Seit Montag spricht die gesamte Republik über die Wölblinstraße im badischen Lörrach. Freilich: Als Luxusappartements kann man die Hausnummern 21 bis 29 kaum bezeichnen. Die städtische Wohnungsgesellschaft, die sie unterhält, gibt das ganz offen zu. Die Häuser aus den 1950er Jahren sollen bald dem Abriss weichen. Neue Häuser sollen dort entstehen. Aber erst, nachdem die alten Mieter ausgezogen und ukrainische Flüchtlinge eingezogen sind. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisierte die Wohnbau Lörrach deshalb: Wie kann es sein, dass Wohnungen im schlechten Zustand, die bald abgerissen werden sollen, Flüchtlingen noch zugemutet werden?
Lutz geht davon aus, dass „förmliche Kündigungen gar nicht nötig“ seien. Es gebe schließlich Angebote für die Mieter. Und rausgeschmissen würde keiner, wenn er partout bleiben wolle; die Flüchtlinge würden aber dennoch einquartiert. Thomas Nostadt, Geschäftsführer der Wohnbau Lörrach, theoretisierte über den Aufschrei im Internet, was passiert wäre, hätten im umgekehrten Fall die Flüchtlinge neue Wohnungen bekommen und wären die Mieter in ihren Häusern verblieben.
Die Politik ist darum bemüht, den Eindruck abzumildern, sozial schwache Mieter müssten Flüchtlingen weichen. Die neue Normalität sieht so aus, dass Kündigungen und Umzüge gangbares Risiko sind. Man soll sich nicht so anstellen.
Der Duktus spiegelt sich auch in den Medien wieder. Nicht der verordnete Auszug, sondern die öffentliche Reaktion darauf ist das Problem. Matthias Zeller im SWR schreibt, er könne es verstehen, dass die Mieter sich darüber ärgerten, aus ihrer Wohnung ausziehen zu müssen. Denn es bestehe „natürlich die Sorge“, ob sie wirklich eine bessere und bezahlbare Wohnung erhielten. Danach folgt der Schwenk: Die Wohnbau Lörrach hätte einen glänzenden Ruf, die Mieter würden politisch instrumentalisiert, ob von Hasskommentaren im Netz oder von der AfD.
Bereits am Montag hatten einige Medien diesen Ton zur Einordnung der Lörrach-Geschichte gefunden. Trolle und Hasskommentare aus dem „rechten Spektrum“ hätten die Angelegenheit angeheizt. Schlagzeilen suggerieren, dass es sich um eine aufgeblasene Causa handele. Denn schließlich bekämen die Mieter neue Wohnungen. Doch wer hat ernsthaft suggeriert, dass die Mieter auf der Straße landeten? Reicht ein von oben verordneter Umzug als Eingriff in die Lebensplanung nicht mehr aus?
Im SWR erklärt Martin Rupps, man solle den „Ball flach halten“. Mieter einer städtischen Wohngesellschaft zahlten weniger als auf dem freien Markt. Dass die Gesellschaft sie aus triftigen Gründen umziehen lassen kann, sei seit Beginn des Mietverhältnisses klar. „Mir wäre mit Ukrainern unter einem Dach wohler als mit vielen Deutschen – entgegen der Vorurteile, die gern in den sozialen Medien verbreitet werden“, bekennt der ehrenamtliche Flüchtlingshelfer. „Aber weshalb sollte jemand sein gemütliches Weltbild von so viel Wirklichkeit erschüttern lassen?“
Die Mieter sind nun nicht Opfer einer verpatzten Politik, sondern von ihren Vorurteilen und Ängsten Verblendete, die sich nicht wundern sollen, wenn sie sich in das Vabanque-Spiel städtische Wohngesellschaft begeben. Zwar hat der Mieterbund darauf hingewiesen, dass der Einzug von Flüchtlingen kein triftiger Grund zur Kündigung des Mietverhältnisses sei. Doch das hindert einige nicht daran, nunmehr auf Empörung die Verharmlosung folgen zu lassen.
Zeller vom SWR behauptet, dass die Kritiker in vielen Fällen gar nicht an den Mietern interessiert seien. Dabei stellt der SWR selbst einige Meinungsäußerungen der Mieter in die Öffentlichkeit, die Zweifel am Narrativ aufkommen lassen, den Mietern ginge es nach dem Umzug viel besser und der Einschnitt sei kein Problem für sie. Es ist „in“, auf das Unrecht in den Braunkohlegebieten des Rheinlandes hinzuweisen, wo Menschen in neue Wohnungen umgesiedelt werden, um im Revier Kohle abzubrechen. Vertreter desselben Milieus verstehen nicht, warum es ein Problem ist, die Menschen in der Wölblinstraße zum Umzug aufzufordern. Hieß es nicht einmal: Niemand verlässt gerne seine Heimat?
Der Fall bietet genügend Stoff für ein Drama. Der Focus hat wie der SWR die Betroffenen befragt. Da ist der 80-jährige Rentner, der seit 15 Jahren in der Wohnung lebt. Seine Frau liegt im Wachkomma in einer Pflegeeinrichtung. Umziehen, „was machen“, will er in diesem Alter nicht mehr. Eine höhere Miete könnte er sich nicht leisten. Er sei „stinksauer“. Eine Nachbarin ist Pflegekraft, ihre Arbeitsstelle fußläufig entfernt. Sie hatte Arbeitsstelle und Ort extra gewechselt, um näher bei ihrer Familie zu wohnen. Das Angebot der Wohnungsgesellschaft, in einen Nachbarort umzuziehen, ist für sie wenig sinnvoll: „Ich arbeite im Dreischichtbetrieb und am Wochenende, da fährt aber nichts“, zitiert sie der Focus.
„Wir haben wirklich recht gute Erfahrungen mit solchen Projekten, wo man Mieterinnen und Mieter umsiedelt“, sagt Lutz. Aber wie passen solche Äußerungen mit der oben dargestellten Lebensrealität zusammen? Die Entscheidungsträger projizieren den eigenen ökologisch-hippen und von Mobilität gezeichneten Lebensstil von Bio-Food und Lastenrad auf ein Milieu, das ganz andere Bedürfnisse und Rahmenbedingungen hat. Und zuletzt funktioniert das „Framing“ nur, weil Flüchtlinge und Einheimische auf eine Stufe gestellt werden. Ihre Ansprüche sind mindestens gleichwertig.
Aber besteht tatsächlich kein qualitativer Unterschied zwischen Rentnern, die jahrelang Steuern und Kassenbeiträge gezahlt haben, und Zugezogenen, die dies nicht getan haben? Ganz ab von Diskursen über Identität und Verantwortung stellt sich die größere Frage, wie ein Staatswesen überleben will, das angesichts wachsenden globalen Migrationsdrucks jedem dieselben Privilegien gestatten möchte, während die autochthone produzierende Schicht schrumpft und verarmt. Irgendwann wird auch die letzte 50er-Jahre-Wohnung in Baden-Württemberg vergeben sein. Und dann?
Lörrach ist demnach auch ein Stück Erbe der Merkeljahre, die den Missstand verwalteten und die Lösung immer wieder auf die Zukunft verschoben haben. Die Aufnahme von Migranten aus der ganzen Welt hat Deutschland über Jahre in Anspruch genommen. Einen Plan dafür, wie es nach zehn Jahren weitergeht, hat es nie gegeben. Solange Europa friedlich und Geld genug da war, konnte man diese Probleme verschieben.
Mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine, Inflation, Energiekrise und Preissteigerung kommt es jedoch zu jenen unschönen Verteilungskämpfen, die sich bereits vor Jahren angedeutet haben. Jetzt, da sie da sind, warnen Politik und Medien davor, dass Mieter und Flüchtlinge zu Spielbällen würden und gegeneinander ausgespielt würden. Doch den Austausch von Mietern durch Flüchtlinge haben weder die AfD noch Hasskommentare im Internet ausgelöst. Der Brief, der den Stein ins Rollen brachte, wurde auch nicht aus dem Kontext gerissen.
In Lörrach kulminiert vielmehr eine seit Jahren destruktive Außen-, Sicherheits- und Migrationspolitik. Die Ursachen liegen nicht in der badischen Provinz, sondern in der Hauptstadt Berlin. Eine weitsichtigere Politik, die Deutschlands Flüchtlingskapazitäten nicht auf Jahre erschöpft hätte, hätte auch nicht dazu geführt, dass es nun jene „unschönen Bilder“ gibt, die man lange vermeiden wollte.
Das sind vielleicht Wunschvorstellungen. Aber Wunschvorstellungen haben erst dazu geführt, dass das Schicksal von 40 Einwohnern in einer Lörracher Straße im Zentrum einer Berichterstattung steht, die nun auch noch erklären will, warum erzwungener Auszug das neue, bessere Deutschland sein soll, auf das man sich 2015 so sehr freute. Lörrach steht am Ende einer langen, komplexen Kausalkette. Und Lörrach wird sich jederzeit wiederholen, wenn Politik und Medien mehr um das eigene Image bemüht sind, statt in der Migrations- und Wohnungspolitik die überfällige Wende einzuleiten. Nicht Hasskommentare, sondern politische und mediale Manöver dieser Art machen die AfD groß.