösartig“ bezeichnete. Jetzt will er flächendeckendes 2G und sogar Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte (Treffen nur mit einem weiteren Haushalt erlaubt).
Die neue alte CDU scheint sich zu fügen: Jens Spahn hielt Merkel bei ihren Ausführungen im Bundesvorstand die Hand, und auch der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst setzt sich dafür ein, dass nächsten Mittwoch ein Corona-Gipfel angesetzt wird, um neue Maßnahmen zu beschließen. Offenbar will er die Ära Laschet besonders schnell aufrollen – und fängt mit dem größten Verdienst des Kanzlerkandidaten an: ein moderates Gegengewicht in der Corona-Politik zu bilden.
Widerstand aus anderen Teilen der CDU bleibt bis dato aus. Verhindern wird Merkels Plan also wohl wenn – dann die SPD.
Über Merkels Gründe lässt sich nur spekulieren. Sie dreht eine Ehrenrunde – vielleicht um es allen noch einmal zu zeigen, vielleicht um ihre Corona-Politik zu verewigen, vielleicht um ihren Nachfolger an sich zu fesseln, der doch so sehr hoffte, das Thema einfach vergessen und hinter sich lassen zu können. Sicherlich spielt auch ihre viel beschriebene ganz persönliche Angst vor dem Virus eine Rolle und eine gewisse späte Hybris, dass Merkel teilweise wirklich glaubt, sie würde sich und ihre Schäfchen vor dem Tode retten.
Corona und Angela Merkel, das ist ohnehin eine Schicksalsgemeinschaft. So grau wie das Thema, das dieses Land seit anderthalb Jahren in Schach hält, so schal ist auch jene Frau, die das Land durch diese Zeit führt. Nie taugte die Rolle der uncharismatischen, aber ruhig scheinenden Frau an der Spitze besser als für den Moment der absoluten Angst, in dem ausgewachsene Bundesbürger aus ihren bürgerlichen Rollen fielen und sich gänzlich ihrem pseudo-fürsorglichen autoritären Stil beugten.
Genau wie die Ära Merkel schließlich, wird das Thema Corona regelmäßig voreilig für beendet erklärt, weil man von der Ästhetik auf die Macht schließt, obwohl beide nichts miteinander zu tun haben.
Überlebt Merkel politisch sich selbst?
Im Corona-Sommer suchten Politiker schon hilflos nach neuen Themen, veranstalteten einen Wahlkampf, der Corona einfach ausblendete, aber sie haben ihre Rechnung ohne die roten Kurven aus dem RKI gemacht. Diese roten Kurven sind aufgeladen mit den tiefsten Gefühlen von uns allen, von tiefer Angst, von Wut, Verzweiflung und Sehnsucht, und genau deshalb kommt an diesem leidigen Thema keiner vorbei, auch wenn es erst Laschet versuchte und jetzt die Ampel. Die wollte einfach die Augen verschließen und so tun, als befinde sich nicht das halbe Land weiterhin im Ausnahmezustand. Genau wie im letzten Corona-Sommer dachte man auch bis vor Kurzem, Corona wäre überstanden, und übersah, dass die Weichen eigentlich schon seit Juni auf einen neuen Lockdown gestellt sind.
Manch anderer Politiker versuchte lange, auf der Welle des Themas zu reiten, oft mit zunächst großem Erfolg, aber auf dem Scheitel angekommen, rissen die Fluten die Corona-Machertypen hinunter, ohne dass sie auch nur irgendetwas ausrichten konnten: So erging es Spahn und so ergeht es auch Söder. Die einzige, die die Kurve immer wieder kratzte, war die Bundeskanzlerin, die eigentlich schon seit zwei Jahren abgeschrieben ist – spätestens seit ihrem Oster-Lockdown-Desaster – und die dennoch die halbe Politikerschaft überleben wird. Totgeglaubte leben eben doch wieder und wieder am längsten.
Und jetzt holt sie zum finalen Schlag aus. Es wäre die Krönung und das logische Ende ihrer Kanzlerschaft: die totale Aufspaltung der Gesellschaft in Gut und Böse – in geimpft und ungeimpft. Sie würde ein unregierbares Land an eine Regierung übergeben, die nur noch zwei Möglichkeiten hätte: die stille Fortführung ihrer Politik oder der radikale Bruch; die Ära Merkel auf einen Schlag zu beenden oder sie über ihre Person hinaus fortzuführen.