Tichys Einblick
Politik und Medien

Das sollten Sie jetzt wirklich wissen: alles über Sylt und das Richtige über Mannheim

Besser als durch die fast parallelen Fälle von Nordsee-Suffgesang und Messerterror lässt sich der politmediale Betrieb nicht illustrieren: Da werden die Informationskanäle druckbefüllt, dort tröpfelt nur Gefiltertes heraus. Und führende Journalisten meinen: Genau in dieser Steuerung besteht ihre Aufgabe.

Screenprints - Collage: TE

Wer nicht weiß, was auf der „Republica“ in Berlin passiert, muss sich keine Sorgen über seine Alltagstauglichkeit machen. Die Veranstaltung schreibt sich re:publica, was sofort bedeutender klingt, sie findet seit 2007 statt und anfangs, so heißt es, soll sie noch ein Hauch des Subversiven besessen haben, subversiver noch als der Hahnenkamm von Mitgründer Sascha Lobo.

Seit Jahren dient die von mehreren Bundesministerien mitfinanzierte Sause dem Austausch zwischen Regierungspolitikern und Angehörigen des erweiterten Medienbetriebs, zu denen Tom Buhrow gehört, die einen oder anderen Digital-Irgendwas-Unternehmer, eine Auswahl der schätzungsweise 40 Millionen deutschsprachigen Podcast-Anbieter, außerdem die Transformatorin Maja Göpel, die in Berlin über „Wackelzeit, Waschmaschinenzeit“ unter dem Titel „Lost in Ego-Fixation“ sprach. Einen Ghost speaker, also eine Entsprechung des Ghost writers, der bei Göpels Schrifttum immer noch einmal sanft über die Sätze hobelt, gibt es bisher nicht. Das Problem löst sich vermutlich erst durch den Fortschritt der künstlichen Intelligenz.

Es kommen also diejenigen unter einem großen Dach zusammen, die sich das ganze Jahr über in Berlin kleingruppenweise treffen. Die Republica-Ausgabe für 2024 trug den Titel „Who Cares?“, zu Deutsch also: „Wen schert’s?“ So lautet jedenfalls die treffendste Übersetzung, denn die Beteiligten wollen auch ausdrücklich unter sich tagen, um über Waschmaschinenzeit, Medien und Transformation nachzudenken.

Sie sprechen nicht zu einem Publikum draußen, obwohl es öffentliche Videos aller Auftritte gibt, sondern untereinander in einer Art erweiterter Wohnzimmeratmosphäre. In diesem intimen Raum jedenfalls hielt Tilo Jung, ein Verfertiger von Videointerviews, als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion einen Monolog über den Zweck von Journalismus. Es sei nicht die Aufgabe von Journalismus, so Jung, die Bürger „über Themen zu informieren, über die sie informiert werden wollen“. Als Beispiel nannte er Migration, verbunden mit dem Hinweis: „Es ist nicht unsere Aufgabe, das abzubilden.“ Vielmehr habe zu gelten: „Journalisten informieren über das, worüber die Bevölkerung informiert werden soll.“

Für ihn steht es also außer Frage, dass ein Gremium existiert, wie informell auch immer, das diese Festlegung trifft. An einer anderen Stelle kurz heißt es bei ihm: „was die Bevölkerung wissen soll“. Das geht noch ein bisschen über ‚informiert‘ hinaus. Was die Leute hören und sehen sollen, so seine Ausführung, soll als Wissen möglichst unverändert in ihr Bewusstsein übergehen.

Nun fällt Jung dadurch auf, dass er in der Bundespressekonferenz ab und an andere Fragen stellt als andere Journalisten, die sich die Möglichkeiten offenhalten möchten, auf die andere Seite des Tisches zu wechseln, wie es in der Branche heißt. Er besetzt also innerhalb des Berlin-Mitte-Konglomerats eine gewisse Sonderstellung und diese Position führt höchstwahrscheinlich auch dazu, dass er ausspricht, was die meisten seiner Kollegen denken und in ihrer Arbeit längst praktisch verwirklichen, aber nicht diskutieren. Denn darin liegt der eigentliche Punkt: Niemand auf der Republica-Bühne will ihm widersprechen. Es gibt nur eine ignorierte Zwischenruferin, die wissen will: „Wer legt das fest?“ – also den Kanon dessen, was die Leute draußen hören und sehen sollen. Jeder im Saal weiß, dass Jung aus der Mitte ihres Milieus spricht und das nicht nur in dieser einen Passage. Auch seine Feststellung, jeder, der meint, es gäbe mit dieser Art von Migration in Europa ein Problem, befände sich schon deshalb auf der rechten Seite, dürften fast einhundert Prozent in diesem Saal teilen.

Wenn Qualitätsjournalisten es als ihre Aufgabe sehen, über das zu informieren, was das Publikum wissen soll, verflüchtigt sich ganz automatisch die Trennlinie zwischen ihrem Gebiet und professionellen Meinungsbildnern, deren Aufgabe ganz offiziell darin besteht, bestimmte Ansichten und Informationshappen in die Öffentlichkeit zu bringen und andere strikt herauszuhalten – also zu PR-Kräften von Regierung, Parteien und Unternehmen. Wie diese Gleichrichtung der beiden Gruppen, die in einer offenen Gesellschaft eigentlich Positionen von institutionellen Gegenspielern besetzen sollten, schon den Medien-Blob-Blob prägt, fällt erst auf, sobald sich jemand ausnahmsweise nicht an dieses Prinzip von Wissensollen hält.

Dazu gab es vor wenigen Tagen einen anderen Videoschnipsel mit hohem Erklärwert, der eine Antwort von Regierungssprecher Steffen Hebestreit während des „Talk im Tipi“ zeigt, einer von mehreren Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Grundgesetzverabschiedung. Dort erzählt er nach einer entsprechenden Frage aus dem Auditorium, warum er 2020 – damals noch als Sprecher des Bundesfinanzministers Olaf Scholz – einen Journalisten, der etwas zu Scholz‘ Verwicklung in die Cum-Ex-Affäre wissen wollte, mit körperlichem Einsatz beiseite drängte. Diese Übung beherrscht der fast zwei Meter große Hebestreit übrigens ganz passabel.

Der heutige Regierungssprecher erklärte im besagten Tipi, es habe sich um keine abgesprochene Frage gehandelt, beziehungsweise: nicht die abgesprochene Frage.

Interessanterweise verriet er auch, wie denn die abgesprochene Frage lautete, bei der es sich seinen Ausführungen nach gar nicht um eine echte Frage handelte, sondern um ein Stichwort, auf das Scholz etwas zur Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten sagen sollte. Statt also nach etwas zu fragen, was die ARD-Zuschauer wissen sollten (wie denkt der Vizekanzler über die rückgängig zu machende Kemmerich-Wahl?) benutzte der Panorama-Mitarbeiter die Gelegenheit, nach etwas zu fragen, was tatsächlich eine nicht ganz kleine Zahl von Bürgern gern wissen wollte.

Hebestreit konnte auch im Mai 2024 nichts Verkehrtes daran finden, den Reporter mitten im Satz abzuwürgen. Er begründete das mit der Feststellung: „So arbeiten wir eigentlich nicht miteinander“ – also die Politik und das Medienkorps. Wenn es einen Satz von Hebestreit gibt, der sofort aus sich heraus völlig glaubwürdig wirkt, dann dieser. Die Wortmeldungen von Jung und Hebestreit stammen nicht nur aus der gleichen Sphäre. Sie zeigen auch den wirklichen Strukturwandel der Öffentlichkeit.

Vor zehn, selbst fünf Jahren betonten die meisten Journalisten noch, sie würden sich selbstverständlich zum einen nach dem Informationsinteresse des Publikums richten und zum anderen danach streben, alle relevanten Vorgänge im Land und aus der Welt abzubilden. Idealerweise falle beides sowieso zusammen. Und noch vor einem Jahrzehnt galt es als üblich, dass Reporter impertinente Fragen wenigstens aussprechen konnten, bevor ein Politiker ihnen eine Nichtantwort gab. Vor allem hielt die Branche es für ausgesprochen ungut, von abgesprochenen Fragen zu sprechen, obwohl es so etwas natürlich schon immer gab. Aber es bestand eine Einigkeit darüber, so etwas nicht vor Zuhörern auszubreiten.

Gegen mehr Klarheit spricht natürlich nichts. Und nie lag die Dialektik zwischen dem, was die Öffentlichkeit falscherweise wissen will, und dem, was sie wissen soll und folglich auch bekommt, so deutlich zutage wie in den vergangenen zehn Tagen, als Leser, Zuhörer und Zuschauer nicht nur alles über ein halbes Dutzend junge Ausländer-raus-singende Leute auf Sylt erfahren konnten, sondern auch mussten, falls sie die unter Hochdruck befüllten Medienkanäle nicht von sich aus gemieden hatten.

Im Fall des Anschlags auf den Politiker und Publizisten Michael Stürzenberger und Mitglieder seiner Bewegung durch einen afghanischen Islamisten, der einen Polizisten tötete und fünf Menschen mit dem Messer verletzte, bedienten Medien- und Politikvertreter die Öffentlichkeit nicht ganz so umfassend. Denn hier handelte es sich um exakt die nachrangige und niedere Wissensgier, der Journalisten Republica-Jung zufolge am besten überhaupt nicht nachgeben sollten.

Was sich auf Sylt abspielte, gehört in die Abteilung der Internet-Memes, die sich analog ausbreiten: Schon vor etlichen Monaten verbreitete sich eine Videoaufnahme aus einer ostdeutschen Großraumdisco, die Besucher zeigt, wie sie zu dem Discohit von Gigi D’Agostino „L’Amour Toujours“ „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ grölen. Dass sie das zu dem Döp-dödö-döp-Rhythmus eines Songs tun, dessen Titel immer nur Liebe verspricht, wirkte so grotesk und gleichzeitig als authentische Bestätigung aller Vorstellungen von der Prollprovinz, dass es sich flott verbreitete, ohne dass es für einen einzigen Redakteur der Süddeutschen oder des WDR die Relevanzschwelle überschritten hätte.

Das passierte erst, als Vertreter aus dem Milieu junge Erben im „Pony“ auf Sylt es witzig und noch ein bisschen grotesker fanden, die Ostprolls nachzuspielen, dazu Prosecco zu trinken und sich gegenseitig mit ihren iPhones zu filmen. Natürlich hält das kein zurechnungsfähiger Mensch für einen Intelligenzbeweis. Aber die Döp-Parole fällt nicht unter strafbare Äußerungen nach Paragraf 130 StGB. Und sie stellte so wenig eine Ankündigung dar, wirklich Ausländer zu vertreiben, wie ‚Wir -haben-Platz‘-Transparentaufhänger ernsthaft anbieten, Migranten in ihrer Wohnung einzuquartieren.

Bekanntlich verlief die politisch-mediale Behandlung von Döp-dödö-döp auf Sylt etwas breiter, als es diese schmale faktische Basis nahegelegt hätte. Deshalb hier nur die Auswahl einiger Höhepunkte im Schnelldurchlauf: Nicht nur die Meldung von der „Resurrektion des Führers“ (Botho Strauß) an der Nordsee schaffte es in die Tagesschau, sondern auch die Mitteilung, zwei Personen hätten die gleiche Zeile beim Bergkirchweihfest irgendwo in Süddeutschland gesungen. Der WDR sendete das Video vom Ungeheuerlichen auf Sylt, ohne die Personen zu verpixeln, ein Bundestagsabgeordneter der SPD verschickte das unverpixelte Foto einer Beteiligten unter Nennung ihres Namens.

Dass die betreffenden Leute aus dem „Pony“ im Netz mit Bedrohungen bombardiert wurden (und außerdem noch Leute, die ihnen ähnelten oder ähnlich hießen), dass zwei ihre Arbeit verloren und eine Studentin Hausverbot an ihrer Hochschule bekam, fanden die allermeisten Medienschaffenden, der CDU-Hinterbänkler Armin Laschet und noch ein paar andere Mitglieder des Ankläger-, Richter- und Vollstreckerkommandos nicht nur nicht problematisch, sondern ausdrücklich vorbildhaft für kommende (selbstverständlich gleichgelagerte) Fälle.

Zu dem, was die Nachrichtenkonsumenten ausdrücklich wissen sollten, gehörte auch immer der Hinweis „der Staatsschutz ermittelt“. Kein in die Aburteilung verwickelter Journalist fragte wenigstens der Form halber: weswegen eigentlich? Allenfalls ließe sich eine Anklage wegen Verstoßes gegen Paragraf 86a StGB gegen den einen jungen Mann mit übergeworfenem Pullover herbeibiegen, der seinen Arm ausstreckte und dabei seine Hand auf und ab wackeln ließ, der also einen Nazi spielte.

Aber auch hier gibt es nichts zu ermitteln, sondern nur rechtlich zu bewerten, und diese Aufgabe liegt bei der Staatsanwaltschaft, nicht bei der Polizei. Der WDR begründete sogar schriftlich, warum er etwaige Persönlichkeitsrechte der Döp-dödö-Meute gar nicht erst diskutieren wollte. Bei der Grölerei des halben Dutzend im „Pony“, teilte die Redaktion mit, handle es sich erstens um ein „zeitgeschichtliches Ereignis“; außerdem hätten sich die jungen Leute, die dort mit Aperol Zeitgeschichte schrieben, „in eine zumindest halb-öffentliche Lage gebracht“.

„Zumindest halb-öffentlich“; man sieht, es entstehen völlig neue Rechtsbegriffe, so, dass ein Carl Schmitt der Gegenwart schreiben könnte: Der WDR schützt das Recht.

Der Stern widmete seine Titelgeschichte komplett den „Champagner-Nazis“; die Chance, kurz nach dem Spiegel ebenfalls ein Hakenkreuz auf die Frontseite zu packen, konnte die Redaktion unmöglich verstreichen lassen.

An dem nervösen und gleichzeitig süffisanten Grienen des Stern-Chefredakteurs lässt sich ablesen, dass er selbst nicht eine Sekunde lang an den Blödsinn glaubt, auf Sylt wären echte Nazis erschienen und sein Blatt hätte „alarmierende Zustände in der Gesellschaft“ aufgedeckt. Es stellt noch nicht einmal einen alarmierenden Zustand dar, wenn ein Illustriertenchef die Sylt-Bagage mit dem Satz kurzschließt: „Wir haben uns nach den furchtbaren Verbrechen der Nazizeit darauf geeinigt, dass so etwas nie wieder möglich ist.“ Denn dafür besitzt der mittlerweile an RTL verramschte Titel längst nicht mehr das entsprechende Gewicht.

Die vorerst letzte Auffächerung von ‚Sylt – er ist wieder dö‘ veröffentlichte die Zeitung für Deutschland mit einer Betrachtung zum übergelegten Pullover, für den es jetzt auch keine Unschuldsvermutung mehr gibt.

Screenprint: FAZ

‚Ins IV. Reich mit dem V-Ausschnitt‘ wäre auch keine schlechte Überschrift gewesen, dazu noch ein Fragezeichen, das bildungsbürgerliche Halbironie anzeigt, also die deutsche Entsprechung von half wit, der Konstitution, mit der ein FAZ-Redakteur auch schon mal Israel von der Landkarte wünscht.

Der Sprung von Sylt nach Mannheim wirkt ein bisschen, als hätte sich hier jemand ein überdidaktisches Lehrstück über Doppeldenk, Gehirnkollektivismus und eben das Wissensollen vs. Wissenwollen inszeniert, korrekt in der Aussage, aber heillos übertrieben in seiner Machart. Als künstlerisches Abbild wirkt die Chose also völlig unglaubwürdig, als Realität geht sie gerade so durch. Die Besonderheit des Anschlags von Mannheim mit einem Toten und fünf teils Schwerverletzten liegt darin, dass hier von dem Zeitpunkt Minuten vor dem Angriff bis danach durchgehend eine Kamera mitlief. Wer will, kann alle Einzelheiten aus nächster Nähe betrachten.

Für den WDR, aber auch die Sächsische Zeitung und die meisten anderen Medien versteht es sich von selbst, den Angreifer vollständig zu verpixeln. Der WDR tut sogar noch mehr, er legt eine Blur-Schicht über die Szenerie.

Screenprint: WDR

Wenn ein Islamist zum ersten Mal in der Bundesrepublik einen Politiker zu erstechen versucht und einen Polizisten niedermetzelt, dann handelt es sich nach Ansicht des ARD-Senders um kein zeitgeschichtliches Ereignis, der Täter befindet sich auch nicht in einer selbst hergestellten Semiöffentlichkeit, sondern genießt vollsten Persönlichkeitsschutz.

Überhaupt: Was heißt hier ‚islamistischer Täter‘? Ein herbeigerufener Experte der ARD warnt vor vorschnellen Schlüssen zu dem Motiv des 25-jährigen Afghanen, der mit dem Messer in der Hand auf einen prominenten Gegner des politischen Islam losstürmt. Bei der Tagesschau heißt das unhistorische Ereignis zunächst einmal „Vorfall“, ein Täter kommt nicht vor, auch keine Nennung des Opfers Michael Stürzenberger, obwohl dessen Name von Anfang an feststeht, und jeder auf dem frei verfügbaren Video sieht, dass der Messerschwinger zuerst auf ihn einsticht.

Auch in der Meldung während der Sendung heißt es „Vorfall“, andererseits weiß die Tagesschau-Redaktion sofort, dass es sich bei Stürzenbergers Leuten um eine „islamfeindliche Gruppe“ handelt, die, wie eine Reporterin vor Ort meldet, in Mannheim „vermeintliche Aufklärungsarbeit“ betrieben habe.

Screenprint: ARD Mediathek

Medien und Politikvertreter ziehen an diesem Tag ihre Rahmen synchron und deckungsgleich. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor schreibt auf X: „Stürzenberger ist ein bekannter ‚Islamkritiker‘, der durchaus Abwertendes und Hasserfülltes zum Islam kundtut.“

Abwertendes und von Mitgliedern der Religion als Hass Empfundenes zu verbreiten, fällt generell unter Meinungsfreiheit. Der Staat darf die Religionsausübung nicht einschränken, Bürger dagegen dürfen eine oder auch alle Glaubensrichtungen ablehnen, solange sie nicht zu Gewalt aufrufen. Und ob Stürzenberger tatsächlich den Islam in toto hasste oder ablehnte, dazu gleich mehr.

Von dem ebenfalls grünen Parlamentarier Konstantin von Notz heißt es auf X: „Meine ganze Solidarität gilt dem verletzten Polizeibeamten.“ Also ausdrücklich nicht Stürzenberger und den anderen vier Verletzten.

Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier, der sich vorher zur imaginären Nachfolge der Wannseekonferenz in Potsdam und zu dem Abend im „Pony” geäußert hatte („Die jüngsten Ereignisse, die wir gerade in einem Video aus einer Bar auf der Insel Sylt gesehen und gehört haben, verstärken diese Beunruhigung”), kommentierte den Anschlag von Mannheim aus dem Stehsatz: „Ich habe große Sorge angesichts der Verrohung der politischen Auseinandersetzung und der wachsenden Gewaltbereitschaft in unserem Land.“ Das Attentat des Islamisten Sulaiman A. rückte er damit in den Bereich der politischen Auseinandersetzung. Das Wörtchen „Islamismus” bringt er nicht über seine präsidialen Lippen.

Ein scharfgestelltes Bild für die Öffentlichkeit gibt es erst dann, wenn es um Stürzenberger und seine „Bürgerbewegung Pax Europa“ geht. In diesem Fall gilt kein vielleicht und angeblich, eine ganze Reihe von Verlautbarungsorganen schreibt gleich direkt aus dem Dossier des bayerischen Verfassungsschutzes zur Bürgerbewegung Pax Europa (BPE) ab. Die Notizen des Geheimdienstes zu den „islamfeindlichen Bestrebungen“ Stürzenbergers und seiner Bewegung lesen sich tatsächlich sehr interessant. Naive Zeitgenossen dachten möglicherweise bis jetzt, jeder könnte gegen eine Religion oder Religionen im Allgemeinen agitieren, so etwas fiele unter Meinungsfreiheit, solange es nicht in einen Aufruf zu strafbaren Handlungen mündet.

Der lässt sich bei Stürzenberger aber nirgends finden. Der Nachrichtendienst wirft ihm stattdessen einen „verschwörungstheoretischen Ansatz“ vor, weil Stürzenbergers Bewegung über den „politischen Islam“ behaupte, er arbeite „auf sämtlichen Ebenen in Gesellschaft und Politik daran […], ihrer auf weltliche Machtübernahme angelegten Ideologie zur Verbreitung und zunehmenden Einflussnahme zu verhelfen. Letztendlich mit dem Ziel Deutschland in ein islamisches Land zu verwandeln, in dem die Scharia herrscht.“

In einem Deutschland, in dem ein Verein unbehelligt die Errichtung eines Kalifats in der Bundesrepublik fordern kann, in dem eine Scharia-Befürworterin im Aufsichtsgremium des Hessischen Rundfunks und auch immer wieder in Talkshows sitzt, und in dem alle möglichen Gruppen mit Verbindungen bis hin zu den Muslimbrüdern sogar Geld aus der Schatulle von Lisa Paus’ „Demokratie leben“-Programm abfassen, könnte man fast auf den Gedanken kommen, Stürzenberger liege gar nicht so falsch.

In keinem der Medienbeiträge zu Mannheim kommt eine direkte Aussage Stürzenbergers vor. Es existiert eine Videoaufnahme seiner Bewegung, die ihn ganz zum Beginn der Veranstaltung in Mannheim zeigt. Er spricht in die Kamera und geht an aufgehängten Plakaten vorbei; auf einem steht der Satz, die BPE richte sich gegen den politischen Islam, nicht gegen einzelne Muslime. Das kann jemand natürlich für selbstverharmlosende Propaganda halten. Aber dafür müsste es überhaupt erst einmal gezeigt und erwähnt werden.

Es gibt noch ein anderes Detail, das in keinem Bericht zu Mannheim auftaucht. Und auch sonst so gut wie nirgends. Am 30. Mai fand eine Großkundgebung in der Hauptstadt der Republik statt, in der die Annahme, es gebe so etwas wie ein islamisches Machtstreben, amtlicherseits als Verschwörungstheorie gilt.

Der Betrachter sollte sich bitte nicht von der Szenerie täuschen lassen, es handelt sich nicht um ein Video aus Ramallah oder Sanaa, sondern es spielt auf dem Alexanderplatz in Berlinistan. Was der Redner Ahmad Tamim von der „Generation Islam“ dort vortrug, lässt sich durchaus als konkrete Vernichtungsdrohung gegen alle verstehen, die sich auf die Seite Israels stellen (was Stürzenberger und seine Bewegung seit Jahren tut).

In Mannheim könnten also tatsächlich aus diesen Worten Taten geworden sein. Die Bilder dieser Kundgebung fanden natürlich nicht ihren Weg in die Nachrichten von ARD und ZDF, sie führten nicht zu einem Stern-Titel und zu keinem Satz des besorgten Bundespräsidenten. Und sie erschienen, wie schon erwähnt, bisher in keinem der Mannheim-Berichte. Anders als bei der Sylt-Erschütterung herrscht einfach kein allgemeiner gesellschaftlicher Zustandsalarm in den Redaktionen. Und ohne diese Warnstufe leuchtet nun einmal kein Medienschaffender mit funktionierenden Instinkten allzu tief in den Raum.

Selbst nach der Nachricht vom Tod des Polizisten Rouven L. am Sonntag ändert sich die offizielle Tonlage nicht. Die ARD-Tagesschau fertigte die Nachricht von dem Tod des Polizisten am Sonntag in 27 Sekunden ab. Im ZDF lautet die Meldung: „Messerattacke in Mannheim: Polizist ist tot.“

Screenprint: ZDF

In der Süddeutschen Zeitung schafft es die Redaktion, die Meldung vom Tod des Polizeibeamten ganz rechts unten in der Mitte einer Kurzmeldung auf Seite eins zu verstecken.

Im Blatt selbst befasst sich der Kommentar dann nicht mit Islamismus, sondern mit „Verschwörungsideologen“ und rügt, dass CDU-Chef Friedrich Merz schon von „Terror“ gesprochen habe, obwohl die „Beweggründe“ von Sulaiman A. „unklar“ seien. Schließlich habe die Polizei ihn noch nicht vernehmen können.

Das konnte sie im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri und des 9/11-Planers Mohammed Atta auch nicht. Und überhaupt: Nicht immer liegen die Motive ja so offen zutage wie bei Döp-dö-Mitgrölern auf der Nordseeinsel, die ohne das Eingreifen des politmedialen Korps morgen mit Fackeln durchs Brandenburger Tor oder zumindest mit übergelegten Pullis über die Friedrichstraße in Westerland marschiert wären. Anders als bei dieser Gefahr, die es unumgänglich machte, die ganze Republik nach weiteren Döpern zu durchkämmen, gibt es nach Mannheim auch nicht das geringste Medieninteresse daran, wer den Anschlag auf Stürzenberger beklatscht.

Da gibt es nämlich durchaus einige, weshalb die Parole auch sofort heißen muss: „Kein Generalverdacht“. Und natürlich auch keine Aufklärung im Detail, aus der jemand „seine braune Suppe kochen“ könnte.

Screenprint: Facebook

Am gründlichsten wischt auch hier wieder das Fachorgan Stern den Ereignissen hinterher, nur ein bisschen anders als beim Wissensollen-Sylt. Autorin Kerstin Herrnkind stellt zu Mannheim endlich die Frage, die haltungsdeutsche Journalistenaugen zuverlässig zum Glänzen bringt: „War der Täter womöglich psychisch krank?“ Aber auch falls nicht: „Sollte der 25-jährige Afghane geplant haben, den Islam-Kritiker Michael Stürzenberger und womöglich auch andere Menschen zu töten, ist das unter Umständen die Tat eines Einzeltäters und noch lange kein Terroranschlag.“

Das skrupulöse „unter Umständen“ kann man gar nicht hoch genug würdigen. Falls es fehlen würde, hätten wir es nämlich unter Umständen mit einer Vorverurteilung zu tun, die der Pressekodex selbstredend strikt verbietet. Herrnkind teilt bei der Gelegenheit auch ein anderes wertvolles Wissen mit, das in die Köpfe muss, muss, muss: „Bauarbeiter leben gefährlicher als Polizisten.“

Screenprint: Stern

Wenn nicht sogar gefährlicher als Leute wie Theo van Gogh, die Redaktion von Charlie Hebdo, Salman Rushdie, Stürzenberger und andere. Die meisten Unfälle der Medienbranche ereignen sich übrigens nicht erst beim Schreiben, sondern schon vorher im Oberstübchenhaushalt.

Es gab noch ein kurzes Intermezzo zwischen der Syltgefahr und dem Vorkommnis in Mannheim, das sich noch gar nicht richtig einordnen lässt, solange Sulaiman A. zu seinen Beweggründen schweigt. Eine Gebührenzahlerin hatte auf der Internetseite des Norddeutschen Rundfunks der Redaktion dazu geraten, sich statt um sechs betrunkene Jungerwachsene im „Pony“-Club journalistisch lieber mit Messerangriffen und Gruppenvergewaltigungen zu befassen (letztere gab es 2023 nur in Berlin 111-mal).

Worauf der zuständige NDR-Mitarbeiter ein Gähn-Symbol als Antwort daruntersetzte. Also exakt die grafische Entsprechung des Republica-Mottos von 2024: „Wen schert’s?“ Beziehungsweise: Will da etwa jemand etwas wissen? Und das einfach so, ohne dass die Zuständigen entschieden hätten, dass es auch gewusst werden soll? Diese delegitimierende Einmischung in innere Angelegenheiten von Politik und Medien verdient auch noch gründlichere Beobachtung. Im Grunde entlarven sich Einzelbürger selbst, wenn sie unautorisiert Fragen stellen, statt erst einmal die abgesprochene Antwort abzuwarten.

Das sollte der Bürger wirklich wissen.


Die mobile Version verlassen