What is my purpose? (etwa: Was ist mein Zweck/Ziel/Sinn?) – Wer kulturell »up to date« ist und außerdem einigermaßen amerikophil, der verfolgte in den letzten Jahren vielleicht den US-Cartoon »Rick & Morty«. Ein nihilistisches Genie (Rick) und sein etwas doofer, aber wohlmeinender Enkel (Morty) erleben Abenteuer quer durch Raum und Zeit, mit Außerirdischen und in ungezählten parallelen Universen. Wie auch bei anderen Erwachsenen-Zeichentrick-Serien derzeit werden immer wieder existenzielle und philosophische Fragen eingeflochten.
Eine berühmte Mikroszene aus Rick & Morty ist kaum 9 Sekunden lang (sie ist natürlich auf YouTube).
In dieser Miniszene sitzt das zynische Genie Rick mit der Familie seiner Tochter am Esszimmertisch. Er isst Pfannkuchen. Er hat sich einen kleinen Roboter gebaut, der Butter reicht. Es scheint aber, dass der Roboter mehr kann als nur Butter zu reichen, wie etwa über den Sinn seiner Existenz nachzudenken.
Die Szene geht so (ich übersetze):
Kleiner Roboter: »Was ist mein Zweck (purpose)?«
Rick: »Du reichst Butter.«
Kleiner Roboter: »Oh mein Gott…«
Rick: »Yeah, willkommen im Club, Kumpel!« tweet
What is my purpose?
Ein Fuchs existiert, um Fuchs zu sein. Ein Hase existiert, um vorm Fuchs wegzulaufen – und um viele kleine Hasenbabys in die Welt zu setzen. Wenn der Hase eine künstlerische Ader hat, bemalt er Eier und versteckt sie zu Ostern im Garten, aber ansonsten sind Hasen recht stabil, was Sinnsuche und anderes Gedöns angeht. Tiere kennen keine Sinnkrisen (hoffe ich). Selbst eine Kuh denkt nicht darüber nach (und wenn, dann wohl zu spät!), warum die Menschen sie täglich füttern oder, wenn sie Glück hat, auf die grüne Weide führen. Es ist dem Menschen vorbehalten, sich die Freude an seiner Existenz mit Grübeleien über den Sinn eben dieser zu trüben.
Auf der Suche nach Sinn begehen viele Menschen in der Überflussgesellschaft oft zwei immergleiche Fehler:
- Sie glauben, Sinn (und damit: Glück) würde zufällig passieren – das ist ein Irrtum. (Richtig ist: Sinn wird erarbeitet.)
- Sie glauben, Sinn (und damit: Glück) wäre unabhängig von biologischen und sozialen Notwendigkeiten möglich – es ist ein Irrtum.
Ich habe es im Prinzip der Relevanten Strukturen zusammengefasst: Finde heraus, was dir wichtig ist (deine »Kreise«), ordne es konzentrisch an (möglichst in Harmonie mit den Kreisen anderer Leute) und stütze diese Kreise, gewichtet von innen nach außen.
Ey, Alter!
In der Wochenzeitung »Die Zeit« erschien online jüngst die Schlagzeile »Sanierungsstau: Rund 50 Milliarden Euro für Schulgebäude fehlen«, und das Intro: »Nach den Ferien werden viele Klassenzimmer weiterhin nicht renoviert sein: Der Sanierungsstau wird größer, die Kommunen können Instandsetzung und Neubau nicht zahlen.« (zeit.de, 5.8.2018)
Die Debatte – beziehungsweise die Debatten-Fragmente, welche die hauseigenen Aufpasser online gehen ließen – waren spannend. Ein Teil beschäftigte sich tatsächlich ausschließlich mit dem offiziellen Thema. Interessanter waren, wie so oft, die Kommentare, die Pushback erhielten.
Man trifft ja manchmal auf Menschen, die darüber klagen, dass sie so wenig Geld haben, und dann sieht man, wie sie ihr teures iPhone herausziehen und ihren 5€-Sahnekaffee bestellen, und man möchte ihnen sagen: »Ey, Alter, hör auf mit dem Verschleudern, dann biste weniger arm, Alter!« – Eine der sichersten Methoden, arm zu werden, ist es, reiche Leute noch reicher zu machen. Solche Sprüche mögen die nicht, selbst wenn sie halb im Scherz gemeint sind. Mit Leuten, die Scherze nicht mögen, verscherzt man es sich besonders schnell.
Einige der Kommentare unter jenem Zeit-Artikel kritisierten den Staat in einem ähnlichem Geist, wie man den Geldverplemperer ermahnt. Sie sagten, sinngemäß: Wenn der Staat kein Geld für die eigenen Kinder hat (50 Milliarden Euro fehlen), warum gibt er Geld für fremde Leute aus (mind. 70 Milliarden bis 2022, laut dw.com, 19.5.2018)?!
Die Situation erinnert an diesen Menschen, der Geld etwas zu freizügig für ach-so-wichtige Markenprodukte ausgibt – aber ganz und gar nicht gern davon hört. Doch, dies ist online, und selbstverständlich gab es Leute, die das Offensichtliche erwähnten. Heute würde es nicht nur ein Kind mutig rufen – heute würden tausend Online-Kommentare darauf hinweisen, dass der Kaiser nackt ist! (Heute würde der Zensor kommen und Hinweise darauf, dass der Kaiser nackt ist, als »HateSpeech« deklarieren und verbieten lassen.)
Nun, die Reaktionen auf die Hinweise auf das Missverhältnis zwischen der fehlenden Summe (für Schulen) und der ausgegebenen Summe (für Einwanderer) wurden in den Kommentaren verschieden behandelt.
Manche wurden direkt gelöscht und durch einen Hinweistext ersetzt: »Entfernt. Bitte bleiben Sie beim Thema. Danke, die Redaktion/kno« (Kommentar #2)
Ein Kommentator war vorsichtiger. Um den Zensor zu umgehen, notierte er nicht den Vergleich selbst, sondern die Leerstelle, die entsteht, wenn das Offensichtliche nicht ausgesprochen werden darf. User »Progenitor« schreibt:
»Aber für andere Sachen sind die Milliarden kein Problem. Aber das darf man ja nicht sagen, denn das wäre schlimme rechte Hetze…« (#17) tweet
Mancher vergleichende Kommentare wurde zwar bald gelöscht (#23), hatten aber noch vor ihrer Löschung einen oder mehrere Gegenkommentare aus dem linken Lager getriggert: Es gab Probleme mit Schulen schon vor 2015 (z.B. #23.1).
Und dann gab es die Kommentare, die mit einem besonders interessanten Kommentar seitens der Redaktion ersetzt wurden, etwa #45 (und auch #45.3): »Entfernt. Bitte begründen Sie Ihren Standpunkt sachlich und differenziert und verwenden Sie entsprechende Quellen. Danke, die Redaktion/kno«
Aus den übrigen Kommentaren lässt sich darauf schließen, dass da jemand tatsächlich die Ausgaben für Merkels Einladungspolitik und die Fehlbeträge für Bildung aufrechnete. Es wird gefordert, Quellen für das Offensichtliche zu bringen – dabei ist es eine Gegenüberstellung zweier Fakten, die für sich genommen niemand bestreitet. Sinngemäß sagen die Kritiker: »Warum ist der Regierung das eine wichtig und das andere offensichtlich weniger. Das ist unfair!« Die Zeit-Mitarbeiter werfen sich in der Sache vor die Kanzlerin, und argumentieren sinngemäß: »Kannst du mir nachweisen, dass die Wichtigkeit des einen zur Unwichtigkeit des anderen geführt hat? Nein? Also halt die Klappe.« (Wobei es Unsinn ist: wer auch nur ein klein wenig von Kommunalpolitik weiß, dem ist bewusst, dass und wie Mittelverteilung gewichtet wird – gewichtet werden muss.)
Krieg um Wichtigkeit
Dieser kleine Zwist zwischen den rechtgläubigen Moderatoren und den kritischen Lesern, die tatsächlich noch die Hoffnung haben, frische Luft in die abgeschlossene Zeit-Welt zu bringen, ist auf den ersten Blick nur ein Stürmchen in einer Kommentarspalte. Auf den zweiten Blick aber ist es mehr.
Im Text »Die Freiheit nehm ich mir«, einem meiner frühen Blogtexte, habe ich vom »Krieg um Wichtigkeit« geschrieben:
»Es herrscht ein Krieg. Der Krieg, den wir hier meinen, dreht sich nicht um Land, nicht um Öl, sondern um Wichtigkeit. Darum, was wir »Normalos« wichtig finden.«
Die Zeitungsmacher schreiben von der Schulkrise, doch sie wollen dem Leser abtrainieren, die offensichtlichste aller Fragen zu stellen: Wenn die Regierung einfach so viele Milliarden für Fremde lockermachen kann, warum ging und geht das nicht für unsere eigenen Kinder? Ist das gerecht?
Was sein Sinn ist
Ein Mensch wählt, was sein Sinn ist, doch die Biologie und Gesellschaft geben es ihm ein Stück weit vor. Die meisten Menschen spüren einen Drang zum Kindergroßziehen – und würden sie es nicht tun (oder würden sie es durch Konsumablenkung oder Karriere verdrängen), würden sie aussterben. Die meisten Menschen spüren einen Drang, einer Tätigkeit nachzugehen, die von ihrer Umgebung geschätzt wird. Ob Künstler, Ärzte oder Straßenschläger – jeder will zumindest von seiner Peergroup in seinen Handlungen anerkannt werden, ob es nun ein Antifa-Terrorist ist, der eine Moschee anzündet, oder ein Arzt, der einer Mutter das Leben rettet – jeder hat sein eigenes Verständnis von Moral, und diese Moral ist immer wesentlich mit der Anerkennung durch (damit: Einbettung in!) die erlebte Gesellschaft verbunden.
Der Staat hat den Sinn, den er sich selbst gibt – theoretisch. Praktisch muss der Staat das Wohl der eigenen Bürger zum ersten Zweck und Ziel haben.
Leser fragen mich manchmal: »Wen kann und soll man heute wählen?« – Meine Antwort beginnt mit Gegenfragen: »Was ist Ihrer Meinung nach der erste Sinn des Staates? Wen soll er zuerst schützen? Welche Zukunft soll er vorbereiten? Wählen Sie die Partei, der Sie zutrauen, für diesen Sinn zu stehen – auch nach der Wahl.«
Der Sinn eines Staates ist es, die Sicherheit, den Wohlstand und die Freiheit seiner Bürger möglich zu machen. Genau genommen: Der Staat muss an der zukünftigen Sicherheit, dem zukünftigen Wohlstand und der zukünftigen Freiheit des Bürgers arbeiten – heutige Sicherheit, heutiger Wohlstand und heutige Freiheit sind Ergebnis staatlicher Handlungen aus früherer Zeit.
(An dieser Stelle erkennen wir auch eines der größten Probleme von Demokratie: Wer im Westen gewählt werden will, fühlt sich motiviert, jetzt und gleich Geschenke zu verteilen – während etwa China mehrere Jahrzehnte und Generationen nach vorne denken kann.)
Die Zensoren und Moderatoren, die etwa bei Leitmedien und geheimnisvollen Konzernen gegen unerwünschte Meinungen und Fakten kämpfen, sind – ob sie sich selbst so sehen oder nicht – die Fußsoldaten im Krieg um die Wichtigkeit.
Als dass er Butter reicht
Der Mensch, der weiß, welche relevanten Strukturen er stützen möchte, hat seinen Sinn gefunden.
Der kleine Roboter bei Rick & Morty fragt, was sein Sinn sei. Als er die Antwort bekommt, ist er nicht begeistert, aber er findet sich ab. Was wäre eigentlich herausgekommen, wenn der Roboter sich selbst gefragt hätte? Wäre er mit einem »ich weiß es nicht« zufriedener gewesen?
Menschen fragen sich selbst, was ihr Sinn ist, und das ist gut so. Die Bürger sollten auch den Staat, also gewissermaßen sich selbst als Kollektiv, fragen, was ihr Sinn ist.
Was ist der Sinn des Staats? Was sind die relevanten Strukturen, die der Staat zuerst zu stärken hat?
Das sollte die Schlüsselfrage sein, die der Bürger vor Wahlen stellt: Was sind die relevanten Strukturen des Staates? Ist das moralische Gefühl oder die Sicherheit wichtiger? Die eigenen Bürger oder die Bürger anderer Staaten? Die Gegenwart oder die Zukunft?
Bei den US-Wahlen 2016 sagten überraschend viele US-Bürger der Medienklasse: Uns sind unsere Jobs und unsere Sicherheit wichtiger als eure Erregung des Tages. Und wir vertrauen Trump eher, das zu stärken, was uns wichtig ist.
Das sind die Fragen, die sich jeder Demokrat vor jeder Wahl stellen muss: Was sind – in meinem Verständnis – die relevanten Strukturen des Staates? Und: welchem Politiker vertraue ich, basierend auf seinen Taten und Aussagen vor dem Wahlkampf, diese Strukturen auch zu stärken und zugleich ihre Schwächung zu verhindern?
Wir Bürger sollten den Staat von Zeit zu Zeit fragen: Staat, was ist deine Aufgabe? Weißt du das noch? Und der Staat sollte Besseres zu antworten wissen, als dass er Butter reicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.