Tichys Einblick
Demonstratives Desinteresse

Lauterbach im Faktencheck: Keine psychischen Erkrankungen durch Lockdown?

Karl Lauterbach will bei "Hart aber Fair" nichts von den psychischen Folgen des Lockdowns wissen, dazu wolle er erstmal die Studien sehen. Hier sind sie – dass er sie nicht kennt, ist erschütternd. Die Opfer werden von der Politik offenbar nicht nur im Stich gelassen, sondern verleugnet.

IMAGO/Jens Schicke

Unser neuer Bundesgesundheitsminister ist durch nichts mehr bekannt als durch seine zahlreichen Talkshow-Auftritte – und die lässt er sich auch trotz seines neuen Amtes nicht nehmen. Bei „Hart aber fair“ verteidigte Lauterbach gewohnt verbissen die Corona-Maßnahmen und widersprach der Welt-Journalistin Claudia Kade, als diese auf das maßnahmenbedingte psychische Leid von Kinder und Jugendlichen zu sprechen kommen will.

Lauterbach dementiert die drastischen Folgen von Lockdowns für die psychische Gesundheit der deutschen Bevölkerung – genauso wie er es bereits im Dezember 2020 getan hat (TE berichtete). Er ist der Meinung, das psychische Störungen durch die allgemeine pandemische Lage und die Angst vor dem Virus selbst begründet sind. Aber er irrt noch immer. Der enorme Anstieg psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst-, Zwangs- und Essstörungen stehen mit den Lockdowns und der damit verbundenen sozialen Isolation in direktem Zusammenhang. Womit die Politik am Leid vieler Menschen eine Mitschuld trägt.

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Lauterbach ist der Ansicht, dass die strengen „Schutzmaßnahmen“ der deutschen Regierung eher nicht für die drastische Zunahme psychischer Störungen verantwortlich sei, zumindest gäben das „die Studien“ aus seiner Sicht nicht her. Ohne zu wissen, auf welche Daten sich unser Gesundheitsminister bezieht, vermute ich, dass Herr Lauterbach aufgrund seines neuen fordernden Jobs und der Zeit, die er für die Aufklärung der Bevölkerung in seinen Talkshows benötigt, noch immer nicht dazu gekommen ist, sich „die Studien“ und einfach psychologische Grundsätze näher zu Gemüte zu führen. Sonst hätte er seine Meinung in knapp zwei Jahren Pandemie sicher noch einmal überdacht – denn es gibt inzwischen zahlreiche Studien, Umfragen unter Betroffenen und Ärzten sowie Krankenkassen- und Krankenhausdaten, die einen direkten Zusammenhang belegen.

Nur ein aktuelles Beispiel ist das „CovSocial-Projekt“. In der kürzlich veröffentlichten großangelegten Umfrage der Max-Planck-Gesellschaft wurden über 3.500 Berliner über den Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021 untersucht, um die psychischen Auswirkungen des ersten und zweiten Lockdowns zu ergründen. Dabei kam heraus, dass die Befragten im ersten Lockdown Mitte März bis Mitte April 2020 verstärkt unter „Depressivität, Ängsten, Einsamkeit und Stress“ gelitten haben. Nach Lockerung der Maßnahmen – als die Menschen wieder mehr soziale Kontakte hatten – , habe sich die Gefühlslage der Berliner wieder deutlich verbessert, auch wenn das Ausgangsniveau (also das Niveau vor Beginn der Pandemie) nur selten wieder erreicht wurde.

Während des zweiten Lockdowns von Oktober 2020 bis ins Frühjahr 2021 sei die psychische Gesundheit der Teilnehmer dann erneut gesunken, um am Ende „den bisherigen Tiefpunkt im Verlauf der Pandemie“ zu erreichen – „Depressivität, Einsamkeit und Stress nahmen mit jedem Monat, den der Lockdown weiter anhielt, zu.“ Der Anstieg von Störungs-Symptomen steht also in einem direkten zeitlichen Zusammenhang mit der Zeit in der sozialen Isolation.

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Dass soziale Isolation der psychischen Gesundheit massiv schaden kann, ist nicht nur völlig unumstrittener wissenschaftlicher Konsens, es müsste eigentlich auch jedem sofort klar werden, der einmal seinen Verstand benutzt – und der schonmal das Gefühl von Einsamkeit verspürt hat. Menschen sind soziale Wesen, sie brauchen Mimik, Gestik, Berührung, Kontakt und Auseinandersetzung. Sie wollen Sicherheit und Kontinuität – wer kennt das von sich nicht? Und das gilt natürlich besonders, wenn sich ein junger Mensch noch mitten in seiner Entwicklung befindet und noch dabei ist, seine Persönlichkeit, seine sozialen Fähigkeiten und psychische Resilienz, also Widerstandskraft, auszubilden.

Enthält man einem jungen Menschen die lebenswichtigen Bestandteile eines normalen Alltags und damit einer normalen Entwicklung vor, können sich schwerwiegende psychische Krankheiten und sogar kognitive Defizite entwickeln – die Folge sieht man aktuell (wieder) in den Kinder- und Jugendpsychiatrien. Die Kliniken sind voll, es liegen Matratzen auf dem Boden, es müssen Kinder abgewiesen und verfrüht entlassen werden. Wenn ein renommierter Kinder- und Jugendpsychiater, wie etwa Franz Joseph Freisleder von der Heckscher Klinik in München, sagt, dass er solche Zustände in 35 Jahren Berufserfahrung noch nie erlebt habe, sollte das doch zu denken geben. Genau wie die kürzlich veröffentlichten Daten von 27 Kinder-Intensivstationen, die einen Anstieg der Suizidversuche von 300 Prozent im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten und von 400 Prozent im Vergleich vom ersten zum zweiten Lockdown belegen.

Für viele ist es schon zu spät

Generell: Seit wann sind Berichte von Ärzten nicht mehr aussagekräftig? Es scheint, als würde man in der Politik nur noch bestimmten Ärzten und Virologen Gehör schenken. Als würden Ärzte und Psychologen, die über psychische und psychosomatische Maßnahme-Folgen berichten, nicht wahrgenommen – oder nicht für voll genommen. Fakt ist doch, dass etliche Psychiater und Kinderärzte von den katastrophalen Auswirkungen der Lockdowns und Schulschließungen berichten und dabei explizit auf die soziale Isolation als Ursache hinweisen. Etwa Dr. Jakob Maske, Sprecher der Kinder- und Jugendärzte vom Landesverband Berlin: Er setzte sich immer für die Offenhaltung der Kitas und Schulen ein und sagte im Mai 2021: „Es gibt psychiatrische Erkrankungen in einem Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben.“

Sein Kollege Martin Karsten, ebenfalls Kinderarzt in Berlin, sagte der Bild: „Ich sehe Kinder, die sich ritzen oder die Essstörungen entwickelt haben. Es gibt auch immer wieder Kinder, die so was sagen wie: ‚Ich will unter diesen Umständen nicht mehr leben, was bringt mir das denn, wenn ich meine Freunde nicht sehen kann?‘“ Und auch der Chef der Innsbrucker Kinderklinik, Thomas Müller, brachte es auf den Punkt: „Wir sehen die Infizierten, aber wir sehen nicht, wie viele psychiatrische Neudiagnosen oder stationäre Aufnahmen, auch in den Erwachsenenpsychiatrien, wir haben. Diese soziale Isolation ist ein Riesenschaden, der schwer messbar ist.“

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Wenn das alles Herrn Lauterbach noch nicht reichen sollte, um zu erahnen, dass nicht alleine die Angst vor einem Virus zu so gravierenden Folgen führt, empfiehlt sich zusätzlich ein Blick in die Vergangenheit. Schon bei der SARS-Epidemie im Jahre 2003 in Asien haben sich Menschen isoliert, um sich und andere vor dem Krankheitserreger zu schützen. Bereits damals belegten Studien, dass diese Menschen häufiger an Ängsten, Schlaflosigkeit oder allgemeinen Stresssymptomen litten. Und auch damals konnten längere Zeit nach Beendigung der Quarantänemaßnahmen bei einigen Menschen noch depressive Symptome nachgewiesen werden – denn psychische Leiden gehen nicht einfach per Knopfdruck wieder weg.

Selbst wenn der Auslöser für das Auftreten einer psychischen Erkrankung aus dem Leben verschwindet, braucht es oft jahrelange Therapien, um einem Menschen zu helfen, seine Ängste und Depressionen zu überwinden oder überhaupt nur abzuflachen. Viele Menschen werden ihre Erkrankungen nie wieder los, müssen ihr Leben lang Medikamente und/oder Hilfe in Anspruch nehmen. Das könnte auch eine mögliche Erklärung für Herrn Lauterbachs Aussage sein, dass es auch in anderen Staaten wie den USA, die deutlich „weniger gemacht haben“, einen Anstieg der Fallzahlen gäbe. Die USA hatten genau wie wir Lockdowns und Schulschließungen – selbst wenn sie vielleicht kürzer waren und selbst wenn keine neuen kommen sollten, der Schaden ist bereits angerichtet. Dort, wie hier.

Deshalb sollte Herr Lauterbach seine Aussage vielleicht nochmal überdenken. Natürlich gibt es viele Menschen, die Angst vor dem Corona-Virus haben – woran die Panikmache in Medien sicher nicht unschuldig ist –, aber das allein ist nicht die Erklärung für den massiven Anstieg der psychischen Krankheiten in Deutschland und der Welt. Die soziale Isolation durch Lockdowns, Schulschließungen und Homeoffice hat viele Menschen nachweislich in die Verzweiflung getrieben. Dazu kommt die Hoffnungslosigkeit, weil das alles einfach kein Ende nehmen will.

Deshalb müssen wir endlich weg von der restriktiven Corona-Politik und den Lockdowns, zurück in die Normalität. Nur so kann noch Schlimmeres verhindert werden. Und nur so kann bereits angerichteter Schaden vielleicht etwas gelindert werden. Auch wenn es für viele, die dank der Isolation psychische Krankheiten entwickelten, wohl nie wieder ganz normal werden wird.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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