Ein vom Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzter Untersuchungsausschuss befasst sich seither mit dem reichlich chaotischen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, sowie mit der Evakuierung des deutschen Personals und afghanischer Ortskräfte. Die Bundeswehr hatte urplötzlich vom 16. bis zum 26. August 2021 mit Maschinen vom Typ A400M und A310 insgesamt 5.347 Personen aus mindestens 45 Nationen ausgeflogen.
Betrachtet wird im Untersuchungsausschuss der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter dem damaligen US-Präsident Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Das nach der Hauptstadt Katars benannte sog. Doha-Abkommen war von den USA und den Taliban unterzeichnet worden. Es regelte den Rückzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten aus Afghanistan. Im Gegenzug sollten die Taliban zusagen, dass Afghanistan kein Rückzugsort für terroristische Gruppen werde. Ziel war es, den seit 2001 andauernden Krieg zu beenden. Umstritten war „Doha“ allerdings deshalb, weil die gewählte afghanische Regierung nicht beteiligt war.
All das sollte in den vergangenen beinahe zweieinhalb Jahren parlamentarisch geklärt werden. Der Ausschuss ist mittlerweile bei der 97. Sitzung angekommen. Im Januar 2025 – noch kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl – soll es eine abschließende Debatte der Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses im Bundestag geben.
Am 28. November 2024 war der ehemalige Außenminister Heiko Maas (SPD) befragt worden. Er gab an, noch bei einem Besuch in Kabul Ende April 2021 „nicht den Eindruck eines zusammenbrechenden Regimes“ gehabt zu haben. Ebenfalls am 28. November hatte der damalige Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) die aus seiner Sicht gute Zusammenarbeit der Ressorts in der Afghanistanpolitik betont.
Merkels Auftritt
Am 5. Dezember nun stand die Befragung zweier zentraler Zeugen an: die Befragung des damaligen Kanzleramtsministers Helge Braun (CDU), der zugleich für den Bundesnachrichtendienst BND zuständig war; und die Befragung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die während der überstürzten Kabuler Evakuierungsmaßnahmen im Urlaub war. Helge Braun räumte am 5. Dezember ab 12 Uhr ein, dass es wohl besser gewesen wäre, sich auf das Szenario einer direkten Machtübernahme durch die Taliban vorzubereiten. Die Behörden hatten dafür sogar schon einen Namen: Unter dem Begriff „Emirat 2.0“ wurden unterschiedliche denkbare Szenarien durchgespielt. „Durchgespielt“!
Über 30 Minuten lang nahm sich Merkel erst einmal Zeit mit einer umfassenden Einführung. Zum Schluss kam Merkel zum Urteil: „Die internationale Gemeinschaft hatte ihre Ziele in Afghanistan zu hoch gesteckt.“ Merkel hält die Entscheidung, die USA nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 mit der ersten NATO-Mission zu unterstützen, nach wie vor für richtig. „Es gab die begründete Hoffnung, dass es nach dem Ende des Einsatzes keine terroristischen Angriffe mehr von Afghanistan aus geben würde.“
Bei allen anderen Zielen – von der Rechtsstaatlichkeit bis zu den Frauenrechten – sei die internationale Gemeinschaft dagegen gescheitert. Als Ursachen dafür nannte sie unter anderem mangelndes kulturelles Verständnis der westlichen Verbündeten, Vetternwirtschaft und Rauschgifthandel. Was die Entwicklung einer echten Demokratie, die Schaffung von Rechten für Frauen und Sicherheit für Journalisten, Künstler, Unternehmer betreffe, müsse sie, Merkel, feststellen: „Da sind wir gescheitert.“ Über das Doha-Abkommen sagte Merkel: „Dass mich das jetzt beglückt hätte, könnte ich nicht sagen.“
Merkel wollte jedenfalls keine Bilder wie in Saigon sehen, hatte der letzte Kommandeur der Bundeswehr in Afghanistan, Brigadegeneral Ansgar Meyer, bei seiner Vernehmung im vergangenen Jahr berichtet. Zur Erinnerung: Die chaotische Evakuierung von US-Truppen im Frühjahr 1975 aus Saigon markierte das Ende des Vietnamkriegs. Der Brigadegeneral weiter: „Und das haben wir, was den militärischen Teil angeht, auch geschafft.“ Wenige Wochen später habe er, Meyer, „Saigon“ dann aber doch im Fernsehen gesehen.
Selbstkritik äußert Merkel bei ihrer Aussage – wie schon bei ihren Memoiren – nur äußerst dosiert. Wenn sie etwa verschwurbelt sagt: „Wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein, von außen zu versuchen, den Weg eines Landes entscheidend beeinflussen zu wollen. Es geht viel weniger, als wir uns wünschen.“ Im Falle Thüringens schien das für sie allerdings nicht zu gelten…
Zu der wegen regierungsinterner Diskussionen zu lange herausgezögerten Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan sagte sie: „Es ist nicht gelungen, was intendiert war. Damit müssen wir leben.“ Merkels Aussagen offenbaren eine fatalistische, an Fehleranalyse und Selbstkritik desinteressierte Haltung, die sie bereits angesichts ihrer Grenzöffnung 2015 an den Tag legte: „Nun sind sie halt da.“ Der „Stern“ beschreibt Merkels Auftritt wohl richtig: „Von Selbstkritik keine Spur. Man hätte nur ihr Buch lesen müssen.“ Also: Außer Spesen auch in diesem Untersuchungsausschuss nichts gewesen. Vielleicht hätten sich die Ausschussmitglieder Merkels Buch „Freiheit“, die neue Merkel-Bibel, kaufen sollen, dann hätten sie sich die 97. Sitzung sparen können.