In welch schlechtem Zustand sich die Lage der verkrusteten Institutionen Europas befindet, machen die Reaktionen auf Emmanuel Macrons Rede an der Pariser Sorbonne zur Zukunft Europas mehr als deutlich. Auch wenn der smarte französische Präsident überwiegend alten Wein in neuen Schläuchen präsentierte, überschlugen sich die mainstreamigen Kommentatoren der Euro- und EU-Gesundbeter geradezu, vor allem in Deutschland.
Totengräber oder Rettung durch Finanztransfers?
Wer sich von dem Blendwerk gekonnter Inszenierung des Jupiters im Élysée nicht beeindrucken lassen will, steht schnell im Verdacht, ein Feind Europas zu sein. Dabei sind Macrons Töne durchaus vertraut: Schon in seiner Zeit als französischer Finanz- und Wirtschaftsminister unter seinem Vorgänger Hollande forderte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine „Neugründung Europas“:
„Meine Generation muss Europa von Grund auf erneuern. […] Wollen wir die Neugründer Europas sein – oder seine Totengräber? So wie bisher darf es nicht weitergehen. Es genügt nicht mehr, nur in kleinen Schritten voranzukommen – wir müssen das Wesen Europas verändern. […] Und auch von Deutschland verlangt das Tabubrüche: Falls die Mitgliedstaaten wie bisher zu keiner Form von Finanztransfer in der Währungsunion bereit sind, können wir den Euro und die Euro-Zone vergessen.“
Grande Nation statt Zustimmung der Wähler
Seine Forderungen hat Macron nun als französischer Präsident wiederholt – zwar nicht in einer deutschen Tageszeitung, dafür aber in klarer Ansprache an die deutsche Bundesregierung. Während im eigenen Land seine Zustimmungswerte nach 100 Tagen auf minusrekordverdächtige 36 Prozent eingebrochen sind (sein glückloser Vorgänger Hollande brachte es zu diesem Zeitpunkt auf immerhin noch fast 50 Prozent, hatte aber auch in dieser Frist nach meiner Erinnerung keine 26.000 Euro für seine Chef-Visagistin ausgegeben), versucht er mit außen- und europapolitischen symbolbefrachteten Reden die Sehnsucht seiner Landsleute nach einer Renaissance de la Grande Nation zu befriedigen.
Bundeswehr Teil der Fremdenlegion 2.0?
Macron will auf dem Verhandlungstisch Brotkrumen gegen Goldkörner eintauschen. Die Ankündigung, die nationalen Streitkräfte für alle Europäer zu öffnen, erinnert an eine Fremdenlegion 2.0. Ich zweifele keinen Moment daran, dass die Art und Weise, wie Hollande im Januar 2013 den Militäreinsatz in Mali im Stile der postkolonialen französischen Tradition in Afrika entschieden und durchgeführt hat, sich beim neuen Präsidenten in vergleichbarer Form wiederholen würde. Nach dem Schaffen von faits accomplis die EU aufzufordern, sich an der einseitig beschlossenen Intervention zu beteiligen, zeugt von tiefem Misstrauen in die Fähigkeit der europäischen Institutionen, sich in hinreichender Geschwindigkeit auf geeignete Maßnahmen robuster Art zu einigen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: das Vorgehen gegen den barbarischen Ableger des IS in Mali war meines Erachtens erforderlich und dringlich. Jetzt aber so zu tun, als ob es zukünftig anders wäre, halte ich für unehrlich. Lord Dahrendorf hat schon 1995 in einem ausführlichen Interview zu Aussichten gemeinsamer europäischer Außenpolitik in bemerkenswerter Klarheit formuliert:
„Wir müssen uns hüten, Schimären nachzujagen. Eine gemeinsame Außenpolitik, die alle Interessenbereiche einzubeziehen versucht, ist abwegig. Wenn Deutschland sich wiedervereinigen will, vereinigt es sich. Wenn England einen Falkland-Krieg führen will, führt es einen Falkland-Krieg. Wenn Frankreich Atomtests machen will, macht es Atomtests. Keine Mehrheitsabstimmung im Europäischen Rat wird diese Staaten daran hindern, etwas zu tun, was sie als nationales Interesse begreifen.“
Darum bleibt Macron auch bei Überschriften, im Symbolischen. Paris könnte seine feste Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat für einen gesamteuropäischen Stuhl hergeben, aber dazu kein Wort. Auch bei der Aufnahme von Immigranten hält sich Frankreich bedeckt. Für die nächsten zwei Jahre stellt Macron die Aufnahme von je 5.000 (in Worten: fünftausend) „Flüchtlingen” in Aussicht, während in Jamaika-Deutschland darüber gestritten wird, ob eine Obergrenze überhaupt möglich und bei 200.000 pro Jahr nicht zu niedrig sei.
5.000 statt 200.000 – die Flüchtlingspolitik Macrons
Macron singt den alten sozialistischen Chanson von mehr Zentralismus und mehr Vereinheitlichung. Das eigentliche Erfolgsmodell lautet hingegen Eigenverantwortung. Die Europäische Union ist nur so stark wie ihre Mitgliedstaaten. Es bringt niemandem etwas, wenn alle gleich schlecht sind. Genau darauf würde es nämlich mit gemeinsamen Steuern, einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung und gemeinsamen Haushalten hinauslaufen: Wenn alle gemeinsam bezahlen, wird die Rechnung am Ende teurer, weil jeder Angst hat, übervorteilt zu werden. Bei der gemeinsamen Arbeitslosenversicherung ist es für Jedermann sehr leicht zu überprüfen: Man schaue sich nur die Arbeitslosenquoten in Europa an und schon weiß man, wer bei Vergemeinschaftung für wen zahlt (harmonisierte Arbeitslosenquote im EU-Schnitt 7,6 %, Deutschland 3,6 %, Frankreich 9,8 %).
In der Zusammensetzung des heutigen EU-Parlaments wiegt die Stimme eines luxemburgischen Wählers mehr als zehnmal, die eines maltesischen Wählers gar mehr als zwölfmal so viel wie die eines deutschen. Kein Wunder also, dass der sozialistische luxemburgische Außenminister Jean Asselborn ein schnelles Voranschreiten nach den Vorstellungen Macrons einfordert, sichert es doch dem Großherzogtum einen Einfluss, der deutlich über dem der nach Einwohnerzahl vergleichbaren Städte Dortmund, Essen oder Leipzig oder auch Glasgow, Breslau, Palermo und Saragossa liegt. Dass die von Macron vorgeschlagene Verteilung der im EU-Parlament durch den Austritt des Vereinigten Königreiches frei werdenden Sitze auf europäische Listen diesen Missstand beheben oder auch nur abmildern könnten, glaubt wohl niemand.
„Euro-Rettung“ als Einstiegsdroge
Eine Koalition von EU-Bürokraten und Weichwährungsländern erhöht den Druck auf die stabilitätsorientierten Staaten in der Europäischen Union. Aber das ist im Grunde genommen nicht neu. Es war schon immer so. Neu ist seit einigen Jahren, dass dies alles in Deutschland auf zunehmend fruchtbaren Boden fällt. Nach mehr als acht Jahren rhetorischer Weichspülübungen zur Rechtfertigung der von der deutschen classe politique geduldeten und zum Teil gar aktiv betriebenen Rechtsverletzungen im Zuge der „Eurorettung“ (in meinem Buch „Von Rettern und Rebellen“, erschienen im Finanzbuchverlag, habe ich diesen Prozess akribisch aus der Binnensicht eines Mitgliedes im zuständigen Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nachgezeichnet), erscheint den Superintegrationisten die Bastion sturmreif geschossen.
Jetzt heißt es hart bleiben. Macrons Vorschläge sollten entweder galant ignoriert oder scharf zurückgewiesen werden. Wir dürfen unsere eigenen nationalen Interessen nicht Stück für Stück preisgeben. Macron & Co. drohen derweil eine historische Chance zu verpassen. Gerade der charismatische französische Präsident mit seiner ansehnlichen Mehrheit in der assemblé hätte die Möglichkeit, sein Land wirtschaftlich, fiskalisch und politisch entschlossen zu reformieren und damit in die Spitzengruppe der EU-Staaten zu führen. Indem er auf mehr institutionelles Europa, mehr Zentralismus und mehr Bürokratie setzt, kann er vielleicht von den massiven Probleme in seinem Land ablenken, so ändert er sie aber nicht. Und vor der Geschichte könnte er damit am Ende selbst unter den Totengräbern Europas vermerkt werden.