Der britische „Freedom Day“ scheint ein Erfolg zu sein. Seit dem 19. Juli haben die Briten ihre Freiheit zurück – zum Unverständnis vieler Kommentatoren in Deutschland. „Was Boris Johnson macht, ist Verantwortungslos“, kritisierte Karl Lauterbach den britischen Premierminister bereits einen Tag später. Er betreibe ein „Feldexperiment an der Bevölkerung“. Der SPD-Politiker orakelte, Johnson werde scheitern, „die Fallzahlen werden wieder sehr hoch sein.“
Längst hat sich die „neue Normalität“ wie eine bleierne Decke über das Land gelegt – das Bedürfnis nach Freiheit einer gesunden Gesellschaft wird erstickt durch den Zeitgeist von Angst, überbordender Vorsicht und irrationaler Sorge. Deutschland ist längst ein Land der Hypochonder geworden, in dem der falsch verstandene „Gesundheitsschutz“ in Absolutheit herrscht. Für diesen Gesundheitsschutz werden dann im Zweifel auch, wie zuletzt in Berlin, Frauen am Hals gepackt und auf die Straße geschleudert oder kleine Jungen mit der Faust ins Gesicht geschlagen (TE berichtete). Bereits jetzt bereitet die Bundesregierung ohne Not den nächsten Lockdown vor, ohne dass die Einschränkungen überhaupt jemals vollständig aufgehoben worden wären. Selbst die FDP, die als liberale Partei eigentlich an der vordersten Front im Kampf und die Rückgewinnung der Freiheit stehen sollte, geht lieber mit Mini-Schritten den Weg aus dem Lockdown heraus – würden die Freien Demokraten regieren, dürften Sie sich Heute nach wie vor nicht mit mehr als 10 Menschen treffen, übrigens völlig unabhängig vom Impf- oder Teststatus. Dabei wäre doch gerade mit dem jetzt überbordenden Impfangebot die Zeit, den Kern des liberalen Menschenbildes wieder in den Vordergrund zu stellen: Eigenverantwortung.
Viele, könnte man meinen, schätzten Freiheit ohnehin nie besonders hoch.
Doch von dieser Eigenverantwortung sind wir weit entfernt. Die Regierung will die Bürger nicht aus der Vormundschaft entlassen – und viele Bürger wollen auch gar nicht aus ihr heraus. Nicht wenige Menschen fühlen sich in der „neuen Normalität“ von Lockdown, Maske und Abstand pudelwohl. Sie wollen trotz Zweifachimpfung kaum Leute treffen, tragen nach wie vor quasireligiös die Maske und halten die Abstandsregeln mit einer Leidenschaft ein, die bar jeder Rationalität ist. Sie sind Zeugnisse des Corona-Zeitgeistes, der die Gesellschaft in einen voraufklärerischen Zustand verfallen lassen hat. Der Mensch ist nicht mehr Individuum mit einer Vielzahl von Bedürfnissen, sondern lediglich die Summe seiner Gesundheitsdaten und Objekt des Infektionsschutzes. Im Land Immanuel Kants, der einst den Mut forderte, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, haben wir das Denken an Regierung und Experten abgegeben, die als Akteure des absoluten Gesundheitsschutzes auftreten. Freiheit ist nicht mehr das Geburtsrecht eines jeden Individuums und der Naturzustand, sondern begründungspflichtig.
Auch die Gesundheit als Maßstab wird verengt, ist nicht mehr die Summe vieler Faktoren, sondern nur noch an einer Krankheit messbar. Außer Corona gibt es in der öffentlichen Diktion keine Gesundheitsrisiken mehr, die zu beachten wären. Und selbst Corona hat sich von der akuten gesundheitlichen Gefahr komplett entkoppelt. Schickten wir im Frühjahr 2020 das Land noch mit der verständlichen Begründung in den Lockdown, eine Überlastung des Gesundheitssystems mit einer weitgehend unbekannten Krankheit abzuwenden, gilt jetzt die Vermeidung von Infektionen als oberstes Ziel der Politik. Als wäre jede Corona-Infektion ein Todesurteil, wo doch viele Infektionen überhaupt nur auf dem Teststreifen stattfinden und diejenigen, die mit einer Covid-Erkrankung ein wirklich ernsthaftes Risiko eingehen würden – die viel beschworenen vulnerablen Gruppen – doch längst schon weitgehend durchgeimpft sind.
Das massenhafte Auftreten von Depressionen ist Symptom einer Gesellschaft, die das, was das Leben lebenswert macht, ausblendet, einschränkt und kriminalisiert. NZZ-Chefredaktor Eric Gujer spricht von einem „neuen Biologismus“, der der Gesellschaft darwinsche Maßstäbe anlegt: Sinn des Lebens ist das Überleben, sonst nichts. Boris Johnson, so Gujer, werde scharf attackiert, weil er die Corona-Dogmen infrage stellt – indem er auf dem Prinzip beharrt, „sich das Leben nicht von abstrakten Kennzahlen diktieren zu lassen, sofern dafür nicht ein zwingender Grund vorliegt.“ Die Hypochonder-Gesellschaft hat sich von diesem Prinzip längst verabschiedet, fühlt sich wohl in der Isolation – für viele lebt es sich, vom Denken entwöhnt und von der Verantwortung für sich selbst befreit, gut in den eigenen vier Wänden. Viele, könnte man meinen, schätzten Freiheit ohnehin nie besonders hoch. Eine unheilvolle Symbiose zwischen denen, die sich ihre Selbstbestimmung nur zu gerne nehmen lassen, und einem Staat, der darauf eifrig zugreift, lähmt die Gesellschaft. Da fährt der antiaufklärerische Zeitgeist, der Freiheit zur begründungspflichtigen Ausnahme macht, umso besser ein – und wehrt sich lautstark mit allerlei Vor- und Anwürfen gegen diejenigen, die das wohlige Dogma doch noch hinterfragen wollen. Auch, wenn Einschränkungen und Lockdown irgendwann mal verschwinden: Die Einschränkungen im Kopf und der Corona-Zeitgeist werden weit schwieriger zu besiegen sein, als die virale Gefahr es jemals war.