Umfrageergebnisse und ihre Interpretation sind Teil der medialen und politischen Meinungsmache. Wie sieht es mit dem „Absturz“ der AfD in der jüngsten Sonntagsfrage von BILD aus? Kann die Ampel Wähler zurückholen, was man derzeit erwarten sollte? Fakt ist: Die Unzufriedenheit bleibt.
Es ist Wahljahr. Also darf kein Tag vergehen, an dem nicht die volle Barrage den jeweiligen politischen Feind – heute bevorzugt die AfD – trifft. Zur Not müssen auch Umfrageergebnisse herhalten. So meldete die BILD-Zeitung nach der von ihr finanzierten Sonntagsfrage Zahlen, die als dramatischer Einbruch der AfD interpretiert wurden. Es gebe „neue Hammer-Zahlen“ und der Absturz sei „brutaler als gedacht“. Dem pflichtete auch das CDU-affine Nachfolgeprojekt des ehemaligen BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt, Nius, zu, als es von einem „harten Abwärtstrend“ und abstürzenden Zahlen berichtete.
Reichelt selbst teilte sogar den Bericht seiner ehemaligen Kollegen und sprach vom „massiven Personal-Problem“ der AfD, das dazu führe, dass Menschen sich „gruseln“ vor „primitiv auftretenden Proll-Kandidaten“.
Das klingt nach dramatischen Verschiebungen. Die Umfrage brachte allerdings nur marginale Verschiebungen mit sich. SPD, Union, FDP, Linke und Freie Wähler blieben unverändert bei den Umfragewerten der Vorwoche stehen, die AfD jedoch verlor einen Prozentpunkt, das BSW einen halben, während die Grünen einen Prozentpunkt zulegten und ein halbes Prozent mehr seine Stimme „Sonstigen“ geben würde. Das ist an sich nicht berichtenswert. Für viele Umfragen, die als repräsentativ bezeichnet werden, gilt eine Schwankungsbreite zwischen zweieinhalb und bis zu fünf Prozent.
Scheinbar hochpräzise Umfrageergebnisse geben daher bei diesen Umfragen keine eindeutige Auskunft über das tatsächliche Befinden der Zielgruppe aus. Bei einer Fehlergrenze von drei Prozent kann ein Ergebnis von PRO 48 zu CONTRA 52 Prozent mit gleicher Wahrscheinlichkeit für PRO 51 (+3 Prozent) zu CONTRA 49 Prozent (−3 Prozent) stehen. Die Fehlergrenze errechnet sich aus der Größe der Stichprobe, dem zugrunde gelegten Konfidenzniveau sowie dem Stichprobenanteil (Anteil der Befragten, welche die betrachtete Ausprägung ausgewählt haben), schreibt zum Beispiel Statista. Medien berichten das nicht so gern; wenn ein Prozent rauf oder runter keine Bedeutung hat, wäre die Schlagzeile zerstört.
Da auch dieses Ergebnis zunächst wenig spektakulär erscheint, bedarf es der gezielten Einordnung durch Medien. Denn seit Anfang Januar, als die AfD mit 23 Prozent ihr bisheriges Umfragehoch erreichte, hat sie 6 Prozent eingebüßt. Die BILD übersetzt dies sogleich in dramatische Proportionen: „Ein Viertel der Stimmen ist weg. Ein-Jahres-Tief!“
Nicht nur das, auch der sogenannte „harte Kern“ der Wählerschaft soll angeblich wegbröckeln. Dabei handele es sich um jene Wähler, deren Wahlentscheidung eigentlich sicher sei. Deren Zustimmung sank seit Januar um 4 Prozent auf nunmehr 13 Prozent. Das ist schon eher ein relevanter Wert, der nur von INSA in dieser Form erhoben wird. Er besagt, wie entschieden die Wähler zu ihrer Partei stehen. Die Abnahme signalisiert eine zunehmende Verunsicherung und Lockerung des AfD-Wählerpotenzials und gibt einen Hinweis darauf, dass die Kampagnen in Medien und Politik Wirkung zeigen.
BILD zitiert auch den Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA, Hermann Binkert. „Die AfD verliert innerhalb von vier Monaten sechs Prozentpunkte“, so Binkert. Die Stimmung habe sich für die AfD „grundsätzlich eingetrübt“ und sie verliere „inzwischen auch sichere Wähler“. Das deckt sich mit den Zahlen.
Die Haltung entscheidet
Und es kommt wie beim Verlauf von Börsenkursen oder Temperaturkurven in der Klimawissenschaft auf den richtigen Zeitpunkt an, von dem aus die Betrachtung erfolgt. Gemessen an der letzten Bundestagswahl erscheint die AfD mit einem Zuwachs von 6,7 Prozentpunkten als Gewinner noch vor der CDU, die 6,4 Prozentpunkte zugelegt hat. Aber mit demoskopischen Vergangenheitswerten wird keine Wahl entschieden. Meinungsumfragen zeigen das Auf und Ab der öffentlichen Meinung. Der Höhepunkt der AfD bei knapp 23 Prozent fiel in die Zeit der Haushaltskrise der Ampel und die AfD versammelte das gesamte Protestwählerpotenzial auf sich. In der Zwischenzeit wurden mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), aber auch der Werteunion neue Parteien gegründet.
Die Umfragen zeigen, dass insbesondere das BSW Protestwähler sowohl von der Linken als auch von der AfD sammelte. Offensichtlich gelingt es derzeit dem Bündnis Sahra Wagenknecht der AfD Wähler abspenstig zu machen. Ein weiterer, typischer Punkt kommt dazu: Nach einer Wahl ist der Zuspruch zum Wahlsieger bei allen Umfragen hoch, sogar höher als das tatsächliche Wahlergebnis. Wähler wollen auf der Seite der Sieger stehen. Dann sackt die Zustimmung ab – keine Regierung kann wirklich ihre Versprechungen und Hoffnungen einlösen. Daher sinkt die Zustimmung in der Mitte der Legislaturperiode. Nähert sich der Wahltermin, steigt die Zustimmung wieder – die meckernden Stammwähler kehren in ihre Heimat-Urnen zurück.
Das ist derzeit zu beobachten. Vor der derzeitigen EU-Wahl und den Landtagswahlen in Ostdeutschland schließen sich die Reihen wieder, und das geht immer zu Lasten von Protestparteien. Hierin liegt die Gefahr für AfD und BSW: Wähler nutzen Umfragen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben – und wählen dann doch wieder die etablierten Parteien. Daher ist es derzeit noch eher überraschend, dass es SPD und Grünen, insbesondere aber der FDP nicht gelingt, ihre Umfragewerte zu verbessern.
Vergleicht man nämlich die Vorhersagen von Anfang Januar, als die AfD mit 23 Prozent ihren Umfragehöhepunkt erlebte, sieht man, dass sich insgesamt wenig verändert hat. Die Union verlor ein halbes Prozent, die SPD legte 1,5 Prozent zu, die Grünen gewannen ein Prozent, die FDP blieb unverändert; also wenig aussagekräftige Zahlen. Linke und Freie Wähler verloren jeweils ein halbes Prozent, „Sonstige“ 2 Prozent. Die nennenswerteste Veränderung ist, dass mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht nun eine neue 7-Prozent-Partei aufscheint, die ebenfalls Protestwähler anspricht. Das Wählerpotenzial der „Unzufriedenen“ ist also nicht um 6 Prozent gesunken, sondern im Gegenteil um 1 Prozent angestiegen. Das ist ein Menetekel für die Ampel-Parteien, denn man sollte derzeit eine wachsende Zustimmung erwarten.
Bei Licht betrachtet zeichnet sich also zwar ein Einbruch der AfD gemessen an ihrem Höhepunkt ab, aber auch eine Umverteilung des Protestpotenzials zu Gunsten des BSW. Die Ampel bleibt sensationell unbeliebt und verliert Stimmen in alle Richtungen, auch an die CDU. Der FDP droht gar das Scheitern an der 5-Prozent-Hürde, und das mit jedem Tag deutlicher.
Österreich zeigt, wie Meinungsforschung manipulieren kann
In den kommenden Wochen sollte daher auf den Absender der jeweiligen Umfragen geachtet werden. Nicht alle arbeiten korrekt an der vermeintlichen Fragestellung. Häufigstes Missbrauchsinstrument sind Zu- und Abschläge, die manche Meinungsforscher auf die erhobenen „Rohdaten“ vornehmen. Damit soll zum Beispiel korrigiert werden, dass Wähler einer so öffentlich verschrieenen Partei wie der AfD ihre tatsächliche Wahlabsicht nicht mehr eingestehen. Dazu kann kommen, dass Umfragen nicht nur versehentlich falsch liegen können, sondern eine aktive, meinungsbildende Rolle haben, wie einige Skandale in Österreich offenbaren. Bereits 2010 soll die damalige SPÖ-Geschäftsführerin Laura Rudas im Auftrag des damaligen SPÖ-Kanzleramts Umfragen in Auftrag gegeben haben, die parteipolitische Fragestellungen (wie zum Beispiel die Kanzlerfrage) zum Inhalt hatten. Doch solche Fragestellungen sind normalerweise von Parteien beauftragt, nicht vom Bundeskanzleramt mit Geldern der öffentlichen Hand.
Ans Tageslicht geriet dieser Skandal aber erst, als 2021 die Affäre rund um den damaligen ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz offenbarte, dass Kurz und seine Intimi bereits 2016 den kometenhaften Aufstieg des damaligen Außenministers Kurz zum neuen Parteichef mit gefälschten Umfragen begleiteten. Die Meinungsforscherin Sabine Beinschab erstellte in Zusammenarbeit mit der ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin während dieser Kampagne Umfragen, in denen die ÖVP unter dem Kurz-Konkurrenten Reinhold Mitterlehner in den Umfragen abstürzte, um somit den Übergang zum Retter der ÖVP, Sebastian Kurz, einzuleiten. Kronzeugin Beinschab war es, die die Staatsanwaltschaft darauf hinwies, dass auch die SPÖ Umfragen beeinflusst haben sollte.
Zwar stellte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) das Verfahren gegen die SPÖ ein, doch sind damit noch längst nicht alle Vorwürfe vom Tisch. Vor allem ein Mail-Austausch von Laura Rudas legt nahe, dass die parteispezifischen Fragen nachträglich in eine Umfrage geschmuggelt wurden, in der sie nichts verloren hatten. Die Ermittler der WKStA gaben klein bei, da „nicht ersichtlich, aber höchst fraglich“ war, ob das Bundeskanzleramt diese Mehrleistung jemals mit der Partei selbst verrechnet hatte.
Als wäre das der SPÖ noch nicht genug, schlitterte sie im Herbst 2023 in den nächsten Marktforschungsskandal. Das Meinungsforschungsinstitut SORA hatte ein Strategiepapier für die SPÖ damals an den falschen Verteiler versendet, sodass stattdessen 800 Journalisten die strategische Beratung der Meinungsforscher für die SPÖ erhielten. Das Strategiepapier gewährte Einblick in den Plan, wie man die SPÖ bei der nächsten Wahl zur stärksten Kraft machen wollte und somit den Grundstein für eine Alpen-Ampel legen könnte. Die Beratung ging soweit, den Altmarxisten und SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Babler mit einem „Charisma der Nähe“ zu umgeben, sodass dieser mit einem „Schattenkabinett“ regieren könne.
All das mag legitime Unternehmensberatung sein, allerdings stellte sich die peinliche Frage nach der Unabhängigkeit der SORA, die bis zu diesem Zeitpunkt hauptverantwortlich für Hochrechnungen und Wahlberichterstattungen in Österreichs Staatsfernsehen ORF verantwortlich war. Der ORF trennte sich daraufhin von der SORA, der bittere Beigeschmack blieb.
Diese Skandale zeigen, wie leicht es für Meinungsforschungsinstitute ist, sich in parteipolitischen Netzen zu verstricken und zu kompromittieren. In Zeiten des Wahlkampfs gilt es, auch die Rolle von Umfragewerten in die vorherrschenden medialen Kampagnen mit einzubeziehen, denn sie erforschen nicht nur Meinungen, sondern können sie sogar produzieren.
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