Tichys Einblick
Kritikresistenz im Endstadium

Merkel im ARD-Interview: „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“

Die Kanzlerin hat sich 15 Minuten Zeit genommen. 15 Minuten ohne jede Selbstkritik, dafür sind Privilegien für Geimpfte wohl doch wieder auf dem Tisch. Ein Auftritt, der sich nicht an erwachsene Menschen richtet.

Screenshot ARD: Farbe bekennen

Nach dem gestrigen „Impfgipfel“ im Kanzleramt tritt Merkel zum Interview im ARD-Format „Farbe bekennen“ an. ARD-Chefredakteur Rainald Becker und „Hauptstadtstudio“-Chefin Tina Hassel empfangen die Bundeskanzlerin zu einem ihrer seltenen Fernsehauftritte. Trotz dieses Aufgebots, das beim ÖRR wohl als die journalistische Kavallerie gelten muss, gleitet Merkel selbstsicher durch das Gespräch, für das die ARD nur 15 Minuten Zeit einräumt. Nachdem sie zuletzt dem Magazin des Staatskonzerns Deutschen Bahn ein Interview gab, ist jetzt der ÖRR dran – private Medien sind wohl zu lästig.

Diese 15 Minuten füllt die Kanzlerin vor allem mit langen Sätzen. Mehrmals versuchen die Journalisten, Merkels Redefluss zu unterbrechen. Sie wagen sich tatsächlich ein bisschen hervor, wirken oft kritisch, Becker fragt sogar, ob es ein Zufall sei, dass Merkels Versprechen eines Impfangebots den 21. September als Stichtag benennt – eine Woche vor der Bundestagswahl.

Dennoch scheint Merkel schnell das Gespräch zu kontrollieren. Deutlich wird: Diese Sendung soll eher eine Ansprache der großen Anführerin ans Volk als ein wirkliches Rede-und-Antwort-Stehen werden.

Heft 02-2021
Tichys Einblick 02-2021: 2021 - Endlich wieder leben
Sie habe beim gestrigen Gipfel selbst „viel gelernt“, sagt Merkel. Im Bezug auf die Menschen, die das Impfchaos leid sind, erklärt sie kühl: „Ich finde, wir haben ein Gerüst, an dem wir uns orientieren können und für manche dauert das vielleicht recht lange, aber ich glaube, das liegt auch in der Natur der Sache.“ Kritik und Frust des Wählers scheint die „Learning by Doing“-Kanzlerin eher zu irritieren und zu nerven. Zumal es dafür doch überhaupt keinen Anlass gibt.

Denn nicht nur verspricht Merkel, dass bis zum 21. September „jeder ein Impfangebot“ bekomme (ob man das bei anderen CDU-Versprechen wie „Kein Arbeitsplatz geht durch Corona verloren“ abheften kann?) – sie verteidigt auch erwartbarerweise das Vorgehen der Exekutive im Impfdebakel. Man sei bei den Zulassungen gründlich und hänge deswegen bei der Impfquote gegenüber anderen Ländern zurück. Rainald Becker, der eigentlich dort zur Frage ansetzen will, ob das ein Fehler war, fährt die Kanzlerin scharf über den Mund: „Nein, das war kein Fehler“. Stattdessen seien böse Drittstaaten wie die USA schuld, die eigene Produktionskapazitäten im nationalen Interesse verwenden.

Merkel ist überzeugt, der eingeschlagene Weg sei schon „ein richtiger“. Und „dass wir es europäisch gemeinsam bestellt haben“ sei sowieso „allemal richtig.“ Selbstkritik kommt ihr nicht in die Tüte. Stattdessen scheint es eine Frage der Perspektive zu sein: „Man kann sagen, es sind schon fast 10 Millionen Menschen, die wir werden impfen können, mit beiden Impfungen im ersten Quartal. Andere sagen: erst.“ Die Kanzlerin will zur Primetime im Fernsehen ernsthaft darüber streiten, ob das Glas halb voll oder halb leer ist – während die eigentliche Problematik ist, dass im ganzen Land Wassermangel besteht. Insgesamt meint Merkel zur Impfstoffbeschaffung: „Ich glaube, dass im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen ist.“ Alles super, andere Länder haben zehnmal soviel wie wir – aber gut, Hauptsache wir haben Spaß.

Auch zum Lockdown äußert sich Merkel. Was nächste Woche beim Gipfel mit den Ministerpräsidenten passiere, beantwortet sie nicht direkt. Stattdessen drückt sie aus, die auf unter 100 gesunkene bundesweite 7-Tage-Inzidenz sei ein Zeichen des Erfolgs ihrer Maßnahmen. Die Wirtschaft solle, zum Beispiel, auch wirklich die Maßnahmen befolgen, dann könne dieser gute Weg so weiter gehen. Die Bürger bittet Merkel, noch „eine Weile“ durchzuhalten. Die Realitätsferne, die diese Aussagen an den Tag legen, sind beunruhigend und bedrückend: Die Kanzlerin offenbart hier nicht zum ersten Mal das totale Unverständnis für die Situation von Wirtschaft und Bürgern in der Pandemie. Was ist „eine Weile“? Mit dieser vagen Zeitangabe wird kein Unternehmer seine Bank, kein Mensch seinen Vermieter vertrösten können, so wie Merkel jetzt die Öffentlichkeit vertrösten will.

"keine neuen Freiheiten"
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Doch dass es keine Freiheitsrückkehr gebe, bis alle geimpft seien, verneint die Kanzlerin zunächst: „Das ist nicht der Weg, den wir anstreben.“ Dennoch: Wie sie direkt danach feststellt, sollten Impf-Immunisierte nicht die ‚Privilegien‘ bekommen, die Merkel in dieser Sendung doch noch als Grundrechte und eigentlichen „Normalzustand“ anerkennt. Solange Geimpfte möglicherweise ansteckend bleiben, geht es nicht zum „Normalzustand“ zurück. Nein, aber Ja? Und in Bezug auf diese ans Impfen geketteten Grundrechte erklärt Merkel schon wenig später: Wer ein Impfangebot nicht annehme, könne vielleicht auch „bestimmte Dinge“ nicht machen. Was dieser Satz mit seinen schwerwiegenden möglichen Interpretationen denn jetzt konkret bedeute, haken Becker und Hassel nicht nach – leider hat die Kanzlerin ja nur 15 Minuten Zeit. So steht jetzt sinngemäß im Raum: Wer sich impfen lässt, bekommt seine Grundrechte nicht gleich zurück, wer sich nicht impfen lässt, sowieso nicht. Bemerkenswert.

Keine Fehler, nirgendwo: Merkel tritt im Interview mit einer selbstsicheren Zuversicht auf, die an Prognosen erinnert, die DDR werde die Schwelle zum neuen Jahrtausend in dem Wissen überschreiten, dass nur dem Sozialismus die Zukunft gehöre. Wenn es besser wird, ist es der Regierung zu verdanken, und wenn nicht, dann den Imperialisten im Ausland. Mit diesem Interview zur Primetime um Vertrauen zu werben, war wohl das Ziel: Aber wie soll eine Kanzlerin, zu der nichtmal die Realität durchdringt, noch zu all jenen durchdringen, denen diese Realität Kopfzerbrechen und Schlaflosigkeit bereitet?

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