Tichys Einblick
Merkels Autohagiographie:

Auch wenn niemand Merkel mehr sehen will, ist sie immer noch da

Auch wenn Angela Merkels Macht schwindet, ist ihre Ära noch längst nicht vorbei. Friedrich Merz hätte Merkels Erbe aufarbeiten sollen, doch stattdessen wird er zu ihrem willfährigen Nachlassverwalter. Immer deutlicher wird, dass wer Merz wählt, auch Robert Habeck wählt – und damit die Fortsetzung der Merkel-Ära in all ihrer Dysfunktionalität sichert.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Die letzten Wochen in Deutschland wirken im Zusammenschnitt wie eine Dauersatiresendung. Erst findet der Ampel-Schwank in einer bis ins Absurde getriebenen Verwechslungskomödie sein Ende. Olaf Scholz verwechselt Christian Lindner mit Robert Habeck, Christian Lindner sich mit der verfolgten Unschuld und Robert Habeck sich selbst mit einem Küchentisch.

Friedrich Merz, ein eher quietistisch veranlagter Typ, entdeckt den Katholizismus auf völlig neue Art, denn er will den Tag, an dem Olaf Scholz die Vertrauensfrage stellt, zum höchsten Feiertag innerhalb der Brandmauer erklären. Doch damit längst nicht genug, denn in größter Frömmigkeit entdeckt er das Wunder der unbefleckten Empfängnis für sich politisch ganz privat als Anathema gegen die „Zufallsmehrheiten“. Jeder, erklärt der Heilige Friedrich, der seinen Enzykliken im Bundestag zustimmt, muss brandmauerapprobiert sein.

Neuwahlen am 23. Februar 2025
Merz als Nachlassverwalter Merkels
Nachdem also nun Sankt Friedrich einen Bundestag im Bundestag gegründet hat, den Brandmauerbundestag, quasi als Stiftung der Heiligen der Letzten Tage, drängte noch einmal eine Selige aus dem Ruhestand in die Öffentlichkeit, die auf den engelsgleichen Namen Angela hört, um ihren Nachfolgern das Dritte Testament zu bringen, das Testament der Göttin TINA (there is no alternative), der allein sie diente.

Auf dem Schwank folgt die Groteske. Sankt Angelas Drittes Testament umfasst 736 Seiten. Natürlich – wie bei allen heiligen Schriften liegt das Wesentliche, in dem, was verborgen ist, beispielsweise in der Zahlenmystik, denn die Quersumme aus 7+3+6 ergibt 16 und weißt damit untrüglich auf Merkels Kanzlerschaft hin. Denn 16 Jahre diente sie sich selbst als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.

Und nun? Sollen ihre Taten verherrlicht und verewigt werden! Als Monument und Fundament des Glaubens für alle folgenden Geschlechter derer, die vor kurzem dazu gekommen sind, denn in denen, die schon länger hier leben, wollte sie ohnehin nur die Moabiter sehen. Am schlimmsten für sie waren die Ostdeutschen, die sich nicht zur grünen Orthodoxie bekehren lassen wollten, schon 1991 als Bundesfrauenministerin brach sie über die Ostdeutschen den Stab: „Mir dürfen Sie ruhig glauben, dass es mir vor allem darum geht, aus dieser manchmal verkommenen und verkorksten Gesellschaft im Osten irgendetwas zu machen.“ Die Ostdeutschen ließen sich nicht bekehren, sie ließen nichts aus sich machen, sie blieben unbekehrbar, „verstockt“, wie früher der Ausdruck lautete, für den heute der Begriff „rechts“ steht.

Merz vergibt seine historische Chance
Merkel ist wieder da, dabei war sie nie weg
Am 26.11. beglückte die Heilige der letzten Tage dieser „Eliten“ das geschundene und zerfallende Deutschland mit dem Dritten Teil der Bibel, mit dem Text, mit dem sie den Allerneuesten Bund mit ihrem neuen Volk zu schließen gedachte. Drei Jahre hatte sie mit ihrer treuen Adlatin, der Gesegneten, an der Offenbarung gearbeitet. Wer schreibt, der bleibt, heißt es, und auch: hättest Du geschwiegen, wärest Du weise geblieben. Merkel hätte besser geschwiegen und darauf gesetzt, dass ihre Fehlentscheidungen und auch Schandtaten vor dem Desaster, das die Ampel anrichtet, verblassen. Doch sie kann dem Drang nicht widerstehen, ihr Bild den Historikern alternativlos vorzugeben. Das klappt jedoch nie. Spätestens seit der Entdeckung der historisch-kritischen Methode nicht mehr. Politikerautobiographien besitzen für wirkliche Historiker an sich nur einen geringen Quellenwert, Merkels noch weniger, weil sie nicht anders kann, als Fehler – außer im marginalen Bereich – zu verleugnen und auch als Regierungschefin Klassenbeste sein will.

Merkels Autohagiographie als die Geschichte des auserwählten Volkes wurde wirklich von ihrer Bürovorsteherin Beate Baumann und ihr geschrieben, wie sich unschwer an der unlesbaren Trivialität des Stils erkennen lässt. Im SPIEGEL-Interview äußerst sie doch tatsächlich am Vormittage ihrer Apotheose: „Aber wir haben dieses Buch nicht allein für Historiker geschrieben.“ Also auch für Historiker, wohl um ihnen vorzugeben, wie sie über die Taten der großen Kanzler zu denken und zu schreiben haben. Aber es kommt noch entrückter: „Der Anspruch ist, um historische Fakten herum Politik so zu erzählen, dass es auch ein normaler Mensch versteht.“ Die Aussage hat mehr in sich, als Merkel ahnen dürfte. Erstens sind Historiker keine „normalen Menschen“, meint sie, zweitens verstehen ihrer Meinung nach „normale Menschen“ nur Erläuterungen allenfalls nur leicht über der kognitiven Grenze des ersten Signalsystems hinaus, weshalb stilistisch der Text Nahe des ersten Signalsystems angesiedelt sein muss. Und drittens, siehe Quellenwert, geht es im Text nicht um „historische Fakten“, sondern darum: um sie „herum“ zu erzählen, also, ihnen auszuweichen, sie zu meiden.

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Merkels Autohagiographie dokumentiert dort die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wo sie die Sicht Merkels auf ihr Vergangenheit, die von der Wirklichkeit erheblich abweicht, authentisch darlegt. Vor allem verwechselt sich Merkel mit der ihr eigenen Hybris mit Deutschland – denn nicht Deutschland diente sie, sondern einzig und allein sich selbst, auch wenn der vierte und fünfte Teil ihrer Rechtfertigungsschrift den Untertitel trägt: Deutschland dienen I und Deutschland dienen II.

Kein Kanzler vor ihr und kein Kanzler nach ihr hat aus dem Grund des eigenen Machterhalts Deutschland so sehr geschadet. Überhaupt ist sie die Kanzlerin des Niederganges und der Spaltung, was sie konkret in der Politik der Euro-Rettung, der Energiewende, der Migration und der Pandemie-Politik verwirklichte, die in meiner Merkel-Biographie zusammengefasst werden als „Die vier Sargnägel für Deutschland“.

Sie war so sehr Deutschland verpflichtet, dass zeitweise der Begriff Deutschland ihr Pein zu bereiten schien, wenn sie nicht mehr von den Deutschen sprach, sondern nur von den schon länger hier Lebenden und die Migranten zu den kürzlich Hinzugekommenen verklärte. Brutaler wurde noch kein Volk semantisch enteignet.

Angesprochen auf ihre Zerstörung der öffentlichen Sicherheit durch die Fehlentscheidungen des Herbstes 2015, die Resultat von Merkels Flucht vor der Verantwortung waren, behauptet sie: „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben. Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.“ Wie ich in der Biographie nachweise, entspricht ihre Aussage nicht der Wahrheit. Was Merkel dabei entgeht, ist, dass sie die Menschenwürde preisgegeben hat, die Menschenwürde der „schon länger hier Lebenden“, die Menschenwürde der ermordeten Söhne und Töchter, der vergewaltigten Mädchen und Frauen, die Menschenwürde der Opfer von Solingen und vom Breitscheidplatz. Sie alle sind „Blutzeugen“ (Märtyrer) von Merkels Flucht vor der Verantwortung.

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Merkels Lüge oder Merkels sträfliche Unkenntnis, dass man Grenzen nicht schließen kann, stimmte zu keiner Zeit. Aber viele haben es nachgeschwätzt, weil Merkels Versagen in eine große Heldentat umgelogen werden musste. Dieser Propagandafeldzug bekam dann das platte Etikett „Willkommenskultur“ aufgepappt.

Auf die Frage des SPIEGELS: „Sie schreiben selbst über die massenhaften Sexualdelikte in der Kölner Silvesternacht 2015 und über den islamistischen Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin 2016. Allerdings drücken Sie sich vor Schlussfolgerungen.“ Antwortet Merkel: „Das finde ich nicht. In dem Kapitel ist auch von Lösungsansätzen die Rede. Aber so wie der Kampf gegen Rechtsextremismus nicht den schrecklichen Terror des NSU verhindert hat, so haben alle migrationspolitischen Bemühungen nicht dazu geführt, dass es keine islamistischen Anschläge mehr gibt.“

Auf zwei Seiten, Seite 537 und 538 schreibt Merkel kühl und distanziert über den Terroranschlag vom Breitscheidplatz. Der Kernsatz ihrer Betrachtung stammt aus der Rede, die sie am nächsten Tag halten musste: „Ich weiß, dass es für uns alle besonders schwer zu ertragen wäre, wenn sich bestätigen würde, dass ein Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat. Dies wäre besonders widerwärtig gegenüber den vielen, vielen Deutschen, die tagtäglich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, und gegenüber den vielen Menschen, die unseren Schutz tatsächlich brauchen und die sich um Integration in unser Land bemühen.“

Nicht den Opfern, nicht den Ermordeten, nicht den Schwertverletzten, nicht deren Angehörigen galten Merkels Mitgefühl und Sorge, sondern Merkels Trupp der Migrationsassistenten. Nicht für die Väter und Mütter, den Geschwistern, den Kindern der Ermordeten und Schwerverletzten war der Kontrollverlust des Staates, der in Merkels Politik gründete, „schwer zu ertragen“, sondern für die „vielen Deutschen, die tagtäglich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind.“ Das muss man nicht kommentieren.

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Und sie selbst ist nach einem Satz schnell „beim Kampf gegen Rechtsextremismus“ und beim „schrecklichen Terror des NSU“. Für Merkel gab es und gibt es anscheinend zweierlei Opfer. Man konnte den Eindruck gewinnen und wird an ihn während ihrer Buchvorstellung ständig erinnert, dass die Opfer ihrer Migrationspolitik und der Turbomigrationspolitik der Ampel irgendwie als Gestehungskosten der Willkommenskultur gesehen werden, wie in der DDR die Opfer des Stalinismus als Gestehungskosten des Fortschritts verbucht worden sind.

Aber was soll man von jemanden halten, dessen schlimmste Erniedrigung in der DDR darin bestand, einmal des Vorlesungssaales verwiesen zu werden – übrigens ohne weitere Konsequenzen. Am 4.09. 1989 nahm sie auch nicht an der großen Demonstration in Berlin teil, sondern weilte erstmal bei Tante Emmy in Hamburg. Eine „Partei suchen“, ging sie erst, nachdem keine Gefahr mehr bestand, und zwar in die CDU, in der für ihre Karriere überhaupt keine Gefahr bestand. Merkel machte Karriere, weil sie jung, ostdeutsch und weiblich war.

Die vielen Podien, ob im Deutschen Theater oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die ihr aus privaten PR-Gründen gewährt worden sind, zeigten die wahre Merkel, eine Merkel ohne Macht. Die Aura der Macht fehlte, die ihr mildes Licht nun auf Leute wie Baerbock, Habeck und Scholz streut und sie mit ihrer Gewalt vor echten Diskussionen schützt. Das Fehlen der Aura der Macht, die Absenz der Macht offenbarte, was Angela Merkel ausmachte, nämlich die Macht, die sie liebte, deren Vergrößerung und Absicherung ihre ganze Sorge galt. Sie wirkt verlassen, von der Macht verlassen. Ohne die Macht bleibt nur die Banalität übrig. Ohne die Macht konnten selbst ihre großen Lobredner im SPIEGEL, in der Süddeutschen, in der FAZ, in den Öffentlich-Rechtlichen nicht ihre Servilität aufrechterhalten, weil man nur dem Mächtigen dient. Selbst sie lavieren nun, finden lauwarme Worte und Anklänge von Kritik in der Hoffnung, dass man ihre journalistischen Bücklinge vergisst.

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Aber man sollte sich nicht täuschen. Auch wenn Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist, wenn ihre Rest-Macht täglich mehr schwindet, so ist die Ära Merkel noch längst nicht beendet. Ihr Werk, nicht ihres allein, aber zu großen Teilen besteht darin, dieses Land an den Abgrund gesteuert zu haben. Sie wusste lediglich, wozu das Bremspedal da ist, das in der Welt von Habeck und Baerbock nur noch als rechte Erfindung gilt. So ist meine Merkel Biographie keine klassische Biographie, sondern sie analysiert, in welcher Lage wir uns befinden und wie wir in diese Lage gekommen sind. In 18 Jahren Vorsitz hat Merkel die CDU geformt, ihre Seele exorziert. Alle Funktionäre der heutigen CDU sind unter ihrem Vorsitz aufgestiegen.

Friedrich Merz hätte die Merkel-Zeit aufarbeiten müssen. Das hat er nicht getan. Nun wird er zum traurigen Friedrich, zu Merkels Nachlassverwalter. Merkel hat ihm zumindest schon die Richtung gewiesen: „Ich finde es nicht in Ordnung, dass Markus Söder und andere in CSU und CDU derart abfällig über die Grünen sprechen“.
Und hierin scheint Friedrich Merz, ihr zu folgen. Sein Problem besteht, um die Darstellung vom Anfang aufzugreifen, nicht darin, dass er nicht erkannt hat, dass Merkel weder katholisch, noch protestantisch ist, sondern dass er ihr nun, in der Neigung den Zeugen Trittins anzugehören, beflissen folgt. Von Tag zu Tag wird Friedrich Merz stärker zu den Garanten, dass Merkels Weg fortgesetzt wird, dass die Ära Merkel nicht endet. Dass ausgerechnet er zu Merkels Nachlassverwalter wird, beweist wieder einmal, dass die Geschichte die beste Ironikerin ist. Auch wenn Merkels Buch wohl letztlich gemessen an den überspannten Erwartungen und Vorschüssen zu floppen scheint, ihr eigentliches Werk, die Dysfunktionalisierung der Politik wird weitergeführt. Klar ist jetzt: wer Merz wählt, wählt Robert Habeck. Sie kann zufrieden sein, vielleicht auch damit, dass das Vergessen sie schneller einholt, als sie erwartet hat.


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