Es ist ja nicht so, dass die Deutschen nur darauf warten, dass Friedrich Merz Kanzler wird. So ähnlich hat SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert nach der krachenden Niederlage seiner Sozialdemokraten bei den EU-Wahlen die Forderung nach Neuwahlen für den Bundestag kommentiert.
Natürlich gehört so eine despektierliche Äußerung über den Spitzenmann der Gegenseite zur Standardausrüstung, die jeder Berufspolitiker im Besteckkasten haben muss – erst recht, wenn in seiner Jobbeschreibung „Wadenbeißer“ steht.
Das Problem für die Union ist nur: Kühnert hat Recht
Ziemlich übereinstimmend haben die Wahlforscher eben gerade erst ermittelt, dass 42 Prozent der Wähler weder Olaf Scholz noch Friedrich Merz als Kanzler haben wollen. Und wenn es doch einer von beiden sein müsste, dann führt weiter der Amtsinhaber Scholz (mit 30 Prozent) vor dem Oppositionschef Merz (28 Prozent).
Angesichts seiner überschaubaren persönlichen Beliebtheit ist es für den CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz umso wichtiger, glaubwürdige Machtoptionen zu entwickeln und zu präsentieren. Die braucht er – der selbst nie Regierungschef eines Bundeslandes war – schon mal innerparteilich: um sich als Kanzlerkandidat gegen seine Gegner Hendrik Wüst (Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen), Markus Söder (Ministerpräsident von Bayern) und Daniel Günther (Ministerpräsident von Schleswig-Holstein) durchzusetzen.
Als Kanzlerkandidat wird er sie dann noch mehr brauchen. Denn seit über 50 Jahren ist es eine gesicherte Erkenntnis der Demoskopen, dass die Leute weit überwiegend nicht FÜR etwas wählen, sondern GEGEN etwas. Heißt: Nicht die Opposition wird gewählt, sondern die Regierung wird abgewählt.
Was man braucht, um gewählt zu werden
Dafür braucht es erstens eine Wechselstimmung. Die ist in Deutschland eindeutig da: Die Leute haben die Nase voll von der Ampel. Zweitens braucht es eine alternative Machtoption, die die Bürger für zumindest halbwegs realistisch halten. Für die allermeisten Wähler ist der Stichwert ihrer Stimme entscheidend – und nicht zu vergessen: Menschen wollen gerne bei den Siegern sein.
Bei der nächsten Bundestagswahl muss Friedrich Merz – wenn er sich denn innerparteilich als Kanzlerkandidat durchsetzen kann – also eine glaubwürdige Regierungsalternative zur Ampel auf den Tisch legen. Sowohl inhaltlich als auch arithmetisch wären da auch mehrere Möglichkeiten gegeben.
Das Problem ist nur: Merz leidet an der sogenannten Ausschließeritis. Der CDU-Chef lehnt die Zusammenarbeit mit theoretisch denkbaren Partnern schon jetzt ab – also lange, bevor überhaupt gewählt wurde und eine Regierungsbildung ansteht.
Zunächst schloss Merz eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch aus. Das ist schon mathematisch bemerkenswert, denn nach allen aktuellen Umfragen dürfte eine Koalition von Union und AfD im kommenden Bundestag das einzige mögliche Zweier-Bündnis sein. Wenn Merz das schon jetzt ausschließt, strebt er erstens zwangsläufig eine (absehbar komplizierte) Viel-Parteien-Koalition an. Außerdem kündigt er durch das Nein zur AfD aussagenlogisch automatisch an, dass er künftig mit mindestens zwei der jetzigen Ampel-Parteien eine Regierung bilden will.
Wer CDU wählt, bekommt also trotzdem wieder einen Teil der Ampel. Das ist, bei allem Respekt, ziemlich blöde.
Was Merz sich denkt
Man kann nur mutmaßen, weshalb Friedrich Merz das tut. Die simpelste Erklärung wäre, dass er strategisch einfach unbegabt ist. Dafür würden mehrere seiner jüngsten Schachzüge sprechen, die sich ernüchternd oft als Rohrkrepierer erwiesen haben. Wenn man den Mann nun aber nicht für komplett minderbemittelt hält, dann gäbe es auch noch zwei andere Erklärungen.
Einerseits kann er daran denken, dass er ja nicht nur Kanzler werden, sondern möglichst auch bleiben will. Dafür müsste das Regierungsbündnis, das er schmiedet, natürlich möglichst lange halten. Wie verlässlich die AfD als Partner wäre, ist völlig offen. Völlig unabhängig von ihren Inhalten zeigen die Blauen ja durchaus eine gewisse Neigung zur kunst- und vor allem geräuschvollen Selbstdemontage. Das könnte dem – nicht eben als Kriegsheld bekannten – Merz schlicht zu heiß sein: Dann doch lieber mit SPD und Grünen oder zur Not auch noch der FDP (wenn die nicht an Stimmenmangel verhungert).
Andererseits kann der eigenartige Kurs von Friedrich Merz auch der fragilen innerparteilichen Lage des CDU-Vorsitzenden geschuldet sein: umringt von Nattern, die ihm die Kanzlerkandidatur streitig machen wollen (siehe oben) – und mindestens teilweise abhängig von einem mit zahllosen Merkelianern durchsetzten Funktionärsapparat. Es ist nun wirklich keinerlei politische Fantasie notwendig, um zu sehen, dass Merz zum Beispiel für eine Koalitionsaussage zugunsten der AfD in seinem Laden derzeit schlicht keine Mehrheit hätte.
Die CDU ist nach 16 Kanzlerjahren von Angela Merkel halt eine Avocado-Partei: außen schwarz, innen grün.
Schwächen der Merz-Methode
Doch egal, ob sein Mäandern in der Machtfrage nun innerlich gewollt ist oder von außen erzwungen: Die politische Rechnung, die Friedrich Merz offenbar aufmacht, kann nicht aufgehen.
Denn dieser ständige Flirt mit den Grünen – oder zuletzt auch mit der SPD – treibt der AfD kontinuierlich Wähler zu. Um grün-linke Politik zu verhindern, gibt es halt schon sehr lange keine andere Partei, der man die Stimme geben und damit das woke Kartell wirklich ärgern kann. 16 Jahre lang konnte man wählen, was man wollte – man bekam immer die De-facto-Grüne Merkel. Die AfD ist überhaupt nur als Anti-Merkel-Impuls zu verstehen.
Jetzt will Merz mit Gewalt Kanzler werden – und schmeißt sich auch an die Grünen ran. Wie anders soll jemand zeigen, dass er diese Politik nicht will, als mit einem Kreuz bei der AfD? Klar, man kann gar nicht wählen – und seine Stimme völlig verfallen lassen. Alles andere geht nicht: SPD, Grüne und FDP gehören sowieso zum Kartell. Die Linkspartei auch, sie wird nur nicht gebraucht. Und die Freien Wähler waren in der Corona-Zeit voll auf Söder-Linie.
Wegen der Ausschließeritis von Friedrich Merz fällt auch die Union als Anti-Ampel-Alternative aus. Da bleibt nur noch die AfD als einzige Anti-Establishment-Partei – bisher. In der Rolle kriegt sie jetzt neue Konkurrenz vom „Bündnis Sahra Wagenknecht“ BSW. Es ist kein Zufall, dass bei der EU-Wahl 560.000 Wähler von der SPD zur AfD abgewandert sind – aber sogar 570.000 Wähler von der SPD zum BSW.
Wie auf Bestellung reagiert der CDU-Chef nach altbekanntem Muster: Er schließt eine Koalition mit dem BSW – auch als potenzielles Gegengewicht zu möglichen Mehrheiten der AfD bei den im Herbst anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen – kategorisch aus:
„Das ist völlig klar. Das haben wir auch immer gesagt: Wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen.“
Für Wagenknecht gelte beides: „Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem“, sagt Merz. Er positioniert damit einerseits seine eigene CDU als festen Teil des Parteien-Establishments – und andererseits Sahra Wagenknecht als Alternative zu diesem Establishment. Und wie zuvor zur AfD, dürfte das auch jetzt zum BSW eher Wähler hintreiben.
Könnte das Absicht sein? Halten wir Friedrich Merz für so durchtrieben, dass er genau das will, um die SPD zu schwächen? So oder so bringt er sich dadurch selbst in Schwierigkeiten, wenn man die jüngsten Umfragen für die Landtagswahlen im Osten zugrunde legt.
Der Osten tickt anders
In Brandenburg müsste die CDU mit der SPD, den Grünen und der Linken zusammen eine Koalition bilden. Das wäre das einzig rechnerisch mögliche Regierungsbündnis ohne AfD und ohne BSW. Man stellt sich das kurz vor und denkt sich: gute Reise auch. In Sachsen und Thüringen ist eine Regierungsbildung ohne AfD und ohne BSW überhaupt nur denkbar, wenn die Grünen ins Parlament einziehen – was keineswegs sicher ist.
Entsprechend bröckeln in der Ost-CDU die von Merz ausgerufenen Brandmauern nach rechts und nach links. Lokale Zusammenarbeit mit der AfD lassen sich östliche Christdemokraten ja schon länger nicht mehr verbieten.
Die im Westen noch weit verbreitete Bekenntnisfolklore hat im Osten ihren Reiz verloren (wenn sie dort je einen hatte).
Thüringens CDU-Chef Mario Voigt interpretiert die Ansage seines Bundesparteivorsitzenden denn auch so, dass sie nur für die Bundesebene gilt. Er will Koalitionen mit Sahra Wagenknecht auf Landesebene ausdrücklich nicht ausschließen. Voigt hat sich halt die Umfragen genau angeschaut: Ohne AfD und ohne BSW kann er in seinem Bundesland niemals Ministerpräsident werden.
In Thüringen zeigt sich noch eine ganz andere Gefahr der derzeitigen Merz-Strategie: Die Grünen stehen dort auf der Kippe, bei genau fünf Prozent. Falls sie bei den Landtagswahlen im September aus dem Parlament fliegen, hätten AfD und BSW zusammen eine eigene Mehrheit (in Sachsen ist das genauso).
Das scheint auf den ersten Blick undenkbar. Bei näherem Hinsehen ist das aber gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Die inhaltlichen Schnittmengen der beiden Parteien sind viel größer, als man ahnen würde. Und sie haben auch keine Scheu zusammenzuarbeiten:
Zwei Fraktionen bzw. Gruppen boykottierten am Dienstag einträchtig und gemeinsam aus Protest die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag. Es waren die Abgeordneten der AfD und des BSW.