Als ich zu Beginn der Coronavirus-Krise geschrieben habe, daß der Lockdown und seine Konsequenzen den größten Umbruch in der Geschichte Westeuropas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen würde, wurde diese Meinung von vielen Lesern und Kommentatoren als allzu pessimistisch betrachtete. Heute, nachdem sich die Situation in fast einem Jahr kaum verbessert, ja in vielerlei Hinsicht noch eher verschlechtert hat, stehen wir vor den Früchten unserer Fehlentscheidungen. Denn es ist nicht die Pandemie, die die europäische Gesellschaft zerstört, sondern die Art und Weise, wie die Regierungen und internationalen Institutionen darauf reagieren.
In der Tat stellt der Lockdown nicht das eigentliche Problem dar; er agiert vielmehr nur als ein Katalysator vieler Bestrebungen, die bereits vor der Pandemie präsent waren; und die eigentliche politische Tragik liegt darin, daß jene Bestrebungen nunmehr selbst von jenen Bürgern und Regierungen, die ihnen bislang noch mit einer gewissen Skepsis gegenüberstanden, verzweifelt eingefordert werden, nur um so schnell wie möglich zu einer (vermeintlichen) „Normalität“ zurückkehren zu können – zur Freude all jener, die von dieser Entwicklung profitieren. Denn jene „Neue Normalität“, auch wenn sie in einer ersten Zeit der „alten“ ähneln würde, würde doch auf einer klaren Konditionalität beruhen, die ihr eine völlig andere Grundlage geben und rasch zum Hebel für tiefgreifende, langfristige Veränderungen werden würde: Die Freiheit des Menschen droht, zukünftig nur noch Zugeständnis, nicht mehr Grundrecht zu sein. Und wenn die „Neue Normalität“ sich für den oberflächlichen Beobachter von den massiven Freiheitsbeschränkungen der Covid-Zeit sicherlich positiv abheben wird, so kann dies doch kaum den fundamentalen Paradigmenwechsel, ja -bruch verdecken, der sich gerade vor unseren Augen abspielt, und der uns gewissermaßen mit einem Fußtritt in den Posthumanismus katapultiert.
Ähnlich steht es mit dem internationalen Finanzsystem: Daß dessen Implosion nur eine Frage der Zeit war, wurde von vielen Menschen schon vor der Pandemie befürchtet. Nunmehr aber ist klar, daß die immensen Schulden, die derzeit aufgenommen werden, nie mehr ohne eine fundamentale Neugestaltung des monetären Systems mittels Bargeldabschaffung, Negativzinsen, Planwirtschaft, Schuldenschnitte, Zombifizierung des Kleinhandels und verdeckter Geldentwertung unter Kontrolle gebracht werden können. Man könnte in diesem Fall die finanztechnische Handhabung der Coronavirus-Pandemie sogar als eine „kontrollierte Sprengung“ eines ganz bewußt funktionsuntüchtig gemachten Finanzsystems betrachten – mit katastrophalen Folgen für Bürger wie Nationalstaaten.
Auch unser bisheriger Begriff eines menschenwürdigen Daseins wird sich fundamental ändern. Schon vor der Krise konnte man in Japan oder Südkorea betrachten, wie eine robotisierte, informatisierte, dehumanisierte Gesellschaft vereinsamter Individuen beschaffen sein würde, die wenig mehr sind als externe organische Erweiterungen ihres Rechners, der Arbeitsplatz und Vergnügungsinstrument zugleich ist. Nun, nachdem eine massive Nutzung von virtuellen Lernräumen, Home-Office, Chat-Systemen und online-Bestell- und Liefersystemen es Millionen von Europäern ermöglicht haben, wochen-, ja monatelang ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen, hat sich eine neue Lebensweise eingestellt, die sich bald zu einem definitiven Zustand verdichten wird, was umso bedenklicher ist, als der Lockdown unabsehbare Konsequenzen für das seelische Gleichgewicht einer seit fast einem Jahr unter dem Lockdown leidenden europäischen Jugend haben wird.
Auch die politische Polarisierung der Gesellschaft, die sich schon seit dem Aufkommen des sogenannten „Populismus“ abzeichnete, ist durch die Pandemie enorm gestiegen und wird bald zum einer ganz neuen Frontenstellung führen. In den meisten westlichen Ländern wird der politische Kampf nicht mehr als klassischer argumentativer Schlagabtausch zwischen progressiven und konservativen, sozialen und liberalen, nationalistischen und internationalistischen Positionen geführt. Vielmehr hat sich auf der einen Seite eine meist linksliberal und internationalistisch geprägte politische Elite verdichtet, die die öffentlichen Medien und Bildungsinstitutionen kontrolliert und Hand in Hand mit der neuen Wirtschaftsoligarchie geht, während auf der anderen Seite die Zahl derjenigen, die diesem „System“ zutiefst mißtrauen und einen Umbruch anstreben, zunehmend wächst. Dies spiegelt sich auch in der Bewertung von Pandemie und Lockdown wider und führt zu erstaunlichen Querfronten, die vorher überrascht hätten. Denn die zunehmend offensichtliche Bereitschaft der politischen und medialen Elite zur klaren Lüge, was Planung, Durchführung und Ausmaß von Lockdown, Impfpflicht, Bewegungseinschränkung oder Hilfsgeldern betrifft, hat bei vielen Menschen jegliches Vertrauen in die etablierten Institutionen schwinden lassen und wird auf lange Zeit hin eine schwere Hypothek für jede stabile politische Ordnung darstellen – und ein unabsehbar starkes Stimmreservoir für alternative charismatische Bewegungen.
Selbst die absurdesten, mit der Covid-Krise in keinerlei Zusammenhang stehenden politischen Forderungen sollen dabei unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Pandemie umgesetzt werden, wie nicht nur viele nationale Regierungen, sondern selbst die europäischen Institutionen „fordern“ und durch geschickte Subsidienverteilung bzw. -entzug durchsetzen: Von der Gender-Gerechtigkeit über den Kampf gegen rechts, die „Vertiefung“ der europäischen Union, die Überprüfung der „Rechtstaatlichkeit“ mißliebiger Regierungen, die Aufnahme von Flüchtlingen, den Schutz der LGBTQ-Bewegungen und den „Green-Deal“ bis hin zur allen Ernstes erwogenen „Klimadiktatur“ liegen konkrete Pläne auf dem Tisch, deren Ausmaß und Radikalität vor noch wenigen Jahren von allen ernsthaften Menschen als abstrus abgetan worden wären.
Wer jetzt nicht aufsteht, um die Dinge beim Namen zu nennen, wo doch jene oben beschriebene „neue Realität“, jener „große Reset“, nicht etwa den Verschwörungstheorien einiger Spinner entspricht, sondern vor laufender Kamera von vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern zu einem utopischen Endziel umdeklariert wird, der darf auch später nicht lamentieren, „nichts gesehen zu haben“.
Eine polnische Version dieses Artikels von David Engels erschien am 4.3.2021 in der online-Ausgabe des Tygodnik Solidarność.