Eines der besten Bücher, die ich 2017 gelesen habe, war Markus Vahlefelds Mal eben kurz die Welt retten – Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. In seiner Analyse des deutschen Komplexes kommt Vahlefeld zu dem Schluss, dass es nur in Deutschland einen flächedeckenden Nazikompensationskomplex [gibt], der so tief in die Volksseele eingedrungen ist, dass er sich problemlos instrumentalisierend als Rechtfertigung für jeden Sonderweg und jeden demokratischen Abusus ins Feld führen lässt. Wer sich auf der Seite des Guten und Gerechten glaubt, darf für sich die Deutungshoheit beanspruchen und bekommt dafür in den Medien Tür und Tor geöffnet. Mittlerweile entschuldigen sich damit auch Rechtsverdrehungen und sogar Rechtsbrüche. Normalerweise bleibt der Aktionsraum, in dem sich dies abspielt, innerhalb der Landesgrenzen und wird dadurch im Ausland nur am Rande bemerkt.
Eine Städtepartnerschaft
Anfang November schwappte das deutsche Sendungsbewusstsein allerdings über den nationalen Rand, und zwar direkt aus dem südbadischen Konstanz in das nahe Mailand gelegene lombardische Städtchen Lodi. In der Musik ist Lodi berühmt durch das sogenannte “Lodi-Quartett”, das der 14- jährige Mozart dort in einer Nacht komponierte. Konstanz und Lodi sind seit 1986 durch eine Städtepartnerschaft verbunden. Eine der Fähren, die den Bodensee überqueren, trägt den Namen Lodi. Wie es in einer solchen normalerweise harmlosen Beziehung zweier mittlerer Städte zu Verstimmungen kommen kann, lässt sich nicht unmittelbar einsehen.
Das Zerwürfnis
Aber just das ist geschehen. Der Grund ist, dass die Stadt Konstanz – zusammen mit ihrer französischen Partnerstadt Fontainebleau – der Bürgermeisterin von Lodi, Sara Casanova, einen Brief geschrieben hat, in welchem sie, wie es in einer Mitteilung zu dem Vorfall heißt, zur Rücknahme einer Regelung auffordert, die Kinder aus Flüchtlingsfamilien faktisch von öffentlichen Schulleistungen ausschließt. Konkret geht es darum, dass sich die Stadt Lodi die Entscheidung vorbehält, welchen Nicht-EU-Bürgern Ermäßigungen bei der Schulspeisung, der Nutzung des Schulbusses etc. zustehen und welchen nicht.
Einen Unterschied zu machen zwischen italienischen Bürgern und Bürgern, die nicht der EU angehören, war aber offenbar zu viel für die Partnerstadt Konstanz. Leicht ersichtlich von der Tatsache inspiriert, dass Bürgermeisterin Casanova Mitglied der in Deutschland offiziell verhassten und als rechtsradikal bezeichneten Lega ist, war in dem Schreiben die Rede von der Umsetzung eines xenophobischen und diskriminierenden politischen Programms, welches sich ohne Gnade gegen Kinder zeige und an die dunkelsten Stunden unserer Geschichte erinnere.
Wie in der linken Konstanzer Zeitschrift “Seemoz” nachzulesen ist, wird die Linke Liste Konstanz (LLK) – die offensichtliche Triebfeder hinter der Briefaktion – noch deutlicher. Man liest dort: „Im Stil rechter Hetzjagden wird den Familien mit Wurzeln im Ausland unterstellt, sie hätten außerhalb Italiens Staatsgrenzen Vermögen gehortet, aus denen sie jederzeit genügend Geld aufbringen könnten, um den Höchstsatz der nach Einkommen gestaffelten Essenspreise zu zahlen“, kritisiert LLK-Stadträtin Anke Schwede die Politik der rechten Hardliner. Das seien Praktiken, die an Apartheidpolitik erinnerten; die betroffenen Kinder müssten „nicht nur über Mittag hungern, sie werden damit aus ihren Freundeskreisen ausgeschlossen und zu Schüler*innen zweiter Klasse degradiert”, so Schwede weiter. Lodi wird eine menschenverachtende Politik unterstellt. Die Grundlage für eine dauerhafte Städtepartnerschaft sei dadurch aufgekündigt.
Starker Tobak! Die Wortwahl kommt einem bekannt vor. Gemessen an dem, was in Lodi wirklich vorgefallen sein mag, handelt es bei den Prädikaten xenophob, rassistisch, dunkelste Stunden, rechte Hetzjagden oder menschenverachtend um maßlosen Übertreibungen, zu denen man sich offenbar berechtigt sieht, wenn es gegen die derzeitige italienische Politik und demnach gegen „Rechtsradikale” geht.
Die Reaktion aus Lodi blieb nicht aus. Konfrontiert mit Rassismusvorwürfen und sonstigen wilden Anschuldigungen erwägt Bürgermeisterin Casanova die Aufkündigung der Partnerschaft. Mit den Worten Noi non accettiamo lezioni dai Galli o dagli Unni (Wir akzeptieren keine Lehren von den Galliern oder von den Hunnen) schlägt der Stadtrat von Lodi, Stefano Buzzi, dem Gemeinderat einen Antrag auf Aufhebung der Städtepartnerschaften zwischen Lodi und Konstanz bzw. Fontainebleau vor.
Wie man einem Artikel von Fausta Chiesa im Corriere della Sera vom 18. Oktober 2018 entnehmen kann, steht Lodi mit seinen Maßnahmen in Italien keineswegs isoliert. Die Aufregung aus Konstanz sollte sich demnach gegen viele Kommunen in Italien richten, und vielleicht sollten sich diejenigen, die die Städtepartnerschaft auflösen wollen, am besten gleich auch von ihren nächsten Italienurlauben distanzieren.
Die Grenzüberschreitung
Was auch immer die Hintergründe der Vorgänge in Lodi sind, der wesentliche Punkt in dem Antwortschreiben aus Lodi erscheint mir die folgende Erwiderung von Frau Casanova: Non credo che il Comune di Lodi si sia mai intromesso nelle scelte delle città gemellate (Ich glaube nicht, dass sich die Gemeinde von Lodi jemals in die Entscheidungen der Partnerstädte eingemischt hat.) Diese Feststellung trifft den Kern. Nie hat man in Konstanz von einer Maßregelung aus Lodi gehört. Man stelle sich vor, es käme ein Brief aus Lodi, in dem Konstanz wegen seiner liberalen Migrations- und Integrationspolitik (“Konstanz integriert!”) gerügt würde, oder wegen seiner DITIB-Moschee, oder wegen seiner Aufhebung des Burkini-Verbots in Schwimmbädern oder wegen der „Imperia“-Statue, die die Hafeneinfahrt ziert und neben ihrem anti-klerikalen Charakter, der nicht wenige Katholiken irritiert, das weltweit größte Denkmal für eine Prostituierte darstellt. Die Stadt würde auf dem Kopf stehen und vor Wut schäumen. Umgekehrt sieht man sich allerdings im vollen Recht, den Bannstrahl des aufgeklärten „Gutmenschen” auf die Italiener niederfahren zu lassen.
Ein Vergleich
Mich hat der Fall Lodi an manches erinnert, in erster Linie aber an die Berichterstattung über Myanmar und die “Rohingyas”, sowie jüngst an China und seine Uighuren. Die hiesige Presse weiß genau, was in Myanmar los ist und wer die Bösen sind. Keine Frage. Details, die man durchaus in der internationalen Presse nachsehen kann, interessieren nicht. Ähnlich die Uighuren. Außenminister Maas war gerade in China und hat sich mit seinen eingelernten Sprüchlein über die Menschenrechte („Mit Umerziehungslagern können wir uns nicht abfinden“) vermutlich nicht einmal unbeliebt sondern allenfalls lächerlich gemacht. Welche Länder u.a. zu dem uighurischen autonomen Gebiet Xinjiang Anrainer sind, dürfte vielen von den links-grünen Besserwissern, die Maas zujubeln, gar nicht bekannt sein: Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgisistan, Kasachstan, und last not least der Unruheherd Kaschmir, alles wunderbare Orte, in denen der islamische Fundamentalismus blüht und gedeiht. Mit der Politik eines Heiko Maas wäre wohl Xinjiang schon bald kein Teil der Volksrepublik China mehr.
Hier ist man aus der großen weiten Welt schnell wieder zurück in der kleinen Welt von Konstanz und Lodi. Der gemeinsame Nenner ist die unglaubliche deutsche Überheblichkeit. Der politische Slogan Am deutschen Wesen mag die Welt genesen, den Emanuel Geibel 1861 in die Welt gesetzt hat, wurde von Theodor Heuss explizit zurückgenommen. Heute scheint er in den Köpfen vieler Deutscher leider wieder ein Leitmotiv darzustellen, mit dem betrüblichen Unterschied, dass sie es nicht einmal wissen. Der Fall Lodi ist ein kleines, aber bedeutendes Beispiel dafür. Die Deutschen sollten sich daran gewöhnen, dass Italien bezüglich der illegalen Massenimmigration die Schnauze voll hat und besonders empfindlich auf die von Deutschland aus organisierten „Rettungsschiffe” reagiert, mit denen Immigrationsinteressierte mit Hilfe einer wie geschmiert laufenden Asylindustrie in italienische Häfen gebracht werden, wo sich dann die Behörden und am Ende Städtchen wie Lodi mit ihnen herumschlagen dürfen, und das alles natürlich, wenn sie mit den vollen Rechten und Privilegien der „schon länger“ in Italien lebenden ausstaffiert sind. Wenn die Deutschen in so einem Modell eine wünschenswerte Zukunft zu sehen, ist das ihre Sache. Den Italienern kann man mit entsprechenden Empfehlungen getrost vom Leib bleiben.
Hoffen wir, dass der Stadt Konstanz am Ende doch noch etwas dämmert. Ich würde dann eine Entschuldigung bei der Bürgermeisterin von Lodi vorschlagen.
Josef Bayer ist Professor für Allgemeine und Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Konstanz.