Tichys Einblick

Links? Rechts? Was im Wahljahr 2019 wirklich zur Wahl steht

Linkssein ist heute Gehorchen, Rechts-genannt-zu-werden bedeutet heute, dass man linken Meinungsvorgaben widersprochen hat – man muss irrationale Überzeugungen annehmen, um links sein zu können, fürs Widersprechen dagegen sind sowohl rationale als auch irrationale Motivationen möglich.

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In meiner Jugend feierte ich des Öfteren in der Innenstadt von Köln, was man eben so feiert. Das Wochenende! Das Leben! Die Jugend! – Es ging bis spät in die Nacht und bis früh in den Morgen. Es war von essenzieller Wichtigkeit, die letzte Bahn südwärts zu erwischen, die Linie 18.

Wenn man die letzte Bahn verpasste und nicht auf die erste Bahn warten wollte, stand einem ein langer Marsch durch die schlafende Stadt bevor. Damals war Köln sicherer als heute, insofern war es vor allem anstrengend. Dank zahlreicher Imbiss-Läden auf der Strecke war der Weg ja durchaus kulinarisch befriedigend – was ein Jugendlicher am sehr frühen Morgen eben schmackhaft findet.

Wenn es mir gelang, die letzte (oder allererste) S-Bahn zu erwischen, dann stand eine weitere Hürde an: Es galt, nicht die richtige Haltestelle zu verschlafen.

Zweimal bin ich in Brühl aufgewacht, einmal in Bonn und einmal in Bad Godesberg (ich war aus Versehen in die Linie 16 eingestiegen). Ich war deutlich über die Zielhaltestelle hinaus gefahren. (Dank Studententicket war beides zumindest vom Fahrschein her kein Problem). Der zweite Rückweg konnte sich dann in die Frühstückszeit ziehen.

Ja, es passiert manchmal im Leben, dass man beschwingt feiert, und dann passt man nicht auf, und dann wundert man sich, wo man plötzlich ist – und wie um alles in der Welt man doch noch dorthin kommt, wohin man ursprünglich wollte.

Lauter und lauter

Es ist kaum zu leugnen: Seit der französischen Nationalversammlung haben sich die Begriffe Rechts und Links erheblich in ihrer Bedeutung verschoben.

Man muss heute schon zur etwas älteren Generation gehören, um Links und Rechts in ihren alten Bedeutungen verinnerlicht zu haben. Es geschah für viele fast unbemerkt, wir sind kurz eingeschlafen, doch mir nichts, dir nichts bedeuten die Begriffe Links und Rechts etwas anderes als damals.

2019 ist ein Wahljahr. Neben den Europawahlen, Verzeihung, den EU-Wahlen, stehen in Deutschland die Kommunalwahlen an, und die Polit-PR-Maschine kreischt lauter und lauter – man fragt sich, wie sie sich noch steigern will.

Alle skandieren ihre Meinung, ihre Stimmen vereinen sich zur großen Kakophonie der Politverdrossenheit. Der Meinungslärm heute soll mir Anlass sein, einen Schritt zurückzutreten, durchzuatmen, und zwei sehr wichtige Begriffe neu auf die Beine zu stellen.

Magd, Minister, Schuhpolitur

Wer jahre- und jahrzehntelang einen Begriff benutzt, der fährt, bildlich gesprochen, mit Wort und Begriff mit. Es kann passieren, dass er einschläft, und plötzlich wurde die Bedeutung hinterm Wort ausgewechselt, das Wort bedeutet etwas anderes als früher.

Eine unverheiratete Frau eine Magd zu nennen, würde Irritationen hervorrufen. Minister kommt von minus, und bedeutete einst »der Geringere«, beim wichsen denkt man dagegen nicht zuerst an die Behandlung von Lederschuhen mit Wachs, und auch Links vs. Rechts bedeutet heute etwas anderes als in der Zeit unserer Tanztees.

Die Bedeutungsverschiebung von »Links« und »Rechts« in der politischen Mainstream-Debatte war schleichend, und manchem ist sie unangenehm, doch mir erscheint es wenig sinnvoll, so zu tun, als wäre es nicht passiert.

Wie die Wissenschaftler es tun

Die Methode der Wissenschaft ist es, die Phänomene zu beobachten, und dann die genauestmögliche allgemeine These vorzulegen, welche das Beobachtete beschreibt und interessantes Neues vorhersagt. In diesem Geiste erlauben Sie mir, einen Versuch zu wagen, Links und Rechts, wie es 2019 in der realen Praxis (!) benutzt wird, zu definieren.

Links bedeutet heute, wenn ich vom Erfassten auf die Bedeutung schließen darf, postrational, hyperemotional, gesinnungsethisch, immer häufiger postdemokratisch, aber vor allem: nach Anerkennung der Masse, der Eliten und zuletzt der Regierung suchend.

Was heute Rechts genannt wird, ist diverser als der linke Meinungsblock, und es stimmt im Kern nur in der Bereitschaft überein, der Masse und Mehrheit zu widersprechen.

Der angeblich »rechte« Widerspruch gegenüber Masse und Mehrheit ist oft in Vernunft und Realitätswillen begründet (siehe etwa konservative Kolumnisten oder jener Teil der AfD, der weit mehr CDU als die CDU selbst ist, zum Teil sogar buchstäblich aus Ex-CDU-lern besteht), der Widerspruch kann zugleich ähnlich inkohärent emotional daherkommen wie grüne Tränendrüsen aufzutreten pflegen. (Björn Höcke könnte als eine Art Claudia-Roth-der-AfD gelesen werden, und auch andersherum: Claudia Roth ist der Björn Höcke der Grünen. Beide sind etwas peinlich, aber halt schon so lange dabei.)

Handkeilthese: Linkssein ist heute (praktisch) immer irrational, doch »Rechter« genannt zu werden ist keine Garantie, rational zu sein. Wer »Rechts« genannt wird, hat meist der linken Leitmeinung widersprochen, doch das heißt nicht, dass seine eigene Position unbedingt der Position anderer Positionen, die rechts genannt werden, auch nur in den Eckpunkten gleicht.

Eine asymmetrische Debatte

Links vs. Rechts bedeutet heute, anders formuliert: Der Gehorsam gegenüber inkohärenter, emotionaler Leitmeinung vs. der Widerspruch zur linken Leitmeinung (welcher teilweise darin begründet ist, dass man Vernunft vor Hysterie stellt).

In der Links-vs-Rechts-Debatte herrscht eine Asymmetrie schon im funktionalen Aufbau der Begriffe. Wenn ich sage »du bist links«, dann schwingt darin, das gebe ich zu, ein Vorwurf mit: »Du stellst Emotion und spontane Gesinnung über Verantwortung und Vernunft«.

Wenn aber Linke anderen vorwerfen, »Rechts« zu sein, dann stellen wir fest, dass die diversen Beschuldigten nur eint, dass sie sich linker Meinungsvorgabe verweigern.

Doch, wenn ich »2+2=5« widerspreche, ist damit keineswegs gesagt, dass jeder Gegenvorschlag, etwa »2+2=22« oder »2+2= ♥«, automatisch richtig ist.

Links-Sein ist heute eine Haltung, und zwar die gebückte. Was heute Rechts-Sein genannt wird, ist zunächst »nur« die Weigerung, sich linker Einheitsmeinung zu beugen.

Der CDU-ler Maaßen wurde etwa »Rechter« genannt, weil er linken Lügen widersprach. Mit anderen, die »Rechte« genannt werden, hat er wenig zu tun. Man kann ja der Einheitsmeinung widersprechen und dennoch Unfug erzählen, siehe Björn Höcke.

Was Maaßen und Höcke eint, ist ausschließlich das Widersprechen, doch in der ideologisierten Welt vieler Linker sind sie genau dadurch beide »Rechte«, gegen die ein »Kampf« geführt werden muss.

Der logische Kern der Asymmetrie der heutigen Rechts-vs-Links-Debatte ist: Wer dem Unsinn widerspricht (und in Folge ein »Rechter« genannt wird), der kann selbst wieder Unsinn sagen, aber wer sich dem Unsinn anschließt (also ein »Linker« ist), der wird logisch zwingend Unsinn sagen.

Zwischen-Fazit

Je lauter die Debatte wird, je mehr eine Seite die Verwirrung fördert, umso wichtiger scheint mir, nicht nach- und aufzugeben, sondern zuerst unsere eigenen Begriffe zu klären.

Wer sich heute zum »Linkssein«, bzw. »Gutmenschentum« oder zur »Haltung« bekennt, offenbart darin den Willen, Vernunft und Verantwortung zugunsten von Gehorsam und Anschluss an die Ideologie der Mehrheit zu opfern. Das kann in Konsequenz bedeuten, dass man demokratische Prinzipien wie freies Wahlrecht frontal angreift oder in die Hände von nicht-gewählten Spekulanten und Superglobalisten spielt – also ganz und gar nicht traditionell linke Anliegen vertritt – alles aus Lust daran, Teil der Mehrheit und Masse zu sein (»wir sind mehr«).

Wer heute der von oben gepredigten Einheitsmeinung widerspricht, der wird bald ein »Rechter« genannt und seine Umgebung wird via Propaganda aufgefordert, ihn zu bekämpfen (»Kampf gegen Rechts«).

Linkssein ist heute Gehorchen, Rechts-genannt-zu-werden bedeutet heute, dass man linken Meinungsvorgaben widersprochen hat – man muss irrationale Überzeugungen annehmen, um links sein zu können, fürs Widersprechen dagegen sind sowohl rationale als auch irrationale Motivationen möglich. Aus diesem Grund tun sich jene, die »Rechte« genannt werden, meist schwer damit, dieses Etikett anzunehmen.

Wer linker Ideologie aus Gründen der Vernunft widerspricht, sieht sich nicht in einer Gruppe mit denen, die es aus anderen irrationalen Gründen tun.

Wahljahr 2019

Es steht, wieder mal, ein Wahljahr an. Linke Postdemokraten versuchen diverse Tricks, um Wahlen in ihrem Sinne zu verzerren; sie wollen etwa per Gesetz in Wahllisten eingreifen, sie wollen Minderjährigen (extra-emotionalen Menschen) das Wahlrecht geben (warum nicht die volle Geschäftsfähigkeit, die Erlaubnis, den Führerschein noch etwas früher zu machen?), et cetera.

Die verantwortungsvolle Wahl beginnt damit, sich selbst politisch (neu) zu verorten.

Sie, liebe Leser, werden anhand meiner Formulierung (neudeutsch: »Framing«) erahnen, welche Perspektive mir beliebt: Ich möchte einer sein, der dem Irrsinn widerspricht, der auf demokratische Debatte und funktionierenden Rechtsstaat besteht, egal wie er von den Gehorsamen dafür beschimpft wird, und ich möchte mit bester Vernunft und aus Verantwortung für mein Handeln heraus widersprechen.

Wir sind einige Jahrhunderte und Jahrzehnte lang mit der S-Bahn politischer Begriffe mitgefahren. Wir stellen fest, dass wir woanders angekommen sind, als wir dachten, dass wir ankommen würden.

»Links« und damit »Rechts« bedeuten heute etwas völlig anderes als vor wenigen Jahrzehnten. Heute sind es die Linken, die obrigkeitshörig »Gleichschritt, marsch!« brüllen.

»Rechts« bezeichnet heute überhaupt keine einheitliche politische Richtung mehr (sogar die Kommunistin Wagenknecht wird gelegentlich als latent »rechts« verortet – weil sie zu widersprechen wagt, siehe sz.de, 22.2.2017, zeit.de, 3.8.2016, bild.de, 5.8.2018 (€), etc.) – »Rechts« steht heute für »Ketzer«, und das ist nah an »Hetzer«, und meint: Störenfried, der zu widersprechen wagt.

In meiner Beobachtung unterscheiden sich Linke und jene, die »Rechte« genannt werden, oft auch im Verhalten und in den geäußerten Gefühlen. Linke verspüren tribalistisch-animalische Lust daran – und sagen es – alle Abweichler auszugrenzen (siehe etwa »Öffentlich-rechtliche Enthemmung«); schon Kinder werden darauf gedrillt, alle auszugrenzen, die von der Mehrheit abweichen (»wir sind mehr«-Kampagnen in Schulen, siehe etwa »Kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte«). Viele derer, die »Rechte« genannt werden, sind meist offen für Argumentation, Linke sind oft erstaunlich offen darin, Andersdenkende ausgrenzen und zum Verstummen bringen zu wollen (siehe »Die Angst der Linken vorm Gegenargument«). Linke sind anti-divers (sie brüllen »ungeteilt« und richten »safe spaces« ein, in denen ihnen keiner widerspricht), jene, die »Rechte« genannt werden, wollen meist in Ruhe und am Leben gelassen werden. (Wer heute wirklich liberal ist, wird konsequenterweise »rechts« genannt werden, denn es gilt: Wenn sie dich nicht »rechts« nennen, was machst du falsch?)

Welchen politischen Aufkleber man auf mich draufklebt, das war mir gestern egal, ist mir heute egal, und es wird mir morgen egal sein. Es sind nicht linke Leichtempörte, vor denen ich mich verantworten muss.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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