Tichys Einblick
Der Anruf bei Lukaschenko

Merkels Abschiedsrunde: Zwei Bilder, eine Botschaft

Das dramatische Geschehen an der polnisch-weißrussischen Grenze ist vorerst zu einem Halt gekommen. Doch die zurückliegenden Tage erzeugten Bilder im Bewusstsein der Öffentlichkeit: Bilder von siegesbewussten Kindern und kampfbereiten Jungen und Männern. Und das Bild einer Kanzlerin, die bereit ist, um ihr Vermächtnis zu kämpfen.

picture alliance / Lafargue Raphael/ABACA

Zwei Bilder blieben von diesem 16. November in Erinnerung. Zum ersten: Ein kleines, vielleicht zehnjähriges Mädchen wird von seinem Vater an der Hand geführt und macht ein Victory-Zeichen – zwei gehobene Finger – in die filmende Kamera. Das Zeichen, das sie uns gibt, ist wohl nicht der Gruß der Muslimbrüder. Aber selbst ausgedacht hat sie sich diese Geste wohl kaum. Es waren die Älteren, die ihr beibrachten, was Sieg und Niederlage in dieser Situation bedeuten.

Doch wer weiß, vielleicht kann auch ein Kind eine treibende Kraft hinter dem letztlich widerrechtlichen Geschehen an der polnischen Grenze sein. Kinder können eine große Willenskraft entfalten. Für ein kleines Mädchen ist es weitaus attraktiver, in einen deutschen Kindergarten zu gehen, als dasselbe im Nordirak zu tun. Es ist in gewisser Weise attraktiv für Kinder, komplexeres Spielzeug zur Verfügung zu haben statt einfachstes, selbstgebautes. Und es ist erstrebenswert für junge Frauen aus islamisch geprägten Ländern, später vielleicht einmal studieren oder arbeiten zu können. Und doch sind all das – wenn man sie unterstellt – letztlich opportunistische Entscheidungen für einen materiellen Gewinn, nicht eine Entscheidung für den anderen Ideenraum, den Europa gegenüber dem Nahen Osten nun einmal darstellt.

Warum also gelingt es uns nicht, auch Kinder und Frauen als dieselbe potenzielle Gefahr zu erkennen, als die wir die zweifellos omnipräsenten »jungen Männer« aus Nahost oft sehen? Ein junger Araber oder Kurde, der nach Europa oder Deutschland gelangt, wird sich ohnedies beizeiten eine Frau aus seinem Heimatland nachholen und eine Familie gründen. Zum anderen sind bereits auch kleine Jungs häufig nicht weniger gewaltbereit als ihre älteren Brüder, wie die Bilder von der polnischen Grenze zeigen. Warum können also Kinder aus einem dominant patriarchalisch geprägten Kulturkreis – bei massenhafter Zuwanderung – keine Bedrohung für unsere Kultur und den sozialen Zusammenhalt in diesem Land darstellen? Man möchte es nicht ganz verstehen.

In der Tat verfestigt sich inzwischen ein anderes Bild von den Migranten, das wir auch schon vom griechischen Evros kennen: das des Steine schleudernden Aggressors gegen eine europäische Grenze. Es reicht schon, dass die weißrussischen Soldaten den Migranten freie Hand lassen, wie sie mit ihrer Situation umgehen. Die via Erbil und Damaskus zumeist via Minsk Zugereisten scheinen ohne Umschweife bereit, Gewalt für die Erreichung ihrer Ziele anzuwenden.

Die Bürger werden verutzt – Merkel kämpft um ihr Erbe

Nun zum zweiten Bild: Eine Kanzlerin schlägt alle guten und bösen Ratschläge in den Wind, informiert keine der betroffenen Staatskanzleien, keines der Außenministerien der unter der Situation leidenden Staaten, sondern greift eigenmächtig zum Handy, um einen fragwürdigen Potentaten und Erpresser anzurufen.

Und nun die Frage: Ist es nicht zweimal dasselbe Bild? Werden wir, unsere vorsintflutliche Wahrnehmung, nicht beide Male hopsgenommen? Verutzt? An der Nase herum und hinter die Fichte geführt? In dem zweiten Bild – das nur in unserer Vorstellung bildhafte Qualität annimmt – versucht eine Kanzlerin der letzten Tage, sich ein letztes Denkmal zu setzen. Sie weiß leider ganz genau: Es geht noch einmal um alles, um ihr Erbe, ihr Vermächtnis. Die Frage ist: Geht Merkel als große Bewältigerin von Flüchtlingskrisen in die Geschichte ein oder als eine am Ende auch nach außen und augenfällig Gescheiterte?

»Im Herbst 2021 setzte Angela Merkel die Aufnahme von 20.000 Flüchtlingen von der weißrussisch-polnischen Grenze durch Deutschland und seine europäischen Partner durch.« Wird man diesen Satz einmal in Geschichtsbüchern lesen können oder nicht? Darum geht es. Oder wird er anders lauten? Etwa so: »In der EU-Außengrenzenkrise vom Herbst 2021, die Merkel durch ihre früheren Versuche der Krisenbewältigung wesentlich mit verursacht hatte, zeigte sich einmal mehr die hässliche Seite der von ihr durchgesetzten Politik der offenen Grenzen. Ein zweifelhafter Potentat am Rande der EU lockte Tausende irreguläre Migranten in sein Land, um den Rest des Kontinents damit zu erpressen.«

Und natürlich konnte Lukaschenko das tun. Genauso, wie es seit Jahren schon Recep Tayyip Erdogan tut, um der EU auf diesem Weg Milliarden abzupressen und ihr gleichzeitig noch das Ergebnis der eigenen gescheiterten Grenz- und Innenpolitik vor die Tür zu setzen, wie es jeden Tag wieder am Evros und in der Ägäis passiert. Doch die EU ist natürlich auch selbst schuld, wie nun der griechische Premierminister in einem Londoner Fernsehinterview klarmachte (dazu andernorts mehr).

Bringt Olaf Scholz einen Fortschritt in diesen Fragen?

Das war also die Alternative der Angela Merkel. Was tat sie, um ihre Variante zu wählen und durchzusetzen? Das, was sie stets getan hat, wenn sie glaubte, dass schnelles Handeln ihr nützen könnte: Sie griff zum Telefon, ohne die engen Partner ihres Landes zu Rate gezogen zu haben. Es waren – reiner Zufall – genau diejenigen Länder, die schon einmal von einer deutsch-russischen Vereinbarung betroffen waren.

Es interessierte Merkel auch nicht, dass die Krise auch die heutigen vitalen Interessen Polens, Litauens und Lettlands berührte. Sie hatte sich entschieden: Die Migranten von der Grenze sollten nicht dort bleiben, wo sie selbst aus eigenem freien Willen hingegangen waren. Man musste ihnen den Weg freiräumen. Schon heute behauptet das russische Fernsehen, Merkel habe Lukaschenko versprochen, die Migranten nach Deutschland aufzunehmen. Das ist nicht ausgeschlossen. Und noch weniger ausgeschlossen ist, dass Angela Merkel nicht mit den Grenzbarrieren sympathisiert, die die Polen, Litauer und Letten, vielleicht bald auch die Finnen errichten wollen.

Oder hat sie sich mit ihrem designierten Nachfolger auf die folgende wolkig-moralisierende Formulierung geeinigt? Gefragt, ob er einen Mauerbau an der EU-Außengrenze befürworte, wählte Olaf Scholz die folgenden gemessenen Worte: »Ich finde, dass das, was dort gemacht wird, mit Sicherheit dazu beitragen wird, dass es nicht so einfach möglich ist, dieses schändliche Spiel dort einfach weiterzutreiben.«

Man könnte sich jetzt über den Fortschritt wundern, den ein sozialdemokratischer Noch-nicht-Kanzler gegenüber einer christdemokratischen Noch-immer-Kanzlerin bedeutet. Aber auch dieser ›Fortschritt‹ ist noch nicht in trockenen Tüchern. Vorerst hat sich so die Verkleidung der deutschen Migrationspolitik vielleicht einen Zentimeter in die richtige Richtung bewegt.

Blankes Entsetzen in Warschau, Vilnius und Riga

Das gilt leider nicht für die letzten Schritte der Kanzlerin. Am Tag nach Merkels Lukaschenko-Telefonat herrschte in den Hauptstädten der EU-Grenzstaaten das blanke Entsetzen. Über ihre Köpfe hinweg hatte Merkel »auf Bitten eines Gangsters mit einem anderen Gangster« gesprochen, und zwar über die ureigenen Angelegenheiten dieser Länder, »über uns«, so ein polnischer Diplomat gegenüber Bild. Die Informationspolitik des Kanzleramtes gegenüber den EU-Partnern ist das eigentliche Skandalon an dieser Stelle: »Ausgewählte Institutionen« der drei Länder seien kurz vor dem Gespräch informiert worden, doch nicht die drei Außenminister, die zur gleichen Zeit mit Heiko Maas in Brüssel tagten. Auch der blieb anscheinend stumm wie ein Fisch – vielleicht wusste er selbst nichts.

Die drei Premierminister wurden erst in Kenntnis gesetzt, als das Gespräch schon im Gange war. Laut Bild erwogen die Außenminister Lettlands und Polens, das EU-Außenministertreffen im Eklat zu verlassen. Nur die Beamten des Auswärtigen Amtes informierten das polnische Außenministerium. Der Rumpf funktioniert hier anscheinend besser als der vermeintliche Kopf des Ganzen. Und hinter all dem verbirgt sich offenbar eine »deutsch-französische Initiative«, wie man auch an dem Telefonat Macrons mit Putin ablesen konnte, wobei auch im Fall Macrons nicht sicher ist, dass er mehr ist als eine Marionette der Kanzlerin.

Merkels Schuld

Und dabei hatten zahlreiche Länder versucht, die Kanzlerin von dem fatalen Anruf bei Lukaschenko abzuhalten. »Noch am Freitag und Samstag haben wir es über das Kanzleramt und einflussreiche Politiker in der CDU versucht. Doch Merkel hat nicht reagiert. Ich weiß nicht, was sie denkt, wer sie ist, aber sowas geht einfach nicht.« So zitiert Bild einen Diplomaten. »Schröderesk« sei dieser Alleingang, meint ein anderer.

Gibt es da am Ende eine verborgene Parallele zwischen den so verschiedenen Amtsträgern? Ja, vielleicht ist es das Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Gehen, ganz gleich, was die Partner wollen. Merkel hat diesen Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Ansatz insofern perfektioniert, indem sie auch die Interessen des eigenen Landes inzwischen souverän zu ignorieren weiß.

Was bezweckte Merkel nun mit ihrem 50-minütigen Lukaschenko-Anruf? Bis auf eine dürre Pressemitteilung des Kanzleramts weiß man darüber nichts. Es sei um »die schwierige Situation an der Grenze zwischen Belarus und der Europäischen Union« gegangen und natürlich »insbesondere über die Notwendigkeit humanitärer Hilfe für die dort befindlichen Flüchtlinge und Migranten«.

Das zweite Thema erinnert unzweifelhaft an Merkels Putin-Telefonat, in dem die beiden Politiker darin übereinstimmten, man müsse die aktuelle Migrationskrise »in Übereinstimmung mit internationalen humanitären Standards« beenden. Im Klartext: Deutschland lässt sich einmal wieder erpressen, man erpresst sich im Grunde genommen selbst. Weil »Humanität« hierzulande, zumal in der Migrationspolitik, über allem steht, ist eine an den eigenen Interessen ausgerichtete Politik in diesen Fragen ausgeschlossen. Der Druck und das Andrängen der illegalen Zuwanderung werden auch in den kommenden Jahren immer stärker sein als der Zug der qualifizierten und kompetenten Einwanderung nach Deutschland, jedenfalls solange man nicht eindeutige Regeln beschließt und durchsetzt. Andernfalls werden die unqualifizierten Zuwanderer auch weiterhin die qualifizierten Einwanderer abschrecken. Auch dafür trägt Angela Merkel Verantwortung. Auch daran trägt die abtretende Kanzlerin Schuld.

Die estnische Außenministerin hat inzwischen davor gewarnt, auf die Forderungen Lukaschenkos – nach Anerkennung als rechtmäßig gewählter Präsident und Aufhebung aller Sanktionen – einzugehen. Inzwischen hat die weißrussische Regierung ein größeres Migrantenheim in der Nähe der Grenze errichtet, das nach eigenem Dafürhalten die humanitäre Krise beenden soll. Zugleich wird von weißrussischen Hacker-Angriffen auf das Büro des polnischen Premiers berichtet. Außerdem soll eine Erdölleitung nach Polen aufgrund »unvorhergesehener Wartungsarbeiten« gesperrt worden sein. All das zeigt, dass die Krise auch mit Merkels ungeschicktem Anruf noch nicht zu Ende ist.

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