Am 28. Dezember 1895 führten die Brüder Lumière in Paris zehn ihrer Filme vor. Es waren kurze Filmchen, kürzer als eine Minute, und sie zeigten aus heutiger Sicht denkbar banale Szenen, etwa Arbeiter, die Lumière-Fabrik verlassend oder die Ankunft eines Zuges im Bahnhof – es waren aber 1. bewegte, und 2. projizierte Bilder, eine Sensation also, und die Bürger von Paris zogen sich schick an und zahlten einen Franken, um an diesem Spektakel teilzuhaben.
Nur kurze Zeit später entdeckten auch die Lumière-Brüder einige der Regeln dazu, was das Publikum wirklich sehen will. Bald schon präsentierten sie ein Filmchen, das noch heute auf YouTube für Millionen Klicks sorgen könnte – zwei einander kabbelnde Kinder. (Frage: Ließe sich der neue YouTube-Klassiker »Charlie bit my finger – again«, der auf die eine Milliarde Views zugeht, als ein inspiriertes Remake bezeichnen?)
Auf die erfolgreiche Entwicklung und Einführung des öffentlich vorgeführten Films folgte weniger als ein Jahrzehnt später die Präsentation eines Sujets, das nicht nur weiterhin existiert – man hat den Eindruck, dass es in diversen Variationen die einzige Sparte ist, die als Film zuverlässig funktioniert (und mit »funktioniert« meinen wir: jeweils einen finanziellen Umsatz einspielt, der sich mit dem Bruttosozialprodukt kleinerer Staaten vergleichen ließe) – die Rede ist vom Science Fiction Film, zu dem ich großzügig diverse Superheldenfilme mit ihrem von allen logischen wie irdischen Grenzen befreitem Superpersonal hinzurechne. 1902 präsentierte Georges Méliès den Schwarzweiß-Stummfilm »Le Voyage Dans la Lun« (Die Reise zum Mond), je nach Abspielrate zwischen 9 und 18 Minuten lang und grob auf den Ideen des Autors Jules Verne basierend. (Méliès war eigentlich ein Zauberkünstler, der die Prinzipien der Bühnenzauberei auf die Möglichkeiten des Films übertrug und weiter entwickelte, während die Lumière-Brüder eher Leben und Alltag dokumentierten.)
Die Technologie hat sich seit 1902 gewiss verändert, wenn auch die Prinzipien ähnlich sind, sowohl im Film als auch in den Raumfahrt-Ideen: Menschen sitzen und schauen bewegte Bilder an. Raumschiffe werden mit kinetischer Energie in den Weltraum befördert, mit Ladung an Bord.
Noch eine weitere Sache ist gleich, und die ist eine gewissermaßen notwendige Denklücke. Ob in der »Reise zum Mond« oder in den neuen Marvel-Filmen, von denen Martin Scorsese sagt, sie wirkten auf ihn mehr wie Themenparks denn wie Kinofilme (variety.com, 4.10.2019). Science Fiction ist immer ein Gedankenexperiment (besonders rein durchdekliniert etwa von Philip K. Dick).
In Gedankenexperimenten werden einige wenige Faktoren unserer Welt verändert, während viele andere Aspekte »realistisch« bleiben – und es ist bemerkenswert, was fast nie verändert wird, obwohl es näher liegt als manch andere Phantasie.
Wenn Existenzformen aufeinandertreffen, die sich viele Lichtjahre voneinander entfernt entwickelten, sprechen alle Beteiligten wie selbstverständlich amerikanisches Englisch mit Phantasie-Akzenten, oder es wird mit Hilfe eines Gadgets in Echtzeit übersetzt (etwa dem Babelfisch bei Douglas Adams), oder man nimmt einfach hin, dass sie in verschiedenen Sprachen sprechen, nebenbei untertitelt für den Zuschauer, und irgendwie verstehen sich dann doch alle, wie der bellende Hund Lassie immer verstanden wurde.
Die Denklücke der allermeisten dieser Science-Fiction-Geschichten (eine Lücke, ohne welche, das sei zugestanden, diese Geschichten kaum möglich wären und gewiss ihre Funktion als Parabel oder auch nur spannende Unterhaltung verlieren würden), der eine Part, den die meisten Autoren übergehen, ließe sich etwa so formulieren: Außerirdische Lebensformen würden nicht nur andere Sprachen sprechen, sondern auch dann, wenn sie in Schallwellen redeten, in ganz anderen Begriffen »denken« als wir – und deren »innere Rechenprozesse« hätten mit unserem »Denken« wahrscheinlich genau gar nichts zu tun.
Wir können nur raten, was unser Hund denkt. Wir rätseln ein Leben lang, was im Kopf unseres Lebenspartners vorgeht. Etwas besser können wir uns in unsere Kinder hineindenken, denn wir waren selbst mal Kinder, aber nie mit uns selbst verheiratet – und selbst wenn: Wie oft verstehen wir uns selbst nicht! Wie oft blicken wir auf unsere Taten von gestern zurück und fragen uns, was um aller gutmütigen Außerirdischen Willen wir uns dabei gedacht haben! Und davon, wie und was der gebratene Fisch, das Hühnchenfilet oder das Steak auf unserem Teller einst dachte, was für Ideen seinen Geist beschäftigten, davon wollen wir uns ja keinen Begriff machen. Aber bei Außerirdischen aus fremden Galaxien, da tun wir so, als würden wir ihr Denken, nach schneller Übersetzung der Worte, verstehen können.
»Es wird keine Normalität geben«
Es ist Anfang Mai 2020, und der deutsche Staatsfunk wird in seinem »Framing« selbst für Staatsfunk-Verhältnisse aggressiv. Das Mäntelchen vermeintlicher journalististischer Neutralität, so es je mehr war als die neuen Kleider jenes Kaisers, ist fürs Erste vom Ersten wie auch vom Zweiten wohl abgelegt.
Ein Herr Rainald Becker, dem Titel nach ARD-Chefredakteur, beschimpft in den Tagesthemen die Kritiker der Merkeldoktrin zum Lockdown in Worten, die man sonst aus ganz anderen Regierungsformen kannte (für folgende Zitate siehe @tagesthemen, 6.5.2020). Von »Wirrköpfen« ist die Rede, und »Schnelligkeit« habe bei jenen, die der Gottgleichen in Demonstrationen widersprechen, über den »Verstand« gesiegt, von »Spinnern und Coronakritikern« hört man in der Hetztirade im Abendprogramm des deutschen Staatsfunks. Die drohende düstere Prophezeiung, folgend auf die Hetze und Beleidigungen: »Es wird keine Normalität geben wie vorher.«
Es ist soweit. In Deutschland werden Abweichler wieder in Nähe seelischer Verwirrung gerückt. Wer heute sich zu glauben erdreistet, was vor kurzer Zeit als offizielle Wahrheit galt, der wird als »Wirrkopf« und »Spinner« verhöhnt – eben noch wurde die heutige »offizielle Wahrheit« ebenfalls zu einem »psychologischen Massenphänomen« wegerklärt (siehe »Corona-Virus? ›… alle erstmal durchatmen‹!«). Es ließe sich in etwa so bebildern: »Die Vergangenheit war veränderbar. Die Vergangenheit war nie verändert worden. Ozeanien führte Krieg mit Ostasien. Ozeanien hatte immer Krieg gegen Ostasien geführt.« (Ja, das ist ein Orwell-1984-Zitat von der täglich neu angepassten offiziellen Wahrheit.)
Die Tirade des Staatsfunkers endet da noch nicht, oh nein. Er bezieht sich tatsächlich auf intellektuelle Größen wie Madonna und Robert de Niro (und wohl auch 200 nicht namentlich genannte »Künstler und Wissenschaftler«, was auch immer das heute noch bedeutet, hier übrigens ein Forbes-Artikel zu de Niros Hotel-Geschäften, hier ein Link zu den Hotels selbst), und man fordert, nach der Krise »Wirtschaft, Lebensstil und Konsumverhalten grundlegend zu verändern«. Die weltweite Pandemie müsse »zu etwas Neuem führen«. Er mündet schließlich in einer Verteidigung der Kanzlerin, die keinesfalls »entmachtet« sei, und das Land sei gut durch die Krise gekommen, »weil Angela Merkel Kanzlerin ist« – just Staatsfunk being Staatsfunk – und es schließt mit dem obligatorischen Beschimpfen von Trump und anderen Hassfiguren des deutschen Staatsfunks.
Wir begreifen nicht – nicht alles
Das Denken eines Staatsfunkers ist mir sehr fremd. Ich kann in der Hetze, wie deutsche Staatsfunker sie absondern, wenig erkennen, das sich mit meinem Begriff von »Gewissen« oder »Anstand« verbinden ließe.
Was hat das Denken des Menschen mit dem Denken der Fische gemeinsam? Was hat mein Denken mit dem Denken, Fühlen und moralischen Urteilen eines Staatsfunkers gemeinsam? Wenig, sehr wenig.
Von »uns hier unten« begreift niemand, was derzeit wirklich passiert. Deutschland teilt sich heute in zwei Gruppen – in die gelähmte, gehorsame Mehrheit, und in uns, die kleine, ratlose und doch suchende Minderheit. Sie und ich sind Teil einer Minderheit, die von Staatsfunk, Haltungsjournalisten und auffällig gleich schaltenden Organisationen bedrängt, beschimpft und beleidigt wird. Teil einer Minderheit zu sein, in der Schusslinie des Staatsfunks zu stehen und für das Selbstdenken gehasst zu werden, all das war noch nie ein Zeichen dafür, in der Sache und im Gewissen falsch zu liegen – im Gegenteil.
Wir begreifen nicht, was passiert – nicht alles. (Warum fühlt es sich in Deutschland derzeit gefährlicher an, Bill Gates zu hinterfragen, als die Kanzlerin anzupampen?!) – Uns fehlen die Erklärmodelle, die Muster, die Sprache. Nach Wittgenstein müssten wir alle schweigen – doch das wäre noch gefährlicher.
Die besten Geschichten
In vielen »üblichen« Science-Fiction-Filmen reden die Außerirdischen zwar in anderen Worten als Sie und ich, aber sie denken in denselben Begriffen. Wir verstehen, was denen wichtig ist, und also wissen wir, warum und wogegen der Held kämpfen soll. (Die besten Geschichten sind ja ohnehin oft jene, wo die Motivation des Schurken nicht weniger nachvollziehbar ist als die Protagonisten.)
Ein Staatsfunker, der politische Abweichler als »Spinner« und »Wirrköpfe« diffamiert, aber Madonna als Autorität anruft, so einer denkt offensichtlich in Begriffen, die meinen Begriffen mindestens so fremd sind wie die Begriffe des beseelten Nebelwesens, das drei Galaxien weiter wohnt und sich von elektrischen Schwingungen ernährt.
Unsere Situation ist heute umgekehrt zu den Prämissen der Science-Fiction-Filme. Wir benutzen zwar Worte, die gleich klingen wie die Worte der Staatsfunker (etwa wenn sie wieder gegen Abweichler und Andersdenkende hetzen), doch unsere Begriffe, also die Ideen hinter den Worten (und damit auch unsere »relevanten Strukturen«) sind offenbar vollständig andere.
Welcher Film läuft heute?
Hollywood hat uns ein Jahrhundert lang auf Zombies und Außerirdische vorbereitet, doch ihr Unterricht war so unbrauchbar, wie ihre politischen Ansichten und moralischen Einschätzungen es heute sind.
Hollywood warnte uns vor Zombies, also vor Ex-Menschen, die nur so tun, als würden sie denken – und Hollywoods einfache Lösung war, ihnen allen den Kopf abzuhauen. Nein, es ist genau gar keine gute Lösung, seinen Mitmenschen nur deshalb Gewalt anzutun, weil bei ihnen Gutmenschentum und Haltung stattfinden, wo man Vernunft, Gewissen und, ja, Zweifel erwarten würde. Hollywood warnte uns vor Außerirdischen, also vor Lebewesen, die in ganz anderen Worten reden als wir und auch ganz anders aussehen, aber dann doch ähnlich wie wir denken – man warnte uns nicht vor mächtigen Mitmenschen, deren Worte wie unsere Worte klingen, die aber in sehr anderen Begriffen denken, während sie unser Denken in ihrem Sinne manipulieren (zu wollen scheinen).
Einer der ersten Kassenschlager der Brüder Lumière war ein kurzer Film, der die Ankunft des Zuges in La Ciotat zeigte. Die körnigen, schwarzweißen Bilder des heranfahrenden, leinwandfüllenden Zuges, so berichtet die Legende, ließen die Zuschauer aufschreien und Deckung suchen.
Ich weiß nicht genau, welcher Film heute läuft, und ich misstraue jedem, der es hundertprozentig zu wissen meint. In mir wächst aber das Gefühl, dass da ein Zug heranrollt. Ich meine, einige der Lokgeräusche schon einmal gehört zu haben. Hatten wir nicht in der Schule über Zeiten und Regimes gelernt, wo Abweichler als psychisch verwirrt marginalisiert und zum Feind erklärt wurden?
Nein, ich weiß nicht genau, welcher Film gespielt wird, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass es ein anderer Film ist, als der, für den wir Eintritt bezahlt haben.
Es rollte ein Zug heran, und die Geräusche der Maschine kreischen wenig harmonisch. Ich rate uns allen, aus dem Weg zu springen.
Wir haben fürwahr orwellsche Zeiten erreicht, wenn diejenigen, die das glauben, was der Staatsfunk gestern noch sagte, als »verwirrt« beschimpft werden.
Was sollen wir denn einander raten, in diesen Zeiten, in denen die-da-oben ganz andere Begriffe verwenden als wir, kein mir ersichtliches Schamgefühl mehr aufweisen, mit ganz anderen Waffen kämpfen?
Vielleicht dies: Prüft, welcher Film gespielt wird! Hütet euch vor heranrollenden Zügen! Lasst euch nicht von kabbelnden Säuglingen ablenken!
Oder, in bewährten Worten: Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.