Tichys Einblick
Nach dem Parteitag

Die Linken suchen verzweifelt nach Arbeiter und Klassenstandpunkt

Nach 46 Jahren gelebter Verachtung will die Bewegung der Linken den deutschen Arbeiter wieder für sich gewinnen. Das zeigte sich auf dem Parteitag der gleichnamigen Partei. Vereinen will ausgerechnet ein hauptberuflicher Spaltpilz.

Ines Schwerdtner, Parteivorsitzende der Linken, und Sarah-Lee Heinrich, Ex-Mitglied der Grünen Jugend, Bundesparteitag der Die Linke, Halle (Saale), 20.10.2024

picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Die Linke liegt am Boden. Um das festzustellen, hätte es keines Parteitags mehr bedurft. Spannend ist indes, wie die Bewegung aus ihren Ruinen auferstehen will. Sie haben einen Begriff entdeckt und einen Menschen, dem sie 46 Jahre lang konsequent den Rücken zugewandt haben: dem Arbeiter und dem Klassenbewusstsein. Letzterer Begriff riecht so vertraut nach 70er Jahren wie Pril-Blumen, Trimm-Dich-Pfad oder Radikalen-Erlass. Die 70er hatten ein Faible für zusammengesetzte Begriffe.

Die Renaissance verdankt das Klassenbewusstsein einer 23 Jahre alten Berufsjugendlichen: Sarah-Lee Heinrich. Die kennt man als ehemalige Vorsitzende der Grünen Jugend. Als „Aktivistin“, die verlangt, dass Jugendliche Verantwortung tragen dürfen – und die sich für Tweets damit entschuldigen muss, dass sie noch so jung gewesen sei. Etwa, wenn sie Weiße mit dem Besen aus Afrika vertreiben will; die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“ als „eklig, weiß“ diffamiert oder wenn ihr bei Fridays for Future zu viele „weiße Bürgis“ rumlaufen. Mit dieser eher ausschließenden Lebenseinstellung soll Heinrich die Frau werden, hinter der die Arbeiterbewegung wieder „Seit’ an Seit'“ schreitet. So ein Untergang hat auch immer seine lustigen Seiten.

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Heinrich trat als Gastrednerin auf dem besagten Parteitag der Linken auf. Sie sprach darüber, warum Teile der Grünen Jugend sich von ihrer Mutterpartei getrennt haben. Ein wichtiges Thema für die Linken. Zeigt doch eine Spaltung auf, wie ruiniert eine Partei ist – und hält einen davon ab, über die eigene Spaltung zu sprechen. Die da mit der anderen Sahra. Die die Linke so ein oder zwei Wählerstimmen gekostet hat.

Heinrich will nun das Klassenbewusstsein reaktivieren. Sie erklärt der Linken, wen die Dissidenten der Grünen Jugend ansprechen wollen: „Nein, dann fragen wir uns nicht zuerst, ob sie in jeder Ader politisch korrekt sind … und ob sie alles genau so sehen wie wir. Wir wollen Politik für unsere Klasse machen.“ Allein im ersten Satz stecken Absicht und absehbares Scheitern in einem: Die grünen Bürgerkinder wollen die Arbeiterbewegung anführen. Doch sie unterscheiden diese schon in „sie“ und „wir“. Die grünen Bürgerkinder wollen die Arbeiter lediglich als eine Masse, die ihre Mate-Tee- und Kifferzirkel zu einer echten Bewegung aufbläht.

Immerhin. Mit dem Arbeiter als Zielgruppe hat Heinrich ein Phänomen erkannt, das sich sowohl bei der EU-Wahl als auch bei den Landtagswahlen im Osten gezeigt hat: Die Arbeiter haben den Linken – und nicht nur der gleichnamigen Partei – den Rücken zugekehrt. Die AfD ist die Arbeiterpartei des Jahres 2024. Das gilt auch für Arbeitnehmer, prekär Beschäftigte oder die kleinen Selbstständigen, die nicht an den Staatströpfen hängen, die eine grüne Bourgeoisie füttern, die für Heinrich wohl unter „wir“ laufen würde. Die AfD ist am stärksten bei den Wählern, die den Wohlstand erwirtschaften müssen, den SPD, Linke und Grüne so gerne so großzügig an andere verteilen.

Nun sollen diese Arbeiter, Arbeitnehmer und so weiter zur linken Bewegung zurück. Zur SPD, zu den Grünen, zur Linken, zu Volt, zur „Jugendbewegung“, die Heinrich noch gründen will, oder zu den vielen anderen linken Parteien und Gruppierungen, die unter dem öffentlichen Radar laufen. Heinrich möchte „materielle Fragen in den Mittelpunkt stellen“, um die Zielgruppe zurückzugewinnen. Wobei die Sprache an der Stelle gleich zweimal holpert. Gleich zweimal holpern muss. Denn an der Stelle zeigt sich der Riss im linken Plan.

Zum einen passt heutzutage weder der Begriff Arbeiter so richtig, noch Arbeitnehmer, noch prekär Beschäftigte oder irgendwas anderes. Das Milieu der Lohnabhängigen mit geringem finanziellen Spielraum ist tatsächlich so divers, wie es sich Linke vom Geschlechtsleben der Gesellschaft nur wünschen können. Das verhindert auch eine gemeinsame Arbeiterbewegung. Die Arbeiter des späten 19. Jahrhunderts lebten noch unter vergleichbaren Umständen, entsprechend ließen sie sich zu einer Bewegung zusammenschmieden. Das ist gut 130 Jahre später deutlich schwieriger.

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Der andere sprachliche Holperer ergibt sich, weil die Linke den Arbeiter in den westlichen Wohlstandsgesellschaften schon lange verloren hatte, als die sozialistischen Paradiese hinter dem „Eisernen Vorhang“ kollabierten. Das gilt gerade für Westdeutschland. Die westlichen Allierten halfen bei dessen „Wirtschaftswunder“ mit Krediten und Schuldenerlassen kräftig nach, um die „BRD“ zum Vorzeigestaat zu machen – in direkter Rivalität zur „DDR“. Davon profitierten vor allem die deutschen Arbeiter.

Für sozialistische Ideen waren die Arbeiter der BRD daher nie empfänglich. Schon gar nicht, wenn die aus dem studentisch-akademischen „Wir“-Spektrum kamen. Bei den sogenannten 68ern machte in Berlin exakt ein Arbeiter mit. Ein vermeintlicher Arbeiter. In Wahrheit war es ein Agent Provocateur, den der Verfassungsschutz nutzte, um die Szene zu kriminalisieren. In den 70er Jahren gingen Vertreter kommunistischer Splittergruppen in Betriebe, um dort Arbeiter zu werben. So wie Joschka Fischer bei Opel in Rüsselsheim. Doch das einzige, was sie dort gewinnen konnten, war die Drohung, „einen auf die Fresse“ zu bekommen. Spätestens mit dem Terror der RAF – den Morden an Fahrern, Polizisten, Leibwächtern und Polizisten – hatte die deutsche Linke den Arbeiter verloren. Mehr als das. Der deutsche Arbeiter hasste die Linken. 16 Jahre Helmut Kohl (CDU) erklären sich neben anderem auch dadurch.

Schon einmal versuchte die Linke einen Neuanfang. 1978 in West-Berlin. Auf der „Tunix-Konferenz“. Dort wandte sich die Bewegung vom deutschen Arbeiter ab – den sie ohnehin nicht für sich gewinnen konnte. Die Linke wandte sich anderen Themen zu: dem Klimaschutz, der damals noch Umweltschutz hieß. Und dem Postkolonialismus. Der reduziert die Arbeiterklasse auf die Unterdrückten aus den ehemaligen Kolonien. Der weiße Arbeiter lief fortan nur noch unter „eklige, weiße Mehrheitsgesellschaft“ – das hatte er davon, dass er den Linken nicht folgen wollte.

Das Problem ist nur: Mit Post-Kolonialisierten im Rücken verharrt das linke „Wir“ der Uniwelt im Bällebad des Belanglosen. Damit kommen die Vertreter des „Wir“ zwar in jede Talkshow des Staatsfernsehens, aber nicht mehr in die Parlamente. Wer das ändern will, indem er ausreichend Post-Kolonialisierte ins Land holt und einbürgert, muss sich beeilen. Denn die Einwanderer bleiben weder Einwanderer noch verharren sie im linken Wir-Bällebad. Sie kommen irgendwann an, wollen sich Wohlstand erwirtschaften – und behalten. Deswegen gilt das Bürgergeld nur für die SPD, Linke und Grüne als „Soziale Gerechtigkeit“ – im Milieu der türkischen Einwanderer etwa, ihrer Kinder und Enkelkinder wird es als Raub an ihrem Fleiß wahrgenommen. Deswegen wählen nicht wenige eingebürgerte Türken die AfD.

Nun will also Heinrich Politik für „ihre Klasse“ machen. Dem ließe sich die kritische Nachfrage entgegenhalten, warum diese Frau überhaupt von Bedeutung sei? Auf der individuellen Ebene ist dieser Einwand berechtigt. Doch Heinrich steht stellvertretend sowohl für frustrierte Grüne, verzweifelt hoffende Linke und all diejenigen, die Probleme lösen wollen, wie Linke immer Probleme lösen: Sie gründen mit dem alten Personal eine neue Partei. Oder im Fall von Heinrich eine „Jugendbewegung“, wie sie es nennt.

Die Szene hofft auf sie. Vor allem die journalistische Linke: „Sarah-Lee Heinrich kündigt Zusammenarbeit mit Linksarbeit an“, titelt etwa ND-Aktuell. Das ist – vorsichtig formuliert – eine Überinterpretation dessen, was Heinrich in Halle tatsächlich gesagt hat. Sie verglich die Trennung von den Grünen mit dem Ende einer Beziehung, in der sie sich nicht neu binden, sondern erstmal etwas Eigenes machen wolle. Außerdem wolle sie einer starken linken Partei angehören, aber die Linken seien dies derzeit nicht. Daraus eine Zusammenarbeit zu machen … nun ja. Für das Neue Deutschland war die Mauer ja auch ein „Antifaschistischer Schutzwall“.

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Der neue Vorstand der Linken hat etwas gemeinsam mit Heinrich und deren Neue-Alte-Grüne-Jugendbewegung: Beide haben angekündigt, von Tür zu Tür ziehen zu wollen, um dort die Arbeiterklasse zu treffen und deren Mitgliedern ihre Politik endlich so erklären, dass sie die verstehen und sie so für sie alternativlos wird. Die Erklärung soll den Klassenstandpunkt berücksichtigen. Das wird bestimmt funktionieren:

Man muss der Verkäuferin ihre überhöhte Miete nur damit erklären, dass es dem bösen Kapitalisten eine ins Gesicht verpasst, wenn der Staat mit überhöhten Zahlungen für die Wohnungen von Bürgergeld-Empfängern den Mietspiegel künstlich in die Höhe treibt. Frauen werden die Belästigungen am Bahnhof künftig als Ausdruck gemeinsamer Klassenzugehörigkeit empfinden und wer mit einem Messer im Hals stirbt, wird akzeptieren, dass in Wirklichkeit der Kapitalismus zugestochen hat. Gut, streng genommen ist er dann tot. Aber er wird für die gute Sache gefallen sein und Holger, der Kampf geht weiter, und so weiter – ist ja auch was.

Manche Arbeiter, Arbeitnehmer … haben an ihren Briefkästen ein Schild hängen: „Keine Werbung einwerfen“. Daneben braucht es jetzt noch ein Schild „Keine Linken klingeln“ oder halt „Keine Neue-Alte-Grüne-Jugendbewegung klingeln“. Setzen sich die Erklärer des Klassenstandpunkts dann darüber hinweg, wird es ihnen gehen wie einst Joschka Fischer. Nicht als Außenminister. Sondern als er noch versuchte, bei Opel Arbeiter zu bekehren und als Dank „einen in die Fresse“ angeboten bekam.

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