Tichys Einblick
Der Autor der Bonner Republik ist tot

Martin Walser war der Chronist der Ersten Klasse

Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren verstorben. Mit ihm wird einer der letzten großen Vertreter der Bonner Republik begraben. Einer, der noch im hohen Alter den öffentlichen Streit suchte.

IMAGO / Horst Galuschka

Marcel Reich-Ranicki hat Martin Walser verteidigt. Nachdem dieser sich mit dem Vorsitzenden des Zentralrats, Ignatz Bubis, öffentlich gestritten hatte. Unter anderem hatte der Schriftsteller dem Mann, der einen Großteil seiner Familie im Holocaust verloren hatte, vorgeworfen, er habe sich mit dem Holocaust nicht so intensiv auseinandergesetzt wie er, wie Walser. Was an sich schon nicht richtig klug war.

Deshalb enthält Reich-Ranickis Verteidigung in der FAZ auch einen bitterbösen Twist: Der Autor sei kein Antisemit, versichert der Kritiker. Er glaube ihm, wenn er sage, dass er sich nur missverständlich ausgedrückt habe. Andererseits sei Walser Schriftsteller. Und angesichts dieses Berufs müsse sich Walser schon fragen, ob es für ihn nicht besser wäre, Antisemit zu sein, als sich nicht ausdrücken zu können. Autsch. Aber das passiert, wenn man als Autor den literarischen Olymp verlässt und sich in die Niederungen der politischen Auseinandersetzungen begibt.

Bubis, Reich-Ranicki, FAZ – das sind Namen, die in der Bonner Republik eine große Rolle gespielt haben. Und mit ihr allmählich in Vergessenheit geraten. Es sei mit dem Ruhm wie mit dem Schweif eines Kometen, den man nach dem Passieren noch eine Zeit sehe, wie es Ernst Jünger kurz vor seinem eigenen Tod ausgedrückt hat. Noch so ein Name, der allmählich immer weniger genannt wird.

Ein großartiges Zitat, das Walser hinterlassen hat, lautet: Es spiele im Leben keine große Rolle, ob man links oder rechts sei. Viel entscheidender sei, ob man Erster oder Zweiter Klasse fahre. Mit diesem intellektuellen Werkzeug ausgestattet, lässt sich heute noch manche Fassade einreißen. Es genügt zum Beispiel, auf die Urlaubstouren der letzten Generation zu schauen, und man weiß, aus welchen Elternhäusern die „Klima-Aktivisten“ kommen und wie ernst sie es mit ihrer Klimamoral meinen, wenn es um sie selbst geht.

Es war die Stärke von Walsers Büchern, Fassaden einzureißen. Etwa im nur wenig bekannten „Brief an Lord Liszt“. 1982 veröffentlicht. Ein toter Winkel der deutschen Literatur. Die Zeit der Gruppe 47 war vorbei. Noch eine Geschichte über die Verstrickungen Einzelner im Dritten Reich hat keiner mehr gebraucht. Aber auch die, die 1968 den „Tod der Literatur“ behauptet hatten, hatte ein Italiener namens Umberto Eco mit „Der Name der Rose“ gerade glänzend widerlegt. In Deutschland sollte es noch etwa ein Jahrzehnt dauern, bis die Popliteratur eine neue Strömung von Belang hervorbringen sollte.

Führungskräfte einer Firma für Zahnersatz – Walsers Geschichten spielen eher in der Ersten als in der Zweiten Klasse – sinnieren über das Leben, nachdem sich ein Konkurrent selbst getötet hat. Es ist nicht die Geschichte, die das Werk zusammenhält. Es sind die präzisen Beobachtungen, die „Brief an Lord Liszt“ lesenswert machen. Wenn Walser Fassaden niederreißt, ist er am stärksten.

Während Heinrich Böll in der Bonner Republik der Autor der Waschküchen war, so war Martin Walser der Biograph der bürgerlichen Oberschicht. In der Zeit, in der die bürgerliche Oberschicht nach der wilhelminischen Gründerzeit ihre beste Epoche in der deutschen Geschichte hatte. In seiner berühmtesten Novelle „Ein fliehendes Pferd“ spielt ein Journalist eine wichtige Rolle. Und auch sonst hat Walser seine Geschichten gerne im Umfeld des Spiegels angelegt – in das er auch ganz privat sein Erbgut eingebracht hat.

In Erinnerung bleiben Walsers verbale Alters-Ausrutscher in dem Bestreben, Juden als Juden kritisieren und dabei Juden nennen zu dürfen, ohne damit das Judentum an sich zu meinen. Ein Wunsch, der Deutsche erstaunlich stark bewegt, seit Deutsche nicht mehr staatlich organisiert Juden ermorden. Nach Reich-Ranickis Verriss hat Walser ein ganzes Buch dem Kritiker gewidmet. Es ist viel, viel länger als der Verriss – erreicht aber nicht an einer Stelle dessen Witz, Eleganz oder Treffsicherheit. Es ist nicht gut, wenn ein Autor sich nicht verständlich ausdrücken kann.

Was bleibt, wenn ein Autor geht, ist sein Werk. Walser geht es dabei wie Böll: Seine Romane lebten von der Aktualität und die war schnell überholt. Trotzdem lohnt es sich heute noch, beide zu lesen: Wenn man sich mit der Zeit von damals beschäftigen will – und wenn man Autoren zu schätzen weiß, die Fassaden zum Einstürzen bringen. In seinen besseren Momenten konnte das Walser durchaus gut.

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