Auf den ersten Blick habe ich mich wirklich über den Tweet von Karl Lauterbach gefreut: „Mit Dauer Covid Krise werden immer mehr Menschen depressiv“. Na danke, genau mein Reden. Endlich beschäftigt sich ein Politiker mal mit diesem Thema, anstatt die schweren psychischen Folgen der Corona-Maßnahmen einfach zu verleugnen. Bevor ich so richtig euphorisch wurde, machte ich allerdings den Fehler, den Tweet weiterzulesen: „Das liegt nicht am Shutdown, sondern an der Bedrohung durch das Virus selbst“.
„Die Bedrohung durch das Virus selbst“ ist nach heutigem Kenntnisstand nicht besonders viel größer als die Gefahr, die von einem normalen Grippevirus ausgeht. Politiker wie Lauterbach rennen bei besonders ängstlichen Menschen mit irrationaler Panikmache aber natürlich offene Türen ein. Für sie gibt es nichts Schlimmeres, als das Gefühl von Ohnmacht, Unsicherheit und Hilflosigkeit – Corona, die unsichtbare und tödliche Gefahr, ist also ihr ultimativer Albtraum. Eine junge Frau, mit der ich wegen einer therapeutischen Sprechstunde telefonierte, schilderte mir mit zitternder Stimme sehr ausführlich, wie die Angst vor dem Virus ihr ganzes Leben vereinnahmt. Sie hat seit Wochen kaum noch das Haus verlassen, weil jeder Kontakt mit anderen Menschen zu schweren Panikattacken führte. Aber selbst in der völligen Isolation ließen sie ihre Ängste nicht los – für einen neuen Schub reichte jedes noch so kleine Halskratzen oder Niesen. Nichts beschäftigte sie mehr als die Angst, krank zu werden und damit ihr letztes bisschen Kontrolle zu verlieren.
Ich glaube, dass die Kontaktverbote bei vielen Menschen das Auftreten von alten und neuen Neurosen auslösen, weil sie ihnen das Gefühl von Sicherheit und emotionaler Nähe wegnehmen – ihnen also sozusagen den Boden unter den Füßen wegreißen. So etwas ähnliches beschrieben mir übrigens auch die Leute, die wegen der Berufsverbote plötzlich ihren Job und damit ihre gesamte Existenzgrundlage verloren haben. Dieses offensichtliche Problem wird Herr Lauterbach bei seiner ganzen Arbeit wahrscheinlich kurzzeitig vergessen haben. In diesem Punkt widerspricht der Leitfaden zur Behandlung von psychischen Störungen, den er seinem Tweet angehängt hat, nämlich seiner eigenen Aussage. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, die das Positionspapier am 26.11.2020 veröffentlicht hat, spricht nämlich explizit von einer „der weltweit größten Gesundheits- und Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts“ und nennt als besondere Risikogruppen für das Auftreten psychischer Störungen unter anderem Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Existenzsorgen bedroht sind.
Ich muss Ihnen deshalb leider widersprechen, lieber Herr Lauterbach: Der Shutdown ist nicht nur einer, sondern der entscheidende Grund für die steigende Zahl von depressiven Erkrankungen. Die Menschen werden depressiv, weil sie all ihre sozialen Kontakte verlieren und damit aktiv in die Einsamkeit und Unsicherheit gestürzt werden. Wer sowieso schon ängstlich ist, verliert unter diesen Bedingungen jeglichen Halt und verfällt in Panik. Das alles verdanken wir einer politischen Agenda.
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.