Tichys Einblick
Larmoyanz der Progressiven

Die bitteren Tränen der Katharina S.

Linke besetzen zwar die wichtigsten Schaltstellen im Land. Mit ihren Feinden gehen sie nicht zimperlich um. Trotzdem schaffen es die Progressiven, sich unentwegt als die Bedrängten, Verfolgten und Machtlosen darzustellen. Das macht ihnen so schnell keiner nach.

IMAGO/dts

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Larmoyanz der Progressiven. Die Dauerklage darüber, wie schwer es die Wohlmeinenden mit ihren Ideen hätten, wie sie angegriffen und marginalisiert würden, gehörte bis in die Neunziger zum kommunikativen Grundrauschen in der Gesellschaft. Dann verschwand der Jammer nach und nach in dem Maß, wie Linke nicht nur die Schaltstellen in Medien und Universitäten übernahmen, sondern auch in der Politik. Kabarett, Kulturbetrieb, Presse – alles, was sich in den Kohl-Jahren viel darauf zugutehielt, immer eine kritische Distanz zur Macht zu pflegen – änderten diese Einstellung kommentarlos, als Linke nachhaltig in die Machtpositionen einrückten. Und zwar nach dem Muster: je linker, desto weniger Widerworte. Gegen Rot-Grün unter Gerhard Schröder stichelte der SPIEGEL noch ab und zu. Robert Habeck und Annalena Baerbock gelten heute in der Hamburger Ericusspitze mindestens als Überpolitiker, wenn nicht sogar als Stimmen aus dem brennenden Dornbusch, an deren Botschaft nur wirklich Böse zweifeln können.

Die Progressiven selbst fühlten sich für einen historischen Augenblick so stark, dass sie vorübergehend das Klagen einstellten. Es handelte sich, wie wir heute wissen, um eine kurze Zwischenphase. Progressive Politiker und Medienschaffende beschweren sich, obwohl sie heute die Gesellschaft dominieren, wieder fast wie in alten Zeiten darüber, wie andere mit ihnen umspringen. Neuerdings müssen sie sich nämlich hin und wieder so behandeln lassen, wie sie, die Wohlmeinenden, gewohnheitsmäßig mit ihren Gegnern verfahren. Spätestens dann, finden sie, ist wirklich Schluss mit lustig.

Das meint beispielsweise die staatsfinanzierte Medienplattform Correctiv, die am 10. Januar einen Text über ein angebliches Geheimtreffen eines rechten Verschwörerkreises in Potsdam und dessen Plan zur Massenvertreibung von Migranten mit deutscher Staatsbürgerschaft veröffentlichte. Seit es Correctiv gelang, Informationen, Bilder und möglicherweise auch Tonaufnahmen zu dem privaten Treffen zu erhalten, erschüttern bekanntlich linke Massenkundgebungen gegen Rechts die Republik. Mittlerweile richten sich allerdings auch eine ganze Reihe von Fragen an Correctiv selbst.

Zum einen nach der Finanzierung (bisher gut 2,5 Millionen aus öffentlichen Kassen), nach den Treffen von Correctiv-Leuten mit Regierungsvertretern (11 bekannte Begegnungen, darunter mit dem Kanzler), aber auch immer stärker nach der Stichhaltigkeit der Behauptungen über den angeblichen „Deportationsgipfel“ (SPIEGEL). Recherchen, die sie selbst betreffen, finden die Correctiv-Schaffenden gar nicht gut. Zumal sie sich in immer seltsamere Widersprüche verwickeln, was Quellen und Belege angeht.

„Wir kriegen gerade von AfD nahen Autoren aus Zeitungen, die noch nicht komplett verrückt sind, ähnlich lautende Anfragen im engen zeitlichen Verlauf“, beklagt sich Correctiv-Chef David Schraven auf Linkedin: „Dabei geht es um ähnliche Sachverhalte mit jeweils kleinem anderen Anker. Inhaltlich ist es im Kern darauf angelegt, uns zu diskreditieren sowie die Diskussion auf Nebenschauplätze abzulenken. Das Ganze wird begleitet von einer Welle Bullshit über Social Media. Für mich sieht das aus, wie eine aus interessierter Richtung gesteuerte – recht teure Litigation-PR-Kampagne mit der Kanzlei Höcker im Zentrum. Dazu waren heute rechte Blogger vor unserem Büro, um unsere Kollegen zu filmen und einzuschüchtern.“

Merke: Anfragen mit kurzer Bearbeitungsfrist stellen (und die Antworten dann entweder nicht oder verdreht zitieren), das darf Correctiv. Stellen Medien Fragen an Correctiv, ist es eine „aus interessierter Richtung gesteuerte Kampagne“. Filmt Correctiv heimlich eine Veranstaltung, dann handelt es sich um „Recherchen für die Gesellschaft“. Fotografiert jemand nicht in, sondern vor dem Correctiv-Büro, lautet der Befund: Einschüchterung. Was denn auch sonst?

Die rechtliche Auseinandersetzung mit Correctiv dürfte noch interessant werden.

Keine Frage: Auch die Tatsache, dass Personen, die sich von Correctiv falsch dargestellt und verleumdet fühlen, vor Gericht ziehen, empfinden Schraven und Kollegen mit Sicherheit als ungeheuerlichen Angriff.

In ganz ähnlicher Weise fühlte sich kürzlich die „Süddeutsche“ angegriffen. Attacken beherrscht das Blatt aus München generell gut – im Herbst 2023 etwa auf Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, über den die Zeitung behauptetet, er habe als Schüler ein antisemitisches Flugblatt verfasst, und kürzlich auf AfD-Chefin Alice Weidel, die in der Redaktion praktisch schon als überführt galt, bei ihrer Dissertation abgeschrieben zu haben. Dann kam bekanntlich alles etwas anders: Einen Beleg, dass das Pamphlet von Aiwanger stammte, konnte die Zeitung nicht erbringen, die Plagiats-Vorwürfe gegen Weidel stellten sich als Marginalien heraus – kleine Ungenauigkeiten beim Zitieren, aber nichts, was ausgereicht hätte, um ihren Doktortitel zu gefährden.

Stattdessen befassten sich nun andere mit der „Süddeutschen“, konkret: dem Umstand, dass deren Vize-Chefin in einigen ihrer Artikel abgeschrieben hatte, unter anderem aus Texten der Bundeszentrale für politische Bildung. Darüber berichtete das Fachmagazin „Medieninsider“, was in der Zentrale des Weltblattes aus München für gewaltigen Aufruhr sorgte: Das, hieß es auf einer Redaktionskonferenz, sei ein „Angriff von rechts“, und generell eine Diskreditierung der wohlmeinenden Medien. Als Zitate aus eben dieser Redaktionskonferenz wiederum bei „Medieninsider“ landeten, steigerte sich die Klage der SZ-Führung in ungeahnte Höhen.

Chefredakteur Wolfgang Krach prangerte eine Gefährdung der Pressefreiheit an, und ließ die Telefone der Mitarbeiter überprüfen, um die undichte Stelle im eigenen Haus aufzuspüren. Die „Süddeutsche“ hatte sich zwar gerade redaktionell für das Whistleblower-Gesetz starkgemacht. Aber doch nicht so.

In seinen letzten Akt mündete das Drama aber erst, als sich der bekannte Plagiatsprüfer Peter Weber nun auch die Promotion der SZ-Vize-Chefin vornahm und darin etliche Sätze entdeckte, die so ähnlich auch schon in anderen Texten standen, von ihr allerdings sprachlich etwas frisiert und natürlich nicht als Zitat ausgewiesen worden waren. Dass die „Süddeutsche“ bei Weidel das Plagiat trotz fehlender Belege praktisch schon festgestellt hatte, diente selbstredend der Demokratie. Beim Blick in die Doktorarbeit der Vize-Chefredakteurin handelte es sich dagegen ebenso selbstredend um eine perfide Hetzjagd auf eine progressive Journalistin.

Die Empörungswelle auf X schäumte entsprechend. Und sie erreichte ihren Höhepunkt, als sich Föderl-Schmid kurzzeitig aus der Redaktionsarbeit zurückzog, und offenbar auch für ihre Kollegen nicht erreichbar war. Gleich mehrere Meinungsproduzenten erklärten sie auf X bereits für tot – unter anderen ein Leipziger Grünen-Politiker –, um ansatzlos mit den angeblich Schuldigen abzurechnen.

Zum Glück fand kein Suizid statt, gottseidank nach bisher vorliegenden Informationen auch kein Versuch. Aber trotzdem ging es spätestens jetzt nur noch um diejenigen, die Nachforschungen zu der Promotion der SZ-Vize betrieben hatten. Gleichzeitig erklärten ihre Unterstützer reihenweise, die paar Übernahmen aus ungenannten Quellen in ihrer Doktorarbeit könnten ja wohl nicht so schlimm sein. Jedenfalls, was sie und ihren Doktortitel betrifft. Und überhaupt: In ähnlichen Fällen sollte sich künftig ein antirechter Schutzwall um progressive Journalisten schließen.

Beim nächsten Vorwurf gegen einen Vertreter des rechten politischen Spektrums gilt – das nur als formaler Hinweis – nichts davon: Dann genießt der Verdacht wieder Vorfahrt.

Bewährte Muster sollte man nicht vorschnell ändern. In dieser Beziehung denken auch Progressisten konservativ. Als die Grünen ihre Aschermittwochsveranstaltung in Biberach wegen heftiger Proteste absagten, stellten ihre Politiker und zugeneigte Medienschaffende fest: Hier wurde eine rote Linie überschritten. Öffentliche Veranstaltungen einer Partei verhindern – so etwas dürfte es in einer Demokratie einfach nicht geben.

Das heißt: In die andere Richtung darf es natürlich doch. Und wenn sich der Vorsitzender der Grünen Jugend Timon Dzienus an der Blockade eines AfD-Parteitagsgeländes in Niedersachsen beteiligt („Niemand kommt mehr aufs Gelände, keiner mehr weg!“), dann besteht selbstverständlich kein Anlass zur Sorge, sondern zu Selbstlob.

Dabei muss es nicht immer die Blockade sein, wenn es gegen die eine bestimmte Partei geht. Es gibt auch ganz formale, wenn auch nicht unbedingt legale Wege. Etwa im rheinland-pfälzischen Annweiler: Dort verhinderte die Stadtratsmehrheit mit SPD- und Grünen-Stimmen gerade eine Veranstaltung der AfD im Rathaus, obwohl sie nach der Nutzungsordnung eigentlich politische Neutralität wahren müsste. Die „Rheinpfalz“ lobt den Regelverstoß gegen den politischen Konkurrenten ausdrücklich:

„Der Annweilerer Stadtrat hat mit seiner Absage an die AfD gegen die eigenen Vertragsvorgaben verstoßen“, heißt es dort in einem Leitartikel: „Eine Entscheidung, die Mut und Haltung beweist. (…) Dass die Machtzentrale zu Besuch nach Annweiler kommen soll, um die hetzerischen Parolen der AfD weiter unters Volks bringen zu können, lässt jeden Demokraten erschaudern. Der Stadtrat hat am Mittwoch klare Kante gezeigt und der Partei eine Absage erteilt. Obwohl die Stadt die Anmietung ihrer ‚guten Stube‘ zuvor erlaubt hatte. Als Betreiberin der Veranstaltungsstätte steckt sie in einem Dilemma. Denn deren Nutzungsordnung sieht vor, politische Neutralität zu wahren. Der Stadtrat hat sich entschieden, gegen geltendes Recht zu verstoßen. Bewusst.“

Sollte demnächst irgendwo in Sachsen in einer AfD-regierten Kommune nach gleichem Muster eine Grünen-Veranstaltung ausgehebelt werden, dann führt an einem Handy-Lichtermeer gegen den Faschismus natürlich nichts vorbei. Nie wieder ist jetzt!

Das Gleiche gilt auch für die Aktionen von Wirten einerseits, die bekennen, keine AfD-Wähler zu bedienen, und gefährliche Gastronomen andererseits, die keine Grünen im Haus wünschen: Die einen erhalten Solidaritätsbesuche von Journalisten, die anderen eher unsolidarische von der Polizei.

Das Zahlenverhältnis zwischen Gasthausbesitzern, die Schilder gegen die AfD heraushängen beziehungsweise gegen alle, die sie für Nazis oder rechts halten, und denen, die keine Grünen oder Linken bedienen möchten, dürfte real etwa bei tausend zu eins liegen. In der medialen Verwertung dient allerdings der eine, der Grünen kein Bier servieren möchte, mindestens ein paar dutzend Mal als Beleg für den Druck und die Feindseligkeit, mit denen die Gerechten im Land leben müssen.

Im Herbst 2023 erlebten Grüne wie Katharina „Der Handel muss für Ungeimpfte geschlossen werden“- Schulze in Bayern, was die Bewegung bis heute schwer traumatisiert: Ihr und anderen Parteimitgliedern zischten im Bierzelt während des Wahlkampfs Pfiffe und Buhrufe um die Ohren. Der Buh-und Hau-ab-Rufer-Chor gehörte zwar früher zu fast jedem Wahlkampfauftritt Helmut Kohls, er formierte sich zuverlässig aus Jusos, jungen Grünen und Antifa. Aber dass sie es einmal selbst treffen könnte – das glaubten die Verfechter des Guten noch nicht einmal so richtig, als es dann tatsächlich passierte. Katharina Schulze schaltete damals nach ein paar Schrecksekunden zügig um – von der gefühlten Innenministerin einer schwarz-grünen Regierung, die Ungeimpfte eben mal aus dem sozialen Leben befördern wollte, zur Schmerzensfrau der bedrängten und gehetzten Grünen.

An ihr großes Vorbild Claudia Roth reicht sie trotzdem nicht ganz heran. Die sagte einmal im Stern-Interview, als der Journalist sie nach ihrer ausführlichen Klage über die Angriffe auf die Grünen darauf hinwies, gerade in ihren Anfangszeiten sei ihre Partei ja auch ziemlich robust vorgegangen, an der Startbahn West und anderswo: „Aber wir hatten ja ein politisches Anliegen.“


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