„Gibt’s hier kein Tamoxifen?“, fragt die Patientin in der Apotheke. „Nein“, antwortet die Apothekerin, „hier gibt’s keinen Fiebersaft. Kein Tamoxifen gibt’s in der Nachbar-Apotheke.“ So könnte der berühmte Bananen-Witz über den Versorgungsmangel im DDR-Sozialismus auf die deutsche Arzneimittel-Mangelwirtschaft in der Lauterbach-Ära übertragen werden.
Allerdings ist der Mangel bei den beiden genannten Arzneimitteln für die Betroffenen alles andere als witzig. Verzweifelte Eltern beim Betteln um eine Saftzubereitung für ihren hochfiebernden Säugling oder Tausende von Brustkrebspatientinnen, die von Apotheke zu Apotheke irren in der Hoffnung auf irgendwelche Restbestände von Tamoxifen: Dass solche Bilder und Berichte den amtierenden Gesundheitsminister nicht aus seiner Corona-Blase zu locken vermögen, ist ein Armutszeugnis für unser Land.
Derzeit über 300 Lieferengpässe gemeldet
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listet akribisch die von den Herstellern gemeldeten Lieferengpässe auf. Solche Engpässe müssen gemeldet werden, wenn ein „versorgungsrelevantes“ Medikament über voraussichtlich mehr als zwei Wochen nicht mehr im üblichen Umfang geliefert werden kann. Inzwischen liegt die Zahl der gemeldeten Lieferengpässe bereits bei über 300. Nicht alle Lieferengpässe sind direkt mit einem „Versorgungsengpass“ gleichzusetzen. Davon spricht man erst, wenn keine Alternativpräparate zur Verfügung stehen.
Doch auch wenn der Lieferengpass „nur“ einen Wechsel des verwendeten Präparats erfordert, so ist dies nicht immer einfach umzusetzen. Pflegende Angehörige können ein Lied davon singen, was es bedeutet, wenn die Großmutter von der gewohnten großen roten Kapsel auf die kleine grüne Tablette umgestellt werden muss. Auch den Apotheken beschert das Liefer-Chaos erhebliche Mehrarbeit. Inzwischen muss jedes Apotheken-Team im Durchschnitt mehr als 5 Stunden pro Woche für das Management der Lieferengpässe aufwenden.
Intransparenz der Herstellung als Hauptursache
Die Ursachen für die gemeldeten Lieferengpässe sind nicht immer einfach zu erkennen. Das liegt auch daran, dass bereits die Arzneimittelherstellung sehr intransparent verläuft. So weiß hierzulande niemand, ob die bei den Bundesoberbehörden registrierten Hersteller die betreffenden Arzneimittel auch tatsächlich herstellen oder ob diese Hersteller inaktiv sind. Ebenso ist unbekannt, wo genau auf der Welt die jeweiligen Arzneimittel selbst oder auch ihre Wirkstoffe, Hilfsstoffe oder Zwischenprodukte hergestellt werden. Oft werden nur einzelne Komponenten im Ausland hergestellt, die Tablette selbst dann aber in Deutschland gepresst.
Neben dieser generellen Black-Box-Problematik der Arzneimittelherstellung werden immer wieder folgende Gründe für Lieferengpässe genannt:
- Die weitgehende Konzentration der Arzneimittelherstellung auf fünf Provinzen in China und vier Bundesstaaten in Indien,
- die Corona-bedingten Lockdowns in China und Indien,
- die fehlende Meldepflicht der Hersteller bereits für drohende Engpässe,
- die Rabattverträge der Krankenkassen mit Beschränkung der Zahl der teilnehmenden Hersteller.
Asiatische Produktionsstätten und Rabattverträge in der Kritik
Die Störung der Lieferketten durch die Lockdown-Problematik insbesondere in China hat das Problem der allmählichen Produktionsverlagerung nach Asien in den Fokus des Interesses gerückt. Wurden im Jahr 2000 noch 59 Prozent der Wirkstoffe in Europa produziert und 31 Prozent in Asien, so hat sich das Verhältnis inzwischen umgekehrt: 2020 wurden bereits 63 Prozent der Wirkstoffe in Asien produziert.
Berücksichtigt man zusätzlich, dass in Asien europäische Produktionsstandards – sowohl hinsichtlich möglicher Verunreinigungen als auch bezüglich der Arbeitsbedingungen – nicht durchgehend eingehalten werden, sollte eine teilweise Rückverlagerung nach Europa durchaus erwogen werden. Ja, das würde Jahre dauern und hätte auch seinen Preis. Aber zumindest sollte eine Gesellschaft diskutieren dürfen, ob sie bereit ist, diesen Preis für ihre Qualitätsstandards und ihre Versorgungssicherheit zu bezahlen.
Der Lieferengpass und auch Versorgungsengpass bei Tamoxifen, einem bei der Brustkrebsbehandlung bedeutsamen Antiöstrogen, hat allerdings gezeigt, dass auch ein weitgehend in Europa hergestellter Wirkstoff betroffen sein kann. Über die Ursachen wurde heftig gestritten. Die Hersteller haben die Rabattverträge der Krankenkassen verantwortlich gemacht, während diese wiederum auf „vielfältige Faktoren“ hinwiesen und von den Herstellern mehr Transparenz verlangten.
Auffällig bleibt immerhin, dass die Anzahl der nicht verfügbaren Rabatt-Arzneimittel mit 16,7 Millionen Packungen im Jahr 2020 recht hoch ist. Zwar macht das nur rund 2,5 Prozent aller verordneten Arzneimittel aus, aber bei den vier besonders betroffenen Gruppen lag dieser Anteil deutlich höher: bei Blutdrucksenkern, dem Diabetesmittel Metformin, dem Säureblocker Pantoprazol und dem Schmerzmittel Ibuprofen.
Besonders betroffen waren auch die Saftzubereitungen des Schmerz- und Fiebermittels Paracetamol, was viele Eltern von Säuglingen zur Verzweiflung getrieben hat. Hier wurden die Festbeträge von den Krankenkassen offenbar derart niedrig angesetzt, dass die Hersteller in den letzten Jahren scharenweise aus dem Markt gedrängt wurden. Und der einzig verbliebene Hersteller kann die Nachfrage nicht allein bedienen. Vielleicht sollten die Krankenkassen bei der künftigen Festlegung von Festbeträgen die alte Handwerker-Regel für das Festziehen von Schrauben beherzigen: Nach „fest“ kommt „kaputt“!
Wo ist Lauterbach?
Es ist kein Zufall, dass die Lieferengpässe ausgerechnet in der Lauterbach-Ära derart zunehmen. Denn wenn es um Gesundheits-Probleme außerhalb der Corona-Blase geht, wird immer wieder offensichtlich: Der Minister liefert nicht!
Dabei gäbe es für ihn genug zu tun: größere Transparenz bei der Arzneimittelherstellung, Anreize für europäische Hersteller bei besonders versorgungsrelevanten Arzneimitteln, Einrichtung von Frühwarnsystemen oder die Durchforstung der Rabattverträge auf Engpassrisiken sind nur einige der vernachlässigten Anliegen.
Doch wie bei allen anderen relevanten Versorgungsproblemen glänzt der monoman auf sein vermeintliches Erfolgsvirus fixierte Minister auch bei den Arzneimittel-Lieferengpässen mit Schweigen und Untätigkeit.
„Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?“, fragte Marcus Tullius Cicero am 7. November 63 v. Chr. im römischen Senat den Verschwörer Catilina. Also: „Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld missbrauchen?“ Zwar hat sich Karl Lauterbach – soweit bekannt – nur dem Corona-Virus verschworen, aber im Deutschen Bundestag hätte ihm diese Frage längst gestellt werden müssen.
Dr. med. Lothar Krimmel, Facharzt für Allgemeinmedizin, war von 1992 bis 2000 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und ist damit ein genauer Kenner des Medizinsektors.