Geht es euch auch so, dass jeder zweite in eurem Freundeskreis gerade schnieft und hustet? Das ist bei mir schon seit dem Sommer so. Dabei war es in den letzten Monaten weder besonders nass noch besonders kalt. Nach anderthalb Jahren Corona mit Super-, Mega- und Giga-Lockdowns scheinen wir alle sensibler für Infekte geworden zu sein. Das ist kein Wunder – über anderthalb Jahre hatten wir kaum Kontakt zu Menschen außerhalb unserer Familie und damit auch kaum Kontakt zu Krankheitserregern. Kein Dicht-an-Dicht in der U-Bahn auf dem Weg zur Schule oder zur Uni, kein Tanzen in der schwitzigen Clubmenge, kein Herumreichen der Bierflaschen unter Freunden. Während wir normalerweise rund um die Uhr mit Viren und Bakterien in Berührung kommen, waren wir jetzt lange Zeit isoliert, um auch ja kein Corona zu bekommen. Die Folge: Unser Immunsystem wurde nicht mehr trainiert und schwächelt jetzt.
Ist ja eigentlich auch logisch: So wie gute Autos immer mal wieder gefahren werden müssen, um voll funktionsfähig zu sein, braucht auch unser körpereigener Abwehrschutz ständige Beschäftigung, damit er Höchstleistungen erbringen kann. Unser Immunsystem arbeitet schließlich nicht nur dann, wenn wir grippegeplagt im Bett liegen, sondern rund um die Uhr. Es bekämpft nicht nur ausgebrochene Infekte – es verhindert sie auch, indem Krankheitserreger eliminiert werden, noch bevor sie uns überhaupt krank machen konnten. Dabei merkt sich unser Immunsystem in der Regel, wen es schon mal besiegt hat und wie. Wir bilden Antikörper, die spezifisch gegen einen bestimmten Erreger wirken – und kommt der Keim noch einmal auf die Idee, in unsere Blutbahn zu spazieren, wird mit voller Kraft dagegen geschossen und im besten Fall merken wir vom Kampf in unserem Innern nicht einmal ein Kratzen im Hals.
Dies wurde nun aber mit der Lockdown-Politik unserer Bundesregierung verhindert. Über Monate waren Kinder und Jugendliche zuhause statt unter Gleichaltrigen und hatten außerhalb ihrer Familie kaum Kontakte. Letzten Winter fielen durch diese Beschränkungen viele typische Infektionswellen (zum Beispiel Grippe) aus – ich selbst kenne viele, die seit Beginn der Corona-Pandemie nicht einmal einen Schnupfen hatten. Doch jetzt kehren die jungen Leute in ihr altes kontaktreiches Leben zurück und damit kommen auch die Infektionen wieder. Und zwar nicht zu knapp: Ärzte aus ganz Deutschland berichten aktuell von einem ungewöhnlichen Anstieg an Atemwegserkrankungen unter Kindern. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, sagte Mitte Oktober gegenüber WELT: „Die Kliniken haben mit etlichen Fällen zu tun, und auch in den Praxen ist viel los.“
Vor allem das sogenannte Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RSV, macht gerade Schlagzeilen, da es dieses Jahr vermehrt und untypisch früh unter Kindern auftritt. Das Erkältungsvirus ist eine typische Kinderkrankheit in den Wintermonaten und in der Regel harmlos – nahezu jedes Kind erkrankt innerhalb seiner ersten zwei Lebensjahre einmal an ihm. Gefährlich werden kann das Virus allerdings für Frühchen oder Kinder mit Vorerkrankungen. Selten gibt es auch bei sonst gesunden Kindern schwere Verläufe. Seit den Sommermonaten werden laut dem Robert-Koch-Institut ungewöhnlich viele Kleinkinder mit RSV-Infektionen ins Krankenhaus eingewiesen. Vor der Pandemie seien im September im Schnitt 60 bis 70 Ein- bis Vierjährige mit schweren Atemwegsinfekten in Kliniken eingewiesen worden, dieses Jahr seien es doppelt so viele.
Doch nicht nur das RSV-Virus tritt gerade vermehrt auf. Dr. med. Stefan Trapp, niedergelassener Pädiater in Bremen und Vertreter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) berichtet im Ärzteblatt: „Die niedergelassenen Kinderärzte beobachten in ihren Praxen eine für die Jahreszeit ungewöhnlich hohe Zahl an Erkältungserkrankungen.“
Nur eine Infektionskrankheit spielt unter Kindern und Jugendlichen nach wie vor kaum eine Rolle: Covid. Zwar schlug das RKI vor Kurzem Alarm, da in acht Landkreisen Deutschlands die Sieben-Tage-Inzidenz bei den 10- bis 19-Jährigen über 500 gelegen hatte. Doch diese vermeintliche Horrormeldung entpuppte sich als Panikmache: Erstens, weil gleichzeitig bundesweit die Inzidenz in dieser Altersgruppe gesunken war (und schon seit Wochen – abgesehen von ein paar Ausreißern – beständig sinkt). Zweitens, weil der krasse Inzidenzanstieg unter Minderjährigen in den betroffenen Kreisen nicht zu vermehrten Krankenhauseinweisungen geführt hatte – und es sich damit bei den Infektionen fast ausschließlich um symptomarme oder -freie Verläufe gehandelt haben dürfte.
Doch auch abgesehen von Corona sind die vermehrten Erkältungen um uns herum kein ernsthafter Grund zur Sorge. Die Zahlen des DIVI-Intensivregisters zeigen nämlich auch, dass trotz der von Ärzten beschriebenen Häufung von Infektionskrankheiten die Zahl der belegten Intensivbetten in den Kinderkliniken seit Sommeranfang nur geringfügig gestiegen ist. Während am 19. Juli 1.917 Kinder und Jugendliche auf Intensivstationen lagen, waren es am 19. Oktober 2.034, also gerade mal 117 Personen (rund 6 Prozent) mehr. Trotz auffällig vielem Gehuste und Gepruste werden also zum Glück nur wenige junge Leute schwer krank.
Das ganze Geschniefe um uns herum ist also halb so wild. So wie das eingestaubte Auto aus der Garage mit einem Reifen- und Ölwechsel und einer aufgeladenen Autobatterie nach etwas Motor-Gestottere wieder in die Gänge kommt, wird auch unser aller Immunsystem nach einer holprig-infektreichen Anfangsphase gewiss wieder an Kraft gewinnen. Nach anderthalb Jahren voller übermäßigem Desinfektionsmittelgebrauch, ulkigen Ellenbogen-Begrüßungsritualen und maskenverdeckten Gesichtern ist es doch eh mal wieder an der Zeit, dass wir ein normales Verhältnis zu Erkältungen bekommen. Im Moment wird man ja immer noch mit einem Todesblick angeschaut wenn man es wagt, in der Öffentlichkeit zu niesen. Vielleicht geht dieser Irrsinn mit der aktuellen Schniefwelle ja endlich vorbei.