Es war in einer Novembernacht zu später Stunde, Ende der 2000er. Eine schwarze Mercedes-Limousine fuhr am Konrad-Adenauer-Haus in Berlin-Tiergarten vorbei. Plötzlich sagte einer der Insassen mit Blick auf die seitliche Stirnfront des Gebäudes: „Eigentlich müsste dort oben doch ein Konterfei der Kanzlerin Merkel prangen, dazu die Aufschrift: Das ist Deutschlands Mutti.“ Ein im Fond sitzender Bundesminister der CSU rief aus: „Das ist ja spitze! Angie, unser aller Mutti. Das trifft es auf den Punkt.“
Er beließ es nicht dabei, denn bereits wenige Tage später hörte man das Wort „Mutti“ in Bezug auf die Kanzlerin aus vielerlei Munde. Eine Folge davon war die empörte Reaktion Ursula von der Leyens, die zu Beginn der Sitzung eines Spitzengremiums der CDU/CSU am darauffolgenden Montagvormittag erklärte: „Diese Titulierung der Kanzlerin ist eine Unverschämtheit, vor der man sie schützen muss“, ohne dabei den Urheber am Tisch anzuschauen. Die Kanzlerin quittierte das Ganze mit einem kurzen verschmitzten Lächeln und fuhr geschäftsmäßig mit der Tagesordnung fort. Tief im Inneren muss sie gewusst haben, dass für sie, die ja nicht gerade für ihre besondere emotionale Wärme bekannt ist, der neue Spitzname nur von Nutzen sein kann.
Dann folgte der abrupte und nicht zu Ende gedachte Ausstieg aus der Kernenergie. Auch hier wusste sie sich mit einer Mehrheit der Deutschen in Übereinstimmung. Also wieder gute Mutti. Dass sie ihre Partei zunehmend auf ihre Linie brachte, kritische Stimmen verbannte und letztlich zu einem Abnick-Verein degradierte, nahm das Wahlvolk in Gänze kaum zur Kenntnis. Der erste größere Fehler unterlief ihr bei der Öffnung der Grenzen für den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten. Zum ersten Mal kamen den Deutschen ernsthafte Zweifel an ihren Fähigkeiten. Die AfD legte beängstigend zu und die CDU sank um die Jahreswende 2019/20 auf deutlich unter 30 %. Schon nach dem miserablen Wahlergebnis bei der Hessen-Wahl 2018 zog Merkel die Notbremse. Sie legte den Vorsitz ihrer Partei nieder und kündigte zugleich das Ende ihrer Kanzlerschaft nach dieser Legislaturperiode an. Die Götterdämmerung schien begonnen zu haben.
Erschwerend kommt hinzu, dass weder die Kanzlerin noch irgendeiner ihrer Minister auch nur den Schein von Selbstkritik aufkommen lässt. Mehr noch, Merkel erklärte in als Interview getarnten Monologen, alles in allem sei es doch gut gelaufen. Wie verzweifelt sie selbst ihre Lage sehen muss, zeigte ihre Videobotschaft vom Wochenende. Diesmal entdeckte sie ihre mütterlichen Gefühle für die Demokratiebewegung in Weißrussland und drückte ihre Solidarität mit den Demonstranten aus. Wochenlang hat sie zu den schlimmen Zuständen im Reiche der Putins und Lukaschenkos geschwiegen. Als die weißrussische Oppositionsführerin Tichanowskaja um einen Termin während ihres Europabesuches im Kanzleramt bat, wurde sie rasch an Bundestagspräsident Schäuble verwiesen. „Mutti“ war der Besuch einfach zu heiß – mit Blick auf Putin und die Gesamtlage.
Es gehört nicht viel dazu, zu prophezeien, dass schon bei den nächsten Landtagswahlen im März in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt im Juni 2021 vom „Mutti“-Mythos nicht mehr viel zu merken sein wird.
Für die überstürzte Energiewende, die Rekordverschuldung Europas zu Lasten Deutschlands und die Folgen der Flüchtlingspolitik, wird die Rechnung dem Wahlvolk später präsentiert werden.