Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland, hatte am 1. Mai 2022 in einem Interview mit der BZ verkündet, dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen hätte. Die Äußerung ist entlarvend, denn sie verdeutlicht, dass er wohl nicht davor zurückschrecken würde, Europa in den Krieg hineinzuziehen. Wer als Fakt setzt, was es zu verhindern gilt, ebnet der Eskalation den Weg – ob gewollt oder ungewollt.
Kurz zuvor, am 29. April hatten aus Sorge eben davor Intellektuelle und Künstler einen offenen Brief an den Bundeskanzler geschrieben, der auf den Seiten der Zeitschrift Emma veröffentlicht wurde und den unter anderem Martin Walser, Alice Schwarzer, Dieter Nuhr unterzeichnet haben. Sie lobten die besonnene Haltung von Olaf Scholz und baten ihn, „alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“.
In dem Brief in der Emma heißt es: „Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen … und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen“, heißt es weiter in dem Brief. „Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. … Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten‘ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.“
Die Römer, die einen tiefen Einblick in die Geschichte hatten, formulierten nicht umsonst: Si vis pacem para bellum („Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor“). Dass die heutigen Bellizisten, allen voran die Grünen, die im Übrigen noch vor dem 24. Februar alle, die warnend auf die Weisheit der Römer hinwiesen, verteufelt und als Reaktionäre und als Fast-„Nazis“ verleumdet haben, darf deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil man von beiden Seiten vom Pferd fallen kann, wenn man nicht reiten kann. Und die Grünen können nicht reiten.
Die harsche Kritik und grobe Verfälschung der Aussagen des Briefes ließ allerdings nicht lange auf sich warten. Völlig an der Sache vorbei argumentiert Robert Habeck, wenn er den Autoren unterstellt: „Was folgt aus dieser Argumentation? Eigentlich doch nur, dass ein bisschen Landbesetzung, Vergewaltigung und Hinrichtung einfach hinzunehmen sind und die Ukraine schnell kapitulieren solle.“ Selbst Robert Habeck weiß, dass seine Interpretation nicht korrekt ist, denn auf den Hinweis, dass nun das genau nicht im Brief steht, antwortet er: „Ja, vielleicht ist das zugespitzt.“ Was kümmert ihn schon der Wahrheitsgehalt seiner Äußerung? „Aber hinter der Argumentation steht doch die Annahme, dass mit einem Sieg Russlands das Sterben, die Gewalt ein Ende hätten und dann irgendwie alles wieder gut wäre. Russlands Vorgehen in den jetzt besetzten Gebieten spricht aber eine andere Sprache.“
Auch diese Annahme steht nicht im Brief, sie wird von Habeck nur unredlich unterstellt, um das Anliegen des Briefes zu diskreditieren. Habeck reagiert auch deshalb so überzogen, weil der Krieg inzwischen selbst als Argument zum Transmissionsriemen der großen Transformation, des Gesellschaftsumbaus der Grünen geworden ist: Der Krieg zwingt uns, so will man dem Bürger einreden, das Land schnellstens zu verspargeln und die Energiewende zu vollenden und dafür die Bürgerrechte und den Artenschutz zu schleifen; der Krieg bringt die Inflation hervor, und nicht die Energiewende und nicht die Politik von EU und EZB; der Krieg treibt die Energiepreise und die Spritpreise, nicht die falsche Politik der Bundesregierung, einschließlich der Steuerpolitik; der Krieg verknappt die Nahrungsmittel in Deutschland, nicht das Irrlichtern eines Landwirtschaftsministers, dessen Erfahrung sich im Fach allein auf das Betreiben einer Balkonplantage bezieht und der die Deutschen zum Vegetarismus zwingen will; und schließlich inspiriert der Krieg die Grünen zu neuen Steuerorgien, beispielsweise zu einer von Parteichefin Ricarda Lang angeregten Kriegssteuer.
Im Grunde sind ohnehin alle grünen Steuern Kriegssteuern, Steuern gegen das eigene Volk. Gerade in der Frage, wie man dieses inflationsgeplagte Volk weiter finanziell auspressen kann, legen sich die Grünen „keine Denkverbote“ (Ricarda Lang) auf. Aus all dem wird die Bedeutung des Kriegs zur Begründung grüner Narrative deutlich.
Wer so großspurig auf Argumente verzichtet, besitzt keine. Vollmundig fordern diejenigen, die nach eigenen Worten keine Expertise benötigen, „die Kriegsfähigkeit Russlands maximal“ zu „schwächen“. Wie wollen sie das unternehmen? Wollen sie Moskau bombardieren? Die Waffenschmiede Tula unter internationale Kontrolle stellen? Mit Sanktionen, die uns bisher stärker schwächen als Russland? Schwächen wir Russland, indem wir die deutsche Wirtschaft schwächen? Letzteres wollen die Petenten, denn sie fordern: „die Ausweitung ökonomischer Sanktionen auf den russischen Energiesektor als finanzielle Lebensader des Putin-Regimes.“
Den Petenten fehlt nicht nur jegliche militärische, sondern auch jede ökonomische Expertise. Klar, der Strom, kommt aus der Steckdose und der Weizen wächst als Brot im Supermarkt. Zur Erinnerung: In Deutschland wird gerade diskutiert, ob bei einem Gasnotstand zuerst die Industrie, so wie bisher nach dem Gasnotfallplan, oder zuerst die Privathaushalte abgeschaltet werden. Blickt man genauer auf Habecks wolkige Erklärungen, wird deutlich, dass er bis heute nicht weiß, wie er das Erdöl, das in Schwedt raffiniert wird, ersetzen soll, wie er zu verhindern vermag, dass es keinen Tropfen Benzin mehr an ostdeutschen Tankstellen gibt und die Mobilität zusammenbricht – und mit ihr die Wirtschaft.
Auch ist den Petenten nicht bekannt, dass zwischen China und Russland die dritte Pipeline gebaut wird, dass Moskau in Peking Kredit hat, dass die Chinesen die Importbeschränkungen für russisches Getreide aufgehoben haben. Notfalls exportieren die Chinesen russisches Getreide in die Welt zu horrenden politischen Preisen. Und es ist nicht nur China, sondern auch Indien, auch wenn der indische Premier, der in Berlin gerade 10 Milliarden Euro für Klimaprojekte erhalten hat, sich irgendwie zum Westen bekennt. Gut, die Petenten besitzen auch keine außenpolitische Expertise.
Anstatt sich in der moralischen Suada zu gefallen, ist es sinnvoller und angemessener, mit Vernunft, Besonnenheit und Rationalismus, mit Blick auf die deutschen Interessen dem Krieg in der Ukraine zu begegnen. Darin findet sich in beiden Briefen nichts, sie bleiben Echos aus den Kammern der Ideologien.
Der Bruder des Bürgermeisters von Kiew, Wladimir Klitschko, hat in seiner Entgegnung auf den ersten Brief, die ukrainische Sicht sehr gut auf den Punkt gebracht und das auf den Tisch gelegt, worüber in der Tat gesprochen werden muss, wenn es eben wirklich um die Ukraine geht. Klitschko stellt fest, dass „Deutschland seiner Verantwortung gewachsen“ ist „und beschlossen“ hat, „der Ukraine dabei zu helfen, ihre Freiheit zu bewahren, was sie vor der Welt und der Geschichte ehrt. Deutschland hat verstanden, dass die Ukraine die europäischen Werte mit ukrainischen Leben verteidigt und dass es an der Zeit ist, dass sie dies auch mit europäischen Waffen tut.“
Weiter schreibt Klitschko: „Blinder Pazifismus ist genauso gefährlich wie glückselige Kriegstreiberei.“ Er hat vollkommen recht damit, wenn er formuliert: „Wir brauchen keine abstrakten Moralpredigten, sondern konkrete Unterstützung in Form von Medikamenten, Materialien und Waffen.“
Dass er sich wünscht, dass ein schneller und vollständiger Boykott „von russischem Öl, Gas und Kohle“ geschieht, ist aus seiner Sicht, aus Sicht der Ukraine, verständlich, aber genau hier beginnt Realpolitik, hier muss genau darüber gesprochen werden, was kann Deutschland an Waffen liefern und was nicht, wie und wann kann Deutschland den Import von „russischem Öl, Gas und Kohle“ reduzieren. Denn die deutsche Regierung trägt vor allem die Verantwortung für das deutsche Volk. Es steht nicht im nationalen Interesse Deutschlands, Kriegspartei zu werden. Auch zählt es nicht zu den deutschen Interessen, unsere Wirtschaft zu vernichten, auch wenn unter zuweilen doch sehr hohem moralischen Pathos die Pazifisten von gestern als Bellizisten von heute genau das mit ihren großen und zuweilen wirklichkeitsfremden Worten verkünden – nur gehört das Tremolo der erhabenen Gefühle seit jeher zu ihrem Fach.
So hat Katrin Göring-Eckardt gefordert: „Die Ukraine sollte schnellstmöglich den Kandidatenstatus erhalten und, sobald die formalen Kriterien erfüllt sind, auch offiziell zur EU gehören.“ Ob sich Katrin Göring-Eckardt, die allen Anschein nach ein höheres Talent darin besitzt, permanent gegen deutsche Interessen, gegen die Interessen der deutschen Familien, der Kinder, der Väter und Mütter zu agieren, als ein Studium abzuschließen, sich dessen bewusst ist, dass sie damit im Endeffekt den Kriegseintritt der EU und damit auch Deutschlands verlangt, bleibt unklar. Klar hingegen würden ihren Forderungen, so sie erfüllt würden, Deutschland „drastisch verändern“. Einst versprach sie den Bienen und den Vögeln, dass die Grünen Politik für die Bienen und Vögel machen würden. Das Engagement der Grünen für die Vögel und Bienen stellt sich in der Praxis dar als Auflösung des Artenschutzes, um den Bau von Windparks, die Vögel und Insekten en masse schreddern, zu fördern. Doch Göring-Eckardt ist, wie man am Bellizismus ihrer Partei und an ihrem Bellizismus sieht, nicht nur am Theologiestudium, sondern auch am Christentum gescheitert. Wir brauchen Realisten, Pragmatiker, keine Ideologen in der Regierungsverantwortung.
Man muss Andrij Melnyk energisch widersprechen, die Welt, Europa und auch Deutschland befinden sich nicht im Dritten Weltkrieg – und es ist die Pflicht der deutschen Regierung, alles dafür zu tun, dass die Eskalation zum Overkill vermieden wird. Die Julikrise von 1914 zeigt anschaulich, wie glatt die Rutschbahn in den Weltkrieg ist, wie schnell die Eskalation durch Sorglosigkeit, durch große Worte, durch erhabene Gefühle, durch das Fehlen von Besonnenheit ausgelöst wird, die in der definitiv letzten Phase enden könnte. Wir haben in Deutschland wieder eine Kriegspropaganda.
Es ist richtig, dass ein Verhandlungswille Russlands zur Stunde nicht zu erkennen und dass man Putin sehr weit, vielleicht zu weit entgegengekommen ist. Doch eines sollte man tunlichst unterlassen, den Konflikt von der sicheren deutschen Redaktions- oder Gelehrtenstube aus anzuheizen.