Lindner hatte auf dem Parteitag eine Anekdote wiedergegeben, die ihm ein Bekannter mit Migrationshintergrund erzählt hatte. Hier noch einmal der Wortlaut der angeblich rassistischen Äußerung: „Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist, oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer. Damit die Gesellschaft befriedet ist, müssen die anderen, die in der Reihe stehen, damit sie nicht diesen einen schief anschauen und Angst vor ihm haben, müssen sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich legal bei uns aufhält. Die Menschen müssen sich sicher sein, auch wenn jemand anders aussieht und noch nur gebrochen deutsch spricht, dass es keine Zweifel an seiner Rechtschaffenheit gibt. Das ist die Aufgabe einer fordernden, liberalen, rechtsstaatlichen Einwanderungspolitik.“
Lindner wollte auf Missstände als Folge der unkontrollierten Zuwanderung aufmerksam machen, dabei Menschen mit Migrationshintergrund vor ungerechtfertigten Vorurteilen in Schutz nehmen und für eine geordnete Zuwanderung werben. Keiner der über 100 Journalisten auf dem Parteitag hatte das missverstanden oder einen Grund zur Aufregung gesehen – bis dann ein FDP-Mitglied Lindner (mit einer Argumentation wie wir sie von Grünen und Linken kennen) des „Alltagsrassismus“ beschuldigte und aus der Partei austrat. Erst dann folgte die in Deutschland allseits bekannte Aufregung der Immerempörten. Der SPD-Innenpolitiker Burkhard Lischka sprach von einer „dümmlichen Anekdote“. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Christian Bäumler, sprach im Handelsblatt gar von „Stimmungsmache gegen Dunkelhäutige und Hartz-IV-Empfänger mit Flüchtlingsgeschichte“. Damit betreibe Lindner „das Geschäft der AfD„, sagte Bäumler.
Tagesthemen skandalisieren die Äußerung
In einem Kommentar in den Tagesthemen wurden wir belehrt: „Mit seinen Worten liefert er Rassisten einen Vorwand, rassistisch zu sein. Nach dem Motto: Ist doch nachvollziehbar, dass Menschen andere allein deshalb verdächtigen, weil sie gebrochen Deutsch sprechen. Sind ja auch ein paar illegal hier, die so reden. Gerade als Chef der angeblich Liberalen Partei in Deutschland, ist das ein Armutszeugnis. Lindner zeigt mit seiner Anekdote, dass er leider keine Ahnung hat, wie Rassismus funktioniert. … Außerdem versteht Lindner offenbar nicht, dass Rassismus schon beim Denken anfängt… Lindner erzählt die Geschichte nicht aus Sicht des Opfers, sondern aus der Sicht des rassistischen Schlangenstehers und zeigt dadurch Mitgefühl für die falsche Seite…. Und schließlich: Lindner kann sich offenbar schlecht entschuldigen. Statt einfach zu sagen, ‚sorry, hab mich verrannt, war dummes Gerede, tut mir leid’, unterstellt Lindner seinen Kritikern lieber Hysterie. Das ist schlechter Stil und wirkt schnell arrogant. Wenn man es versemmelt hat, sollte man vielleicht erstmal kleinere Brötchen backen.“
Empörungsrituale mit Tradition
Das Phänomen des bewussten Missverstehens ist nicht neu. Beispiele dafür gibt es zahllose. Ich erinnere mich an die Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Philipp Jenninger, am 10. November 1988 zum Gedenken an den 50. Jahrestag der Reichspogromnacht in Deutschland. Seine Rede führte zu einem großen Skandal, weil man ihn bewusst hatte missverstehen wollen. Ihm wurde unterstellt, er habe Hitler und den Nationalsozialismus beschönigt, weil er bei der Verlesung seiner Rede die „Anführungszeichen“ zu manchen Begriffen nicht ausreichend betont habe. Es entstand eine hysterische Diskussion in Deutschland und im Ausland, und Jenninger musste sofort von seinem Amt zurücktreten. In der Folge wurden Jenninger und seine Rede rehabilitiert, unter anderem dadurch, dass der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, demonstrativ umstrittene Passagen aus Jenningers Ansprache in eine eigene Rede übernahm, ohne damit Anstoß zu erregen. Viele Beispiele für absurde Skandalisierungen finden sich in dem Buch des Mainzer Kommunikationswissenschaftlers Matthias Kepplinger.
Der „herrschaftsfreie Diskurs“
Empörungsrituale wie jetzt bei Lindner haben die Funktion, zu verunsichern, jeder Bürger soll verstehen: Bei bestimmten Themen muss „man vorsichtig sein“, muss man höllisch aufpassen, um nicht „missverstanden“ zu werden. Das gilt für alle Themen im Zusammenhang mit Zuwanderung, aber auch, wenn es um andere Minderheiten oder um Frauen geht. Schon harmlose Äußerungen haben damit das Potenzial, hysterisiert zu werden. Bestimmte Dinge „darf man sagen“, andere darf man auch sagen – aber nur dann, wenn man Lust hat, sich öffentlich als Rassist, Frauenfeind, islamophob usw. diffamieren zu lassen.
Politiker und Journalisten haben darin eine gewisse Routine entwickelt – daher die vielen inhaltsleeren Phrasen, der unverdächtige Wortschaum, der den Abstand zwischen Bürgern und der Politik immer mehr vergrößert. Der Beruf von Politikern und Journalisten ist es, mit Sprache umzugehen (manchmal können sie sonst auch nichts). Der durchschnittliche Bürger, der sprachlich nicht entsprechend geschult ist, muss sich hilflos fühlen, weil er die Kunst, vor einer Äußerung alle Möglichkeiten des bewussten Missverstehens gedanklich durchzuspielen, nicht beherrscht. Also schweigt er lieber. Und genau das ist es, was die politisch Korrekten wollen, die eigentlich den „herrschaftsfreien Diskurs“ (Jürgen Habermas) zum Maßstab dafür gemacht haben, wie frei und „emanzipiert“ eine Gesellschaft sei.