Die Kanzlerin hat einen Trick. Mit diesem Trick gewinnt sie, früher oder später, jede öffentliche Debatte. Seit Jahren schon. Mit diesem Trick verkaufte sie uns Energiewende und Griechenlandrettung. Mit diesem Trick bekämpft sie Freund (Seehofer) wie Feind (Pegida).
Zunächst klingt Merkels Trick ganz einfach: Reduziere jedes Problem auf eine Aussage über Gefühle. Es ist oft anstrengend, über die Sache zu reden. In der Politik ist „die Sache“ oft kompliziert. Mitunter begegnen „wir alle“ einer Sache mit Ratlosigkeit, etwa wenn die Sache „Neuland“ ist. Es ist viel kommoder, darüber zu berichten, wie ein Problem einen so ganz persönlich „bewegt“.
Ein Beispiel! Nach Fukushima stellte die Kanzlerin sich vors Volk und tat kund: „Was uns angesichts all dieser Berichte und Bilder, die wir seit letzten Freitag sehen und zu verstehen versuchen, erfüllt, das sind Entsetzen, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Trauer.“
Angela Merkel fand sich damals, wieder einmal, in einer Krise wieder. Die Demoskopen lieferten ihr, wie immer, die neuesten Fieberkurven des Patienten Wahlvolk. „Etwas“ musste geschehen. Die Kanzlerin beschloss: Einseitige Atomenergie-Abrüstung Deutschlands.
Der Atomausstieg war in der Sache keinesfalls „alternativlos“. Experten und der blanke Verstand lieferten Gründe dagegen. Doch allen diesen feindseligen Sachargumenten konnte Merkel mit ihrem einen, merkwürdigen Trick begegnen.
Wenn Argumente stören, wechselt Merkel die sprachliche Ebene. Sie redet nicht über die Sache. Sie redet über ihre Gefühle. Sie redet über die Gefühle des Volkes. „Wir“ sind „erschüttert“, „viele“ sind „besorgt“ – „und das kann ich gut verstehen“.
In der Logik sagt man: Ex falso quodlibet – aus Widersprüchlichem lässt sich Beliebiges schliessen. Für Merkels Rhetorik gilt: Aus der verbalisierten Emotion (dem „Emotum“) lässt sich beliebige Amtshandlung herleiten. Das ist die „Reductio ad Emotum“.
Steffen Seibert oder Claus Kleber mögen hier protestieren, Tränen mögen ihnen in die Augen schiessen. Das sei doch undankbar und zynisch gegenüber der hart arbeitenden Kanzlerin.
Stellen wir die These also auf die Probe. Ich lege Ihnen zwei im Ergebnis gegensätzliche Aussagen vor:
1. Fukushima hat uns erschüttert. Gerade im Angesicht dieses Schreckens ist es notwendig, kühlen Kopf zu bewahren. In Deutschland drohen keine Springfluten und unsere Kernkraftwerke sind ungleich besser gesichert. Atomkraft bleibt eine sichere und saubere Energieform.
2. Fukushima hat uns erschüttert. Im Angesicht dieses Schreckens ist es notwendig, auch in Deutschland die Konsequenzen zu ziehen. Wir wollen nicht, dass ein solches Unglück hier passiert. Deshalb steigen wir aus der Atomkraft aus!
Selbst der grünste Merkel-Anhänger wird zugeben, dass beide Aussagen „irgendwie richtig“ klingen. Merkel hätte jede von ihnen sagen können. Dabei widersprechen sie sich! Ex emotum quodlibet.
Nun ist Merkel wieder an den Bosporus, zu ihrem Partner gereist und hat aus Anlass ihrer Reise ein Interview gegeben. Die FAZ betitelt den Bericht über dieses Interview mit einem griffigen, typischen Merkel-Talking-Point: „Mich irritiert die Freude am Scheitern“.
Alle Argumente und Sachfragen werden überlagert vom Reden über’s Gefühl: Merkels Irritation ist die Nachricht.
Diese kurze Zeile hat es in sich. Merkel spricht über zwei innere Zustände zugleich. Zum einen die eigene „Irritation“, zum anderen die „Freude“ des, ja, Gegners. Es ist Seehofer. Merkel blickt nicht nur in sich selbst hinein, sie schaut auch tief in die Seele jenes bayerischen Modelleisenbahners. Sie schreibt ihm eine Intention zu, eine böse Absicht. Er soll Freude empfinden an Merkels möglichen Scheitern. Oder am Scheitern Deutschlands insgesamt? Welch Abgründe!
Was interessiert es, dass Merkels Pläne eben keine sind, dass sie durch die Weltgeschichte mehr stolpert als schreitet. Was der Leser – auch dank der FAZ – mitnimmt, sind irrelevante Behauptungen über Seelenzustände Einzelner. Politik der Empfindsamkeit.
Mit ihrer Seelenschau ordnet Merkel, und das ist bemerkenswert, ihren Freund Seehofer – zumindest in der zugeschriebenen Motivation – in eine Mannschaft mit Lutz Bachmann und Pegida. Wir erinnern uns an jenen Sprachfetzen, den Merkel an zwei Silvesteransprachen in Folge und dazwischen immer mal wieder einsetzte. Merkel rammt ihren Hirtenstab in die sächsische Krume, hebt ihre Stimme und ruft den von Montagsspaziergängern umworbenen Dresdnern zu: „Folgt ihnen nicht, denn sie haben Hass in ihren Herzen!“
Bei den Wählern sollten die Alarmglocken anspringen, wenn Politiker von Gefühlen reden, an Gefühle appellieren, ihre Gefühle uns als Köder vors Maul hängen – und dann konkrete Handlungen als Konsequenz dieser Gefühle ankündigen. Und wenn Merkel dazu noch ihrem Koalitionspartner böse Absicht unterstellt, dann ist das schlicht ein Tiefschlag.
Es überrascht wenig, dass Merkel in diesen angespannten Zeiten auf ihren bewährtesten Trick zurückgreift.
Es enttäuscht nur, dass Journalisten, die sich ja so gern „frei“ und „kritisch“ nennen, ihr diesen Trick noch immer durchgehen lassen, ja, ihn noch befördern. (Und lächerlich wird es, wenn Journalisten ganz bewusst diesen Schmarrn hervorlocken wollen. Nur Markus Lanz darf Fragen an Politiker einleiten mit „was macht das mit Ihnen, wenn…“ – alle anderen blamieren sich und ihren Berufsstand mit solcher Gefühlskitzelei.)
Solange sie damit durchkommt, wird Merkel jede Debatte auf irgend ein triviales Pseudo-Gefühl reduzieren.
Es mag ein frommer Wunsch bleiben, doch ich hoffe auf den Tag, an dem ein Journalist in einem Merkel-Interview (das dann wohl sein letztes sein wird) sagt: „Sie weichen jetzt auf Ihr Gefühl aus, das hat aber nichts mit dem Problem zu tun. Zurück zur Sache, Frau Bundeskanzlerin!“