Vergleicht man das amtliche Endergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt mit den Umfragen der führenden demoskopischen Institute wenige Tage vor der Wahl, stellt sich wieder einmal die Frage, wie es dazu kommt, dass die Wähler sich offenbar ganz anders entscheiden, als von den Instituten vorhergesagt. Hätten die Institute nicht öffentlich über Wochen von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD sowie über einen möglichen Wahlsieger AfD berichtet, läge das tatsächliche Wahlergebnis vermutlich deutlich näher an ihren Umfrageergebnissen. Diese verorteten am 03. und 04. Juni die CDU noch zwischen 27 und 30 Prozent und die AfD zwischen 23 und 26 Prozent, während das tatsächliche Ergebnis der CDU vom 06. Juni nun 37,1 Prozent und das der AfD 20,8 Prozent beträgt.
Gleiches gilt für das Ergebnis der Grünen, deren Umfrageergebnis bei 8 bis 9 Prozent lag, das tatsächliche Ergebnis jedoch nur für 5,9 Prozent reichte, wie auch für das Ergebnis der SPD, der wenige Tage vor der Wahl mit 10 Prozent ein immerhin noch etwas besseres Ergebnis als die erzielten 8,4 Prozent vorhergesagt worden sind. Lediglich bei der Linken und der FDP trafen die Institute mit Ihren Umfragen recht zielgenau die tatsächlichen Ergebnisse von 11 Prozent für die Linke und 6,4 Prozent für die FDP.
Angesichts solcher Aussichten wanderten am Wahltag nicht nur 61.000 Nichtwähler, sondern auch 22.000 Wähler der SPD, 18.000 Wähler der Linken, 11.000 Wähler der FDP und 5.000 Wähler der Grünen zur CDU. Den zweitgrößten Zuwachs erhielt die CDU darüber hinaus von AfD-Wählern, von denen 22.000 ihr Kreuz (wieder) bei einer CDU machten, die sich bei mehreren Themen offen mit konservativen Positionen gegen die Kanzlerin stellte. Sie bekundeten mit ihrer Wahl der CDU gleichzeitig, dass selbst sie den von den Instituten vorhergesagten weiteren Machtzuwachs der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt eher ablehnten als freudig erwarteten. Die von Tino Chrupalla und anderen AfD-Vertretern nach der Wahl beschworene „bürgerliche Mehrheit“ von rund 58 Prozent aus einer konservativ ausgerichteten CDU und einer völkisch ausgerichteten AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt erweist sich auch so weiterhin als eine bloße Fiktion ohne ernstzunehmenden realpolitischen Gehalt.
Dies wirft durchaus erneut Fragen nach der Prognosefähigkeit der demoskopischen Institute und ihrer Rolle bei Wahlen auf, auch wenn diese im Falle der Wahl in Sachsen-Anhalt bislang öffentlich nicht gestellt werden. Welchen Einfluss nehmen die Institute mit ihren Umfragen auf den tatsächlichen Wahlausgang in einer Zeit, in der der Anteil der parteiungebundenen Wechselwähler zusehends größer wird, viele Wähler sich erst am Wahltag für eine Partei entscheiden und diese Entscheidung angesichts immer ungewisserer Koalitionsaussichten verstärkt unter taktischen Erwägungen treffen? Wie stark beeinflussen demoskopische „Sonntagsfragen“ somit den Ausgang von Wahlen? Würden sie anders ausgehen, wenn keine demoskopischen „Sonntagsfragen“ durchgeführt und veröffentlicht würden? Wie und wie stark nutzen die Institute ihren offenkundigen Einfluss auf das Verhalten der Parteien und der Wähler? Und wie nutzen die Parteien zusammen mit den Medien die Institute und deren Einfluss auf das Wahlverhalten wiederum für ihre Ziele und Interessen?
Ob die Union, wie manche Beobachter hoffen, einen solchen Coup bei den anstehenden Bundestagswahlen erneut durchführen kann, steht allerdings in Frage. Ihr stärkster und einziger Gegner beim Kampf um das Kanzleramt sind hier gemäß aktueller Umfragen die Grünen, nicht die AfD. Koalitionen mit den Grünen werden seitens der Union nicht mehr, wie noch zu Zeiten Helmut Kohls und Franz Josef Strauß‘, kategorisch ausgeschlossen, sondern auf Landesebene schon längst praktiziert und auf Bundesebene angestrebt. Kanzlerkandidat Armin Laschet kann daher nicht wie Haseloff vor dem Stimmen- und Machtzuwachs seines stärksten Konkurrenten um den Regierungsvorsitz warnen, der ihn zu einer Zusammenarbeit mit einer Partei zwingen würde, die die Union kategorisch ablehne, um so Nichtwähler und Wähler anderer Parteien für sich zu gewinnen. Diese muss er auf andere Weise dazu motivieren, ihre Stimme (wieder) der Union zu geben.
Hinzu kommt, daß das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Union und den Grünen in den Umfragen seitens der etablierten Medien mehrheitlich nicht als eine Gefahr, sondern als ein Gewinn für die Demokratie dargestellt wird. Wenn die Union versuchen sollte, den Aufstieg der Grünen in den alten Bundesländern ähnlich zu werten wie den Aufstieg der AfD in den neuen Bundesländern, wäre ihr, anders als bei der Wahl in Sachsen-Anhalt, der geballte Widerstand der etablierten Medien, allen voran der öffentlich-rechtlichen, sicher. Dieses Risiko werden die Wahlkampfstrategen um Laschet gewiß nicht eingehen. Sie sind daher gezwungen, die Grünen, anders als die AfD, inhaltlich zu kritisieren, statt sie zu verteufeln.
Sollte es bei dem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Union und Grünen in den Umfragen bleiben, wird Laschet vor diesem Hintergrund Haseloffs Taktik gegenüber der AfD auf den letzten Metern des Wahlkampfs gegenüber den Grünen nicht einfach wiederholen können. Gleichwohl können sich durch sein Vorgehen diejenigen Kräfte in der Union bestärkt sehen, die eine Schärfung des konservativen Profils ihrer Parteien (CDU/CSU) herbeiführen und sie so bis hin zu einem Koalitionsausschluss klar gegen die Grünen abgrenzen wollen. Nur so ließen sich jedenfalls spätestens in der Schlußphase eines Kopf-an-Kopf-Rennens mit den Grünen Wähler für die Union gewinnen, die von der CDU wie der CSU zur AfD oder zu den Nichtwählern abgewandert sind. Ob und wie sich dies in dem in Kürze zu erwartenden Wahlprogramm der Union niederschlägt, muss man freilich erst noch sehen. Erst danach wird sich in den Umfragen auch zeigen, ob Friedrich Merz mit seiner Aussage richtig liegt, der „Baerbock-Zug“ sei seit Haseloffs Wahlerfolg entgleist und das Kopf-an-Kopf-Rennen damit für die Union schon jetzt gewonnen.