Wie die Linke lernte, die staatliche Autorität zu lieben
Marco Gallina
Linke Politiker und Publizisten rufen nach härteren Maßnahmen, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Der Nimbus der Linken als Verfechter von Versammlungsfreiheit, Emanzipation und Staatsskepsis scheint vergangen. Jetzt, selbst am Ruder, verteidigen sie das System, das sie einst bekämpften.
Sie ist kompliziert, die Beziehung der Linken zur Autorität. Das historisch-politische Narrativ der Bundesrepublik bestimmt seit Jahrzehnten die linke Kulturhegemonie. Spätestens mit der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder offenbarte sich, dass die Revoluzzer von 1968 nunmehr steuerten, was sie einst bekämpft hatten. An den Universitäten und in der Presse hatten sie es zuvor auf mal subtilere, mal offenere Weise geschafft, Geschichts- und Gesellschaftsbild maßgeblich zu beeinflussen.
Zu diesem Narrativ gehört die Verklärung der 1968er Proteste und der nachfolgenden 1970er im Gegensatz zum vermeintlich immer noch von Nationalsozialisten unterminierten Deutschland der direkten Nachkriegszeit. Fernsehsendungen suggerieren mittlerweile eine Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und dem Adenauer-Staat, zumindest in moralischer Hinsicht. Erst 1968 habe die „wahre Befreiung“ gebracht. Die Träger der linken Gesellschaftsrevolution sind damit die eigentlichen Gründer des „Neuen Deutschlands“.
Man muss diese Grundlagen verstehen, um die derzeitige Verwirrung über die plötzliche Liebe der Linken zu Polizei und Staatsgewalt richtig einzuordnen. „Links“, so will es das selbstgesponnene Narrativ, steht für Freiheit und Befreiung; für Demonstration und Widerstand; für kritisches Denken und Skepsis gegenüber der Obrigkeit; für Fortschritt und Emanzipation; und deswegen gegen Oppression und Staatsgewalt. „Links“ sieht sich als historisches Erbe der Aufklärung und hält daher die Menschenrechte hoch – ob 1968 oder während der Friedensbewegung.
Vom 68er-Revoluzzer zum spießigen Dorfgroßvater
Daraus erklärt sich auch der heimliche Groll gegen die „Friedliche Revolution“ in der DDR und gegen deren Protagonisten. Sie gründet nicht allein auf einer gewissen Sympathie des linken Milieus für den sozialistischen Staat oder der Aufteilung Deutschlands in mehrere Staaten als „Sühne“ für den Zweiten Weltkrieg. Revolution, Freiheit und Demokratie sind linke Monstranzen. Dass in der DDR nicht die Linken die Revolution anführten und diese Werte von ganz anderen Leuten verwendet wurden, hat das linke Spektrum den 1989ern nie verziehen. Die 1989er konnten im wahrsten Sinne nur „Reaktionäre“ sein, weil sie den Fortschritt zurückdrehten.
Die DDR ruft zudem in Erinnerung, dass Linke nicht genuin der Gewalt abgeneigt sind. Auch waren die 1968er Proteste alles andere als friedlich. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ist keine Floskel. Im Kampf gegen den absoluten Feind ist alles gewollt. Das kann, muss aber nicht der Staat sein. Mao, Che Guevara und Pol Pot waren nach bestimmten Definitionsrichtlinien zu einem Zeitpunkt „Freiheitskämpfer“. Ihr Ziel war aber nicht die Freiheit als solches, sondern das Abwerfen einer Herrschaft zugunsten einer anderen. Das Ziel der extremen Linken ist der Systemwechsel.
Das heißt: sobald das politische System linken Vorstellungen entspricht, darf es auch mit allen Mitteln und aller Gewalt gegen diejenigen vorgehen, die es angreifen. Genau auf diesem Prinzip beruhten die sozialistischen Staaten. In den demokratisch verfassten Systemen des Westens wird eine solche Macht auf sanftem Wege erhalten, etwa durch die Gründung von Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen, Medien und der Einführung neuer Instrumente. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit einem linkslastigen Jugendprogramm wie „Funk“ sogar damit davonkommen will, dass das Deutschland des Ersten Weltkrieges gegen Österreich-Ungarn ins Feld gezogen sei, nur, um die eigene These des Österreichhasses von Adolf Hitler zu belegen, dann hat man eine Ahnung, was kulturelle Hegemonie bedeutet.
Plötzlich sind es demnach die Linken, die in der Art eines spießigen Dorfgroßvaters den Nachbarn verpfeifen, weil dieser unerlaubterweise Feuerwerkskörper für den Silvesterabend vorbereitet – so geschehen bei der Berliner Grünen-Abgeordneten Antje Kapek, die den bayerischen FDP-Vorsitzenden Martin Hagen bei einer solchen Aktion verpfiff. Ähnlich liegt der Fall bei der Bundestagsabgeordneten Saskia Weishaupt, die früher Hunde und Pfefferspray „generell“ auf Demonstrationen abschaffen wollte, im Angesicht der Corona-Demonstrationen nunmehr jedoch den Einsatz von Pfefferspray und Prügelstöcken begrüßte. Ungenannt sind dabei die vielen Stimmen in den sozialen Medien aus dem linken Spektrum, die nach Wasserwerfern verlangten und die Polizei nach Jahren des Hasses plötzlich als Freund und Helfer anerkennen.
Die Linke sieht das gegenwärtige Deutschland als ihr Geschöpf an
Staatstheoretisch wie geschichtsphilosophisch kann diese Entwicklung Hand in Hand gehen mit dem Niedergang der Demokratie hin zu Ochlokratie bzw. Pöbelherrschaft. Wenn die Demokratie verkommt und in die Anarchie abzudriften droht, ruft sie nach der starken Hand. Eine Auflösung des Staatszustandes, in dem nicht mehr die bewährten Rechte und „Checks&Balances“ gelten, muss am Ende durch einen leviathanischen Staat abgewickelt werden. Das kann durch eine gewalttätige Übernahme und Neuordnung wie historisch durch Augustus geschehen.
Sie kann aber auch im Ruf nach Paternalismus bzw. Maternalismus enden, in dem der fürsorgliche Staat alle Probleme für das Individuum regelt, etwa nach dem Modell von Alexis de Tocquevilles Warnung vor der „Tyrannei der Mehrheit“. Gleich, wie der Endzustand ausschaut: Am Ende steht die Autorität. Es ist eine oftmals von den Völkern der Welt durchlebte Paradoxie, dass der sehnsuchtsvolle Ruf nach Gleichheit am Ende nicht zur offenen Gesellschaft führt, sondern in die Hand einer noch mächtigeren Autorität, die eine so geforderte Gleichheit erst durchsetzen kann – unter Verlust aller übrigen Rechte.
Die Liebe der Linken zur Staatsgewalt ist daher kein Widerspruch. Sie unterstreicht den Zustand des bundesrepublikanischen Staatswesens und tief liegende Ressentiments, wonach die eigene Ideologie über vermeintlichen Werten anzusiedeln ist. Seit dem Auftauchen der politischen Linken in der Französischen Revolution hat diese unter Beweis gestellt, dass sie mit demselben moralischen Anspruch, mit dem sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit suggeriert, diese wieder davonfegen kann, wenn es der Ausmerzung vermeintlicher Freiheitsfeinde dient. Das Beispiel der nach Schlagstöcken und Wasserwerfern rufenden Linken gegen Corona-Demonstranten zeigt demnach nur eines: wie sehr die politische Linke das gegenwärtige Deutschland als ihr ureigenes Geschöpf betrachtet.
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