Nichts ahnend und immer wieder auf die politischen Ereignisse rund um die Pandemie blickend explodierte heute der Sportblätterwald mit der Nachricht, Joachim Löw würde nach der EURO 2020, die erst in diesem Sommer in zwölf europäischen Städten stattfindet, zurücktreten. Nach einem kurzen Blick auf die zurückliegenden Wochen, Monate und auch Jahre muss ich zahlreichen Experten beipflichten, dass der Entscheid des Südbadeners zu diesem Zeitpunkt zwar völlig überraschend, aber Löw-like zum richtigen Zeitpunkt geschah. Somit können sich sowohl der Verband als auch die Spieler nicht mehr hinter möglichen folgenschweren Entscheidungen von Löw verstecken. Außerdem kann Löw nun entspannt auf die nächsten drei Länderspiele Ende März gegen Island, Rumänien und Nordmazedonien blicken. Der Entscheid des 61-Jährigen hört sich auf Distanz an wie ein “endlich bin ich frei und die Katze ist aus dem Sack”.
Mit Verwunderung hatten schon vor knapp zwei Wochen zahlreiche Journalisten und auch die breite Öffentlichkeit festgestellt, dass Joachim Löw mit sich in Klausur gegangen ist. Zwar war er immer wieder in diversen Stadien zu sehen, doch waren es Begegnungen auf Distanz. Im Interview mit dem Fachmagazin Kicker beendete Löw aber dann sein Schweigen und ließ verlauten, dass die Türe für die 2019 aus dem Team verbannten Mats Hummels, Thomas Müller und Jérôme Boateng für die EURO 2020 wieder offen sei – und sprach auch offen über seine Fehler. Schon damals, also vor zwei Wochen, hatte Löw sich entschieden, nach dem Megaevent im Sommer 2021 aufzuhören. Wer den dienstältestesten Nationaltrainer der Welt kennt, weiß, dass solche Entscheidungen niemals getroffen worden wären, wenn er auch nach dem Turnier im Sommer weitergemacht hätte.
Löw macht auch den Weg frei für Spekulationen auf seine Nachfolge. Jürgen Klopp hat aus dem fernen Liverpool schon abgewunken. Hansi Flick wird vom FC Bayern München wohl nicht freigegeben. Sportdirektor Oliver Bierhoff ist nun gefragt und hat immerhin bis Sommer Zeit, jemanden zu finden. Löw macht aber auch den Weg frei für die Nationalspieler. Er hat auf jeden Fall nichts mehr zu verlieren, wenn er sich dem monatelangen Druck der Öffentlichkeit beugt und für die EURO Hummels, Müller und Boateng zurückholt und anderen jungen Spielern endlich die Freiheiten gibt, die sie für ihre Entwicklung brauchen.
Der 9. März 2021 wird in die Geschichte des deutschen Fußballs eingehen, weil Joachim Löw der erste Nationaltrainer ist, der mit seiner eigenen Entscheidung Fehler eingestanden hat, den Weg frei macht für die Zukunft des deutschen Fußballs und sowohl dem DFB als auch der Mannschaft keine Alibis mehr gibt. Löw hat vielleicht die schwierigste Aufgabe aller Nationaltrainer mit Bravour bewältigt, obwohl in seiner Ära „nur“ ein WM-Titel 2014 zu Buche steht. Er war seit 2006 das Gesicht des deutschen Fußballs. Er war ein Gentleman und er war ein intelligenter Zuhörer und Meinungsmacher.
Der DFB kann sich nun nicht mehr hinter den breiten Schultern eines scheidenden Nationaltrainers verstecken. Gerade jetzt sollte der Verband über die Bücher gehen und sich hinterfragen, welchen Weg er in der Zukunft einschlagen will. Im Nachwuchs tut sich seit Jahren ein großes Loch auf. Das Niveau in den Nachwuchsleistungszentren ist überschaubar. Vielleicht braucht es hier einen Mann, der nicht nur als Gentleman und Taktiker an der Seitenlinie der A-Nationalmannschaft steht, sondern einen Trainer und Manager mit Erfahrung, Weitblick und Visionen. Auf den ersten Blick fallen mir hier nicht die Namen Jürgen Klopp oder Hansi Flick ein, aber vielleicht Ralf Rangnick.