„Achtung, heute wird gewutbürgert, ich will auch mal.“ Im Januar 2021 wirkt weniger die Botschaft des Satzes bemerkenswert, sondern Ort und Autorin: Im Spiegel befasste sich die Kolumnistin Sibylle Berg mit dem, was sie „Corona-Elend“ nennt.
Erstaunlich wäre so ein Wutausbruch nach zehn Monaten Ausnahmezustand nicht – wenn die Wutrede nicht dort gehalten würde, wo man bisher jedes Wutbürgertum klar einzusortieren wusste: in die dunkelste Schublade, in die Endablage fürs besonders Schmuddelige. Der Wutbürger war hier männlich, vorgestrig und abstoßend. Maßnahmen-Kritiker galten als „Spinner“ (ARD) und „Schwachsinnige“ (Spiegel). Nun also erscheint Wut wieder gut und klug. Und in Gestalt von Frau Berg auch weiblich.
Screenrint / Spiegel
Woraus speist sich die Wut, die der Spiegel seinen Lesern fast wie aus dem Nichts vorsetzt? „Keine Strategien“ habe die Regierung, so Berg. Eine „Überforderung der Politiker“ und „verwirrende Regeln“ werden diagnostiziert, das „Untergehen vieler Berufe und Existenzen“ beschworen. Sie führt Klage über einen „inflationären Gebrauch des Wortes Solidarität“, das durch Missbrauch „vollkommen ausgehöhlt“ wurde – als ob nicht Medien wie der Spiegel diese Entwertung durch stete Vermehrung („leave no one behind“) nach Kräften betrieben hätten (und bei anderer Gelegenheit immer noch betreiben). Bergs Fazit: „Viele sind am Ende. Und haben Angst.“ Die Regierung möge bekennen: „Hey, Leute, wir haben versagt.“
Natürlich hat nicht das Milieu von Sibylle Berg versagt, jene Kulturschaffenden und Pressemenschen, die das Regierungshandeln beziehungsweise Nichthandeln etwa beim Schutz von Altenheimen monatelang gutgeheißen hatten – sondern die anderen.
Die Wagenburgen stehen nicht mehr fest
Im gleichen Blatt versuchte ein Redakteur, der sonst immer durch besonders vollumfängliches Verständnis für die Regierung aufgefallen war, den jüngsten TV-Auftritt der Kanzlerin zur Impflage und ihr stets bemühtes Ringen um Worte zu parodieren („im Großen und Ganzen, glaube ich, ist nichts schief gegangen“).
Screenrint / Spiegel
Bis Weihnachten konnte sich der deutsche Zeitungsleser darauf verlassen, dass die medialen Wagenburgen festverzurrt auf Corona reagierten – jede auf ihre Weise. Ein eher kleines bürgerliches Lager hatte von Beginn der Krise an die Regierung kritisch begleitet, während ein breites linkes Spektrum sich instinktiv zusammenfand in der ganz großen Koalition zur Rechtfertigung einer alternativlosen Maßnahmenpolitik. Man erinnert sich noch an ARD-Chefredakteur Rainald Becker, der alle als „Wirrköpfe“ und „Corona-Kritiker“ abkanzelte, die sich die Normalität zurückwünschten. Oder MDR-Journalist Tim Herden, der kommentierte: „Noch führt Merkel das Volk.“
Im „Multipolar-Magazin“ schilderte vor kurzem ein Nachrichtensprecher des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in einem anonymen Artikel, wie die Verantwortlichen in den Sendeanstalten jeden Zweifel verdrängten – und bei ihm die Zweifel allmählich wuchsen:
„Auch bei uns war in Gesprächen immer häufiger zu hören, dass ’die Regierung doch wirklich einen guten Job macht’. Die meisten waren fest davon überzeugt, dass der Lockdown und die Einschränkungen unserer Grundrechte notwendig und ganz sicher nur vorübergehend seien […] Und dann waren da noch die TV-Interviews mit Politikern. Hochgeschätzte Journalistinnen und Journalisten, die im Gespräch dem Politiker XY eifrig nickend und auch verbal zustimmten, wenn der seine Einschätzung der Situation und seine Forderungen unterbreitete […] In den Nachrichten aller Leitmedien, auch bei uns, starben plötzlich wichtige, kleine Worte wie ’angeblich’, ’vermeintlich’, ’offenbar’ aus. Es hieß zum Beispiel in der Tagesschau, Twitter wolle ’Falschinformation zu Corona’ künftig löschen. Da fehlt ganz eindeutig ein ’angebliche’ oder ’vermeintliche’ als Zusatz, denn so wird unterstellt, dass Twitter vollkommen zweifelsfrei beurteilen könne, was in Sachen Corona-Virus (oder generell) eine falsche und was eine richtige Information sei. Zuweilen machte ich Kollegen in der Nachrichtenredaktion auf solche Dinge aufmerksam und erntete manchmal sogar zustimmendes Kopfnicken, oft aber auch nur ratloses Achselzucken.“
Der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Uwe Krüger beschreibt in seiner Analyse „Journalismus und Regierungspolitik: Hand in Hand?“ in den „Frankfurter Heften“ dieses politisch-mediale Zusammenrücken – und liefert gleichzeitig eine These, warum sich in dieser Allianz jetzt Brüche auftun, und die ersten ganz abspringen:
„Dass kritische Medienberichterstattung keine konstante Eigenleistung des Journalismus ist, sondern von Konfliktkonstellationen im politisch-parlamentarischen Raum abhängt, das wird in der Kommunikationswissenschaft seit Jahrzehnten theoretisch unter dem Begriff ’Indexing-Hypothese’ verhandelt und empirisch immer wieder nachgewiesen“, so Krüger. „’Indexing’ meint, dass die Medien die Meinungsspanne innerhalb des politischen Establishments anzeigen (indexieren) – und zwar nicht nur im Nachrichtenteil. Auch in Kommentaren wagen sich Journalist/innen in der Regel nicht über die aktuell in offiziellen Kreisen akzeptierten Positionen hinaus. Denn auch das wäre mit Kosten verbunden: Kritik hochrangiger Amtsträger kann zu sozialer Isolation im Elitenmilieu führen, zum Versiegen von Quellen und so weiter.“
Was umgekehrt heißt: Verlassen gleich mehrere Meinungsführer in den etablierten Medien ihre Position, dann löst sich die Index-Linie relativ schnell auf. Um mit Berg zu sprechen: Andere wollen dann auch einmal abweichen. Beziehungsweise: Nicht zu den letzten Verteidigern einer erratischen Regierungspolitik gehören, deren Vertreter selbst im offensichtlichsten Scheitern nicht erkennen können, dass sie irgendetwas falsch gemacht hätten.
Kritik, notfalls vorsichtig mit Fragezeichen
Eine kleine Übersicht zeigt, wie weit dieser Trend schon vorgedrungen ist. Am 18. Januar 2021 bringt die Frankfurter Rundschau, die bislang ebenso wenig wie der Spiegel auffällig geworden war als Corona-Maßnahmenkritikerin, ein Interview, dessen Titelaussage es in sich hat: „Juristin kritisiert Corona-Lockdown: ’Meilenweit vom evidenzbasierten Handeln entfernt’“.
Screenprint / FR
In der Welt konnte man schon Ende März 2020 Warnungen von Verfassungsrechtlern vor einem „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ lesen.
Screenprint / Welt
Viele Juristen aber ziehen es bis heute vor zu schweigen. Umso deutlicher wirken die Worte von Jessica Hamed. Bemerkenswert ist das Interview vor allem, weil Hamed das sagt, was die Journalistin eigentlich fragen müsste. Wenn Redakteurin Katja Thorwarth mehr dekretiert als fragt: „Sollte man in Zeiten einer Pandemie nicht auf die Einschätzung der Virolog:innen hören?“ stellt Rechtsanwältin Jessica Hamed richtig: „Zunächst gibt es nicht die Einschätzung der Virolog:innen, sondern es gibt widerstreitende Ansichten.“
Mit solcherart vertauschten Rollen läuft das gesamte Interview ab. Die FR-Redakteurin trägt die Argumente der Regierungsseite so kritiklos wie möglich vor, während sich die Interviewte nach Kräften bemüht, der Aufgabe der Journalistin nachzukommen, indem sie differenziert, aufklärt, richtigstellt – gegen den erkennbaren Widerwillen der FR-Vertreterin. Aber immerhin: Das Interview erschien.
Anderen Presseorganen fällt die Schubumkehr leichter, etwa dem schon erwähnten Spiegel, wo plötzlich ehemals hochgelobte Experten wie Christian Drosten zu „bestellten Beratern“ werden, die viel zu einseitig „den Regierungskurs stützen“.
Screenprint / Spiegel
Auch die Zeit deutet in ihrer aktuellen Ausgabe eine Richtungskorrektur an: „Plötzlich Versager?“ lautet die Titelzeile. Aber auch hier kommt die Kritik an der angeblich so vorbildlichen deutschen Corona-Politik noch mit einem Fragezeichen daher. Man weiß ja nie.
Den vorläufigen Höhepunkt der Trendwende im linken Spektrum bildet ein offener Brandbrief von Jens Fischer-Rodrian: „Wann Kolleg*innen, wann?“. Der „Aufruf eines Musikers an die schweigende Mehrheit der Künstler*innen“, es sei höchste Zeit, gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren, erscheint ausgerechnet auf einem lange Zeit vom notorisch linken Barden Konstantin Wecker finanzierten Blog. (Wobei die meisten Künstler gar nicht geschwiegen, sondern lautstark die Regierung verteidigt hatten gegen viele als Covidioten verunglimpfte Bürger, die seit langem das sagen, was laut Fischer-Rodrian auch seine Künstler-Kollegen jetzt sagen sollten.)
Die schweigende Protestposaune
Schon die redaktionelle Einleitung lässt aufhorchen mit ihrer Rede von „autoritären Tendenzen im Staat“, von „einer wirtschaftlichen und psychosozialen Katastrophe“, „schlimmen ’Kollateralschäden’ überall“, von einer „verstümmelten Demokratie“, von „Duckmäusertum und Denunziantentum“, letztlich von einer drohenden Diktatur. Fischer-Rodrians Hilferuf hebt pathetisch an, fast im Stile eines Wolfgang Borchert: „Wann denkst du, es reicht, jetzt stirbt alles, wofür Menschen seit Jahrhunderten gelebt und gekämpft haben, das hat doch alles nichts mehr mit Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit zu tun?“ Nach obligater Kapitalismus-Kritik am Reichtum der Mächtigen und am gottlosen Finanzsystem folgt heftigste Medienschelte vom ehemals Wecker’schen Gitarristen: „Wann beleidigt es deinen kritischen Geist, dass die Journalisten der Leitmedien ihrer wichtigsten Aufgabe, der Aufklärung, nicht mehr nachkommen?“ Das Ehrliche an Fischer-Rodrians Appell ist, dass er nicht – wie viele Künstler – nur egoistisch über die eigene Situation klagt, sondern die gesamte Gesellschaft in den Blick nimmt.
Kaum etwas erfahre man „über den Widerstand der Menschen aus anderen Ländern, über die Toten, die falsch behandelt wurden und deshalb starben, über die Gerichtsurteile aus Portugal, das die Quarantäne verbot, aus Ecuador, das die Maßnahmen als völlig unverhältnismäßig einschätzt, aus Weimar, das der deutschen Regierung ein katastrophales Zeugnis ihrer gescheiterten Lockdown Politik ausstellte, über den Umstand, dass man während einer Pandemie tausende Intensivbetten abgebaut hat, über die Zweifel an Impfstoffen, die in so kurzer Zeit entwickelt und nicht ausreichend getestet wurden, über die Anweisungen an Ärzte und Apotheker, mögliche Impfrisiken zu verschweigen?“
Im Prinzip eine Kopie der Mängelliste all derjenigen, die bislang als „Manipulateure“, „Pandemie-Leugner:innen und extrem Rechte“, „Schwindel-Ärzte und Youtuber:innen“ abqualifiziert wurden, so etwa auf dem preisgekrönten und auch von Markus Söder gelobten Augsburger Blog „Volksverpetzer“. „Wann sagst du nein zu all dem Irrsinn, der soviel Leid evoziert, vor allem bei unseren Kindern, die das Lächeln verlernen?“, fragt Fischer-Rodrian.
Auch manche Leserkommentare auf dem Blog haben es in sich, wenn sie Faschismus nicht mehr rechts verorten, sondern auf der Regierungsbank. Ein „Freiherr von Anarch“ schmäht dort Konstantin Wecker als „special loudtalker“, aus dessen „Protestposaune“ in der Corona-Krise plötzlich „kein Laut mehr rauskommt“. „Jürgen W.“, Selbstbezeichnung „links-grüner Gutbürger“, wirft Wecker „einfältige Phrasen“ vor: „Was sollte(n) diese Aussage(n), nicht mit Rechten auf die Straße zu gehen? ’Spiel nicht mit den Schmuddelkindern?’. Aus diesem snobistischen Festhalten an pseudo-linken Werten ist diese Propaganda-Uniformität entstanden, unter der wir alle leiden. Mit Merkel als Vorbild und Trump als Spottbild ließ sich gut von oben herab urteilen und ablästern. Schnöselig und – leider auch sehr, sehr hochmütig. Das rächt sich wohl jetzt.“ Aufschlussreich erscheint die jähe Erkenntnis des Musikers, „weshalb sich manche Kollegen wegducken: Niemand werde gern in die rechte Ecke gestellt. Diese Falle ist wohl allen Kritikern ganz gezielt gestellt worden.“
Und viele sind in die Falle hineingetappt, die nun auch der Musiker Guido de Gyrich verlassen will, in dem er seine Kollegen fragt: „Wo seid ihr alle hin?“ Campino – für ihn „ein Lutschbonbon“ doch „zwischenzeitlich Synonym für Punkrock-Schwiegersohn“. „Der Mai, der ist gegangen. Seid wachsam, riet er uns“. Da zeigt ausnahmsweise einer wirklich Gesicht.
„Wo seid ihr alle hin?“ müsste man auch so manchen Kabarettisten fragen, der nicht mehr die Mächtigen kritisiert, sondern die Ohnmächtigen beschimpft. Die NachDenkSeiten beobachten „eine Entwicklung zur Comedy-Agitation: ’Heute Show’ und ’Extra Drei’ gehören zu den härtesten Verleumdern der Corona-Kritiker und der ’undisziplinierten’ Bürger und verhalten sich über weite Strecken wie treue Verteidiger der Lockdown-Strategie der Regierung.“
Eine beachtliche Wende absolvierte Heribert Prantl, ehemals Innenressort-Chef der Süddeutschen. Er scheint zurückgekehrt in seine angestammte Rolle des juristisch besonnenen Journalisten, der er lange war, bevor er mit der Süddeutschen Zeitung abdriftete in irrationales Regierungslob. Seine Sätze wirken allerdings inzwischen seltsam isoliert im Mainstream seiner eigenen Zeitung:
„Grundrechte sind keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss. Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein 13. Monatsgehalt. Sie sind einfach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch nehmen. Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie dem Menschen als Mensch zustehen.“
Screenprint / Prantl
Im grün-roten München ziert derzeit ein wunderliches Plakat die Litfaßsäulen: Städtische Kulturveranstalter präsentieren sich in einer Porträtgalerie unter dem Slogan „Ohne uns ist es still“ – ein Protest gegen die Stilllegung ihres Berufssektors durch den Lockdown. Soweit, so verständlich. Was aber liest man unten rechts in der Ecke dieses Plakats? „Gefördert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München“. Man muss dreimal hinschauen, bevor man es glaubt: Die Stadt München, die schon im wenig virenbelasteten September 2020 stolz darauf war, die härtesten Lockdown-Maßnahmen Deutschlands verhängt zu haben, fördert und bezahlt den Protest gegen sich selbst. Eine perfekte Symbiose: Exekutive und Opposition vereint in einer Hand.
Bei „Anne Will“ war es die bisher schon kritische Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht, die erklärte, die Corona-Politik dürfe nicht so weitergehen wie bisher. Vor allem die obsessive Konzentration auf die 7-Tages-Inzidenz von 50 sei falsch. Wagenknecht wies darauf hin, dass Länder mit einer höheren Inzidenz als Deutschland trotzdem weniger Tote zu beklagen hätten, weil sie es offenbar besser schaffen, vor allem ihre Seniorenheime zu sichern.
Screenprint via Twitter / Anne Will
Während die Linken-Politikerin darauf aufmerksam machte, wie absurd Durchhalteappelle wirken, wenn es die Regierung gleichzeitig weder schafft, die besonders Verletzlichen zu schützen noch Impfstoff zu organisieren, war es Unions-Fraktionschef Ralf Brinkhaus, der weiter auf die Inzidenz von 50 pochte – und noch eine neue von 35 ins Spiel brachte, ohne sie zu begründen.
Der Welt-Redakteur Andreas Rosenfelder wirkt mittlerweile überholt von der Wirklichkeit, wenn er fragt, wo die Zivilgesellschaft bleibt, die Merkel sagen müsste, dass Grundrechte keine Zuteilungsmasse der Kanzlerin sind.
Diese Zivilgesellschaft regt sich mittlerweile auch links der Mitte. Geschenkt, dass manche Medien (Achgut, Tichys Einblick, Publico) diese differenzierte Sicht seit fast einem Jahr vertreten. Einige wenige dezidiert linke Blogs wie die NachDenkSeiten oder Rubikon standen von Anfang an auf der Seite der Maßnahmen-Kritiker, weshalb die versammelte wohlmeinende Presse sie mit ihren Faktencheck-Apparaturen lange in die Richtung des Unappetitlichen und Abnormalen gerückt hatte.
Bei der Neuwutbürgerin Sibylle Berg kommt der Punkt kaum vor, was die Kulturbranche selbst mit ihrer Burgfrieden-Strategie bewirkt hatte. Wenn die Branche jetzt zu klagen beginnt, wie ungerecht es sei, dass „Kultur mit einem Berufsverbot belegt“ wurde, darf man durchaus nachfragen, warum sich die Klageführer monatelang gar nicht genug darüber auslassen konnten, wie richtig und alternativlos die Corona-Maßnahmen der Regierung doch seien, die genau das verordneten, was jetzt beklagt wird.
Noch im ersten Lockdown 2020 machte sich die Schauspielerin Anna Thalbach in einem Spiegel-Interview lustig über den Restaurantbesitzer Tim Mälzer, der im Fernsehen in Tränen ausgebrochen war, weil er nicht mehr wusste, wie es mit seinem Unternehmen weitergehen sollte: „Es wundert mich schon“, so Thalbach damals, „dass nach sechs Wochen bekannte Gastronomen in einer so schrecklichen Lage sind, dass sie öffentlich in Tränen ausbrechen müssen. Wie fragil ist unser Leben? Die Wirtschaft ist der Diktator, dem wir hörig sein sollen, aber dieser Diktator treibt so viele Menschen so schnell in den Ruin.“
Für den Stimmungswandel im linken Lager gibt es vermutlich mehrere Gründe. Einschneidende Änderungen der Corona-Politik, die den Schwenk, der als klassischer U-Turn daher kommt, erklären würden, sind nicht erkennbar. Das einzige, was sich offensichtlich zu verändern beginnt, ist die linke Wahrnehmung der gleichen Politik. Zum einen frisst sich das materielle und psychische Elend weit in die Kreise der selbständigen, nicht staatlich durchfinanzierten Künstler hinein. Vor einigen Wochen schrieb ein „Tatort“-Autor in der Welt über den Suizid einer freien Musikerin. Dazu kommt ein rapider Vertrauensverlust in die Regierung, den die Demoskopen messen. „Kritik an Bundesregierung erstmals größer als Zustimmung“, verkündet Focus das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey:
„Mit 46 Prozent sind erstmals mehr Menschen unzufrieden als gegenüber den 42 Prozent, die der Regierungschefin und ihren Kollegen ein gutes Zeugnis ausstellen. Seit Juli des vergangenen Jahres sank die Zufriedenheit bei den Menschen stetig.“
Und das bräsige „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“-Selbstlob der Kanzlerin beim Thema Impfstoff könnte selbst für bisher treue Verteidiger der berühmte Tropfen zu viel gewesen sein.
Plötzlich sagen die Guten, was andere schon lange sagen
Interessanter als die Forschung nach den Ursachen dieser Trendumkehr ist die Frage nach den Folgen. Was ergibt sich daraus für die Linken? Kommt jetzt eine andere ganz große Koalition gegen die aktuelle Lockdown-Politik? Fischer-Rodrians Aufforderung weist in diese Richtung: „Wann gehst du auf die Straße und löst die besorgten Menschen ab, die seit März 2020 friedlich Fragen stellen, sich immer wieder beschimpfen, diffamieren und mit schwerem Geschütz von der Straße treiben lassen müssen? Wann erhebst du deine Stimme und verlangst einen fairen Diskurs statt Willkür und Ausgrenzung?“
Die Linke muss sich ein paar Gewissensfragen stellen: Darf man den Lockdown kritisieren, auch wenn man dann dieselbe Kritik übt wie jene bürgerlichen Kräfte, die man sogar in der „Neuen Normalität“ als Rechte abdrängen will? Kann man den Lockdown kritisieren, weil man selbst darunter leidet, als Kunstschaffender etwa – und gleichzeitig als ZeroCovid-Unterstützer einen noch härteren Lockdown fordern? Oder zerlegt sich an dieser Bruchlinie das linke Milieu?
Bisher konnte die Regierung darauf bauen, dass sie in der Zurückweisung von Kritik an ihren Corona-Maßnahmen von großen Teilen der linken Diskursgemeinschaft und der Medienlandschaft automatisch unterstützt wurde. Was passiert, wenn eine kritische Masse dieser bisherigen Unterstützer nach und nach desertiert? Wie werden sich linke Medienmitarbeiter verhalten, wenn sie merken, dass ihnen das eigene Milieu nicht mehr traut?
Auch Politiker scheinen zu merken, wie die Stimmung umschlägt, allen voran Markus Söder als geschmeidigster Stimmungsspürer der Republik: „Impfversagen! Söder rechnet mit Regierung ab“ – so konnte Bild titeln, weil der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef, der mit Regierungshandeln bekanntlich nichts zu tun hat, mit seiner Wutinszenierung davon abzulenken verstand, dass die Schlagzeile eigentlich hätte lauten müssen: ‘Gericht düpiert Söder’, nachdem die 15-Kilometer-Sperrzone von der landeseigenen Justiz einkassiert wurde.
Ganz ähnlich Olaf Scholz: „Vize-Kanzler geht wegen Impf-Debakel auf von der Leyen los: ‚Richtig sch*** gelaufen!’“, meldete Bild.
Zuletzt beschwor die Kanzlerin das Volk, es müsse „noch eine Weile durchhalten“. In der größten Not erwägt Merkel sogar den Einsatz des russischen Impfstoffs Sputnik V in Deutschland.
Wenn die strikte Spaltung in eine helle und eine dunkle regierungskritische Seite sich tatsächlich allmählich auflöst, und sogar einige treue Medien sich abwenden: Dann verschwindet auch die wichtigste Stütze, auf die Merkel immer bauen konnte.
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor