Die Polizisten kamen, wenn sie immer kommen, sollen gefährliche Verbrecher festgenommen werden: im Morgengrauen. Im baden-württembergischen Rems-Murr-Kreis, im Ortenaukreis und im Landkreis Reutlingen durchsuchten die Fahnder am 9. Januar dieses Jahres sechs Wohnungen und vier Gastronomiebetriebe. Sie stellten Bargeld, Mobiltelefone, schriftliche Unterlagen und elektronische Datenträger sicher, erklärte nach der groß angelegten Aktion das Landeskriminalamt Baden-Württemberg.
Die vier Festgenommenen im Alter von 36, 40 und 47 Jahren sind italienische Staatsangehörige. Ihnen wird von der italienischen Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft vorgeworfen, als Mitglieder des ’Ndrangheta-Clans Farao-Marincola ihre kriminellen Aktivitäten in Deutschland auszubauen. Neben Geldwäsche im zweistelligen Milliardenbereich gehört dazu auch der Handel mit Kokain. Das Kokainmarkt-Monopol in Europa gehört der ’Ndrangheta; sauber davon abgegrenzt ist das Monopol für Heroin. Das halten die russisch sprechenden Kollegen der organisierten Kriminalität (OK).
Außer in Baden-Württemberg, dem „Mafia-Ländle“ rund um das „schwäbische Kalabrien“ mit seinen ’Ndrangheta-Operationshauptstädten Stuttgart sowie den im Stuttgarter Speckgürtel gelegenen Orten Fellbach und Waiblingen schlugen die Sondereinsatzkommandos auch in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen zu. Deutschlandweit wurden elf Mafiosi im Alter von 36 bis 61 Jahren festgenommen. Die aufwendige Aktion sorgte für Aufsehen, weil es nach außen hin ruhig um die Clans aus dem Süden Italiens geworden war. Auch der letzte Versuch der Justiz, Mafia-Verdächtige festzunehmen, war im November 2015 kläglich gescheitert. Da verfügte das Oberlandesgericht Karlsruhe die Freilassung von sieben verdächtigen ’Ndrangheta- Mitgliedern, die vier Monate zuvor in Baden-Württemberg festgenommen worden waren. Die Strafvorwürfe aus Italien waren mehr als fünf Jahre alt damit nach deutschem Recht verjährt. Die Männer tauchten nach dem Richterspruch sofort unter.
Wie immer in den vergangenen gut 30 Jahren wurden die deutschen Mafia-Ermittler bei der Aktion Anfang Januar allerdings nicht von sich aus aktiv, sondern als Hilfspolizisten der italienischen Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft in Kalabrien und deren OK-Kripo. Die führten gleichzeitig einen großen Schlag gegen die mächtige ’Ndrangheta aus, die Operation Stige. Über 160 Mafiosi vor allem in Süditalien hörten die Handschellen klicken.
Ein kurzes Schlaglicht wirft die Razzia im Januar darauf, wie erschreckend stark die organisierte Kriminalität auch in Deutschland ist. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen hierzulande offen gemordet wurde – wie in Duisburg am 17. August 2007, als sechs Personen vor einer Pizzeria brutal erschossen wurden. Aber besonders der Südwesten, das reiche Baden-Württemberg, erweist sich bis heute als äußerst beliebt bei den Familienclans, die als Söhne und Enkel italienischer Gastarbeiter oft mit Doppelpässen nach außen hin einen pseudoschwäbischen Lebensstil pflegen: bescheiden beim Geldausgeben, Sparsamkeit in der Küche und die Kehrwoche nicht versäumen.
Doch mit den Gastarbeitern aus Süditalien wurde auch die archaische Omertà-Kriminalität des Schweigens ins „Ländle“ importiert – medial oft als reine Folkoreerscheinung verklärt und faktisch geduldet. Anders als in Italien darf die Staatsanwaltschaft in Deutschland eine Mafia-Mitgliedschaft nicht als Straftatbestand ansehen.
Die Mafia-Geldwäscher finden hierzulande zudem einen großen Hehler, den Fiskus. In der Italogastronomie wird seit Jahrzehnten Schwarzgeld per Versteuerung von Scheinumsätzen gewaschen. So wird von italienischen Kellnern berichtet, dass nach einer Bierlieferung, kaum war der Brauereilastwagen weggefahren, Plastikschläuche an die Zapfähne angeschlossen werden, über die der leckere Gerstensaft dann Fass für Fass in den Ausfluss strömt. Echte Gäste spielen keine Rolle, Bier und anderer Wareneinsatz werden gekauft, in die Kassen gute Umsätze getippt – und versteuert. Fortan ist das Geld aus dunklen Quellen sauber. Der Finanzminister freut sich, der Innenminster verdreht die Augen.
Kein Wunder, dass Deutschland heute das gelobte Land der italienischen Clans ist. „Alles kann gemacht werden, mach nur keinen Lärm“, schreibt die italienische Tageszeitung „Il Fatto Quo tidiano“. Deutschland ist demnach eine Art Großwäscherei für Schwarzgeld.
Besonders erschreckend bei alldem: Die organisierte Kriminalität ist gesellschaftsfähig geworden. Bankett statt Beretta. Das zeigt der Blick hinter die Kulissen der jüngsten Anti-Mafia-Razzia vom Januar. Mit ihr erlebt nach über einem Vierteljahrhundert eine polit-mediale Skandalstory eine dritte Neuauflage. Die wird durch zwei Namen personifiziert: den des schwäbischen EU-Kommissars Günther Oettinger und den des italoschwäbischen – mutmaßlichen – ’Ndrangheta-Paten Mario Lavorato in den Hauptrollen. In den Nebenrollen finden sich dann noch der nach Lavorato zweite Stammwirt des Ex-Ministerpräsidenten Oettinger namens Luigi A. sowie der eines Fischhändlers namens Domenico Palmieri aus dem von Fahndern undienstlich umschriebenen „Mafia-Städtle“ Fellbach.
Die Namen Mario Lavorato und Domenico Palmieri stehen in der aktuellen Festnahmenliste der italienischen Stige-Operation, und alle drei Namen zierten schon 2008 den „Nur für den Dienstgebrauch“-Bericht des Bundeskriminalamts mit dem Titel „Die ’Ndrangheta in Deutschland“.
Bankett statt Beretta
Zu „Lavorato, Mario, geb.31.01.56 in Mandatoriccio“ heißt es da: „Bei den Ermittlungen in Stuttgart und Italien (…) wurde festgestellt, dass der Clan Greco eine Art Unterclan zu dem Clan Farao ist, das heißt, dass der Clanführer des Clans Farao das ,locale‘ Stuttgart unter seinem Einfluss hatte, bzw. hat, und somit auch Lavorato. (…) Die Familie Greco steht in der Hierarchie unter dem Clan Farao.“
Seit 1974 im Raum Stuttgart wohnhaft, sei der Porsche 911-Fahrer Lavorato dann 20 Jahre später wegen Steuerhinterziehung vom Landeskriminalamt Stuttgart erstmals festgenommen und nach Zahlung einer Kaution von zwei Millionen Mark auf freien Fuß gesetzt worden. Das Urteil brachte eine 21-monatige Bewährungsstrafe. Die Steuerschuld von 1,3 Millionen Mark wurde anstandslos bezahlt.
Der Fiskus war in Feierlaune. „Hoch die Mafia-Tassen“ soll es in einem Stuttgarter Steuerfahnder-Kreis geheißen haben, der im benachbarten Wein- und „Mafia-Städtle“ Fellbach die Korken knallen ließ. Und das ausgerechnet in einem italienischen Lokal, das dann Jahre später zusammen mit weiteren drei Fellbacher Kalabresen-Kneipen in den Mafia-Akten der OK-Abteilung der (damaligen) Landespolizeidirektion I auftauchen sollte.
Dort wiederum gab es jedoch jahrelang keinen Grund für Feierlaune. Die schwarzrote Politik und damit auch die Justiz im Ländle hatte den OK Kriminalisten den Mafia-Korkenzieher entzogen. Denn offiziell gab es über Jahrzehnte in Deutschland keine Mafia, wie der mittlerweile verstorbene Frankfurter Autor Jürgen Roth („Mafialand-Deutschland“) 2010 feststellte.
Politisch wie publizistisch wurde beharrlich behauptet, die Mafia sei eine „Quantité négligeable“. Und über Jörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) von 2004 bis 2014, berichtete Roth, dass dieser bei einer Podiumsdiskussion des eher konservativen Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) „vehement“ bestritten habe, dass es in Deutschland überhaupt eine Mafia gebe. Ziercke laut Roth: „Werden bei uns wie in Süditalien Landräte und Abgeordnete gekauft? Nein, wir haben nicht die Strukturen wie Italien, daher gibt es in Deutschland keine Mafia.“
Internationale Verflechtung
Zierckes Kollegen in Italien hatten allerdings schon 1992 nicht nur in Süditalien, sondern auch in Deutschland ermittelt. Der „Spiegel“ berichtete damals: „Mittelsmänner und Kuriere besorgen nach Berichten der italienischen Carabinieri für den Clan (Greco) die Rauschgift- und Waffengeschäfte in der Lombardei, der Schweiz, der Türkei, Südamerika und in Deutschland.“ Hierzulande, so sagte ein Mafia-Aussteiger 1992 vor deutschen Ermittlungsbehörden aus, unterhalte die Cosca (Farao) Hauptstützpunkte in Melsungen bei Kassel und in Stuttgart. Nebenräume von Pizzerien und Eisdielen würden als Rauschgiftdepots, Waffenlager und Organisationszentralen benutzt.
1995 wurde Lavorato aufgrund eines internationalen Haftbefehls wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Deutschland festgenommen und an Italien ausgeliefert. Im Rahmen zweier Mafia-Prozesse wurde er allerdings freigesprochen – wegen Mangels an Beweisen, wie in italienischen Zeitungen zu lesen war. Das BKA notierte damals: „Aus diesem Grund feierte er eine große Siegesfeier in seinem Restaurant Da Mario in Stuttgart“, also im Ex-Stammlokal des damaligen CDU-Fraktionschefs und späteren Ministerpräsidenten Günther Oettinger.
Doch der Fall des „dringend verdächtigen“ Organisators von „Rauschgift und Waffentransporten“ und Millionengeldwäschers, der die staatsanwaltlichen Vorwürfe stets bestritt („Ich arbeite doch den ganzen Tag in meiner Pizzeria“), erreichte schließlich eine politmediale Skandaldimension. Aber nicht, weil der Oettinger-Spezi auch teure CDU-Feste mit Spaghetti und Wein beliefert hatte.
Thomas Schäuble, der Bruder des heutigen Bundestagspräsidenten und damals Stuttgarter Justizminister, informierte netterweise seinen Parteifreund „Oetti“ über die Tatsache, dass auch seine ausgiebigen Telefongespräche aus dem Restaurant Da Mario abgehört würden; versehen mit dem Hinweis, dass sein Stammwirt unter Mafia-Verdacht stehe.
Gefährliche Nähe zu Politgrößen
Die Verbindung kam nie mehr aus den Schlagzeilen. Im Vorfeld des für Oettinger äußerst pikanten Untersuchungsausschusses wurde im Auftrag des Stuttgarter Justizministeriums ein Geheimdossier zur lokalen Mafia-Szene angefertigt. Darin beschrieben die Ermittler, wie Jugoslawen und Italiener um die Vorherrschaft in der Stuttgarter Zockerszene stritten. Ein Jugoslawe kam dabei ums Leben. Die Polizei konnte drei Täter ermitteln, die später zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Auffällig war für die Fahnder, dass alle Täter und sonstigen Verdächtigen aus einem 5.000-Einwohner-Städtchen im kalabrischen Hinterland stammten, aus Cirò. Dort kommt auch Lavoratos Farao-Chef her.
Zwar war Edelgastronom Luigi A., anders als Lavorato, bis dahin kriminalpolizeilich noch nicht in Erscheinung getreten. Fünf Wochen vor Oettingers Abschied war er jedoch als Zeuge eines spektakulären mutmaßlichen Mafia-Anschlags zu einer Aussage geladen. Am 21. November 2009 spätabends hatte der Chef des stadtbekannten Stuttgarter Herrenausstatters Felix W. gerade mit seiner Freundin in die Tiefgarage seines Hauses an der Heilbronner Straße in Feuerbach einfahren wollen, als dem „Modekönig“ („Bild“) zwei schwarz Vermummte entgegentraten und ihn wortlos niederstreckten. Getroffen in Hüfte und Beine sank der Unternehmer zu Boden.
Wohl weil die Killer den Unternehmer für tot hielten, kam es nicht zum mafia- üblichen finalen Todesschuss in den Kopf. Das zumindest vermuteten später die Robenträger im Schwurgerichtssaal. Sie hatten zuvor die Ermittlungsakten der Stuttgarter Mordkommission gelesen. Dort kommen die Kriminalisten des Dezernats 1 zu einem brisanten Ergebnis: „Mafia“.
Doch dieses Ergebnis kommt später im Mordprozess vor dem Stuttgarter Landgericht nicht mehr zur Sprache.
Dabei hatte die Stuttgarter Kriminalpolizei, die den mutmaßlichen Tätern vor allem durch eine Handyüberwachung auf die Spur kam, genau darauf abgehoben: „Die Gesamtumstände deuten darauf hin, dass im Hintergrund mafiöse Strukturen für die Tat mitverantwortlich waren.“ Zwei der vier Beschuldigten, so ist dort zu lesen, könnten sogenannte „Pentolante“ sein – „geschultes Personal, das aus Italien anreist, um ein Problem zu lösen“.
Weil sich die vier Angeklagten im Fall Felix W. bei den Vernehmungen nach Kräften bemühen, ihre Komplizen nicht zu belasten, geht die Polizei davon aus, „dass sie sich an das Gesetz des Schweigens halten“. Aufschlussreicher Lesestoff, könnte man meinen. Doch über die Mafia will bei der juristischen Aufarbeitung niemand öffentlich reden. Obwohl die italienischen Mitermittler ein mitgeschnittenes Telefongespräch einer Täterehefrau mit einer Vertrauten nach der Festnahme des Haupttäters für die Stuttgarter übersetzt hatten. Der Inhalt eine Warnung: „Sei still. Kein Wort von den Großen, Mächtigen, Potenten, Weggehenden!“
Intern gingen die Stuttgarter Mordermittler davon aus, dass der „Große-Mächtige-Potente“ tatsächlich Mario Lavorato sein könnte, während sie sich auf den „Weggehenden“ keinen dienstlichen Reim machen konnten. Öffentlich über eine Hintergrundrolle Oettingers auch nur nachzudenken, hätte vorzeitigen Ruhestand bedeutet.
Der Omertà, dem Schweigegesetz der Mafia, sind auch die vier Angeklagten verbunden, die in den Schwurgerichtssaal mit Hand- und Fußfesseln geführt wurden, um eher teilnahmslos zu verfolgen, was Felix W. vortrug: Nein, zum Tatablauf könne er nichts erzählen. Schon unmittelbar mit dem Einschussschmerz habe er das Bewusstsein verloren. Nur im Halbkoma, wohl Tage später im Krankenhaus, habe er gehört, wie die Ärzte am Krankenbett darüber diskutiert hätten, ob sie sein angeschossenes Bein mit der zerstörten Vene amputieren müssten. Die Folge: eine wohl lebenslange Behinderung. Trotz 16 Operationen. In einer riesigen Blutlache überlebte das Opfer vermutlich nur, weil das Tätertrio Felix W. schon für tot hielt.
„Omertà“ war auch für die Ermittler nach einem Telefonanruf angesagt. Dieser Anruf kam aus der Stuttgarter Staatskanzlei und ließ in der Polizeidirektion die „internen Blaulichter rotieren“. Offenbar als „Anwalt“ seines Stammwirts hatte der Herr Ministerpräsident – immerhin ein gelernter Jurist – angefragt oder anfragen lassen, ob der als Zeuge von der Kripo vorgeladene Luigi A. auch bei der bevorstehenden Vernehmung von einem Anwalt begleitet werden könne.
Die Reaktion der Kripoermittler – nach dem abgehörten „Großen, Mächtigen, Potenten, Weggehenden“-Anruf aus dem Dienstzimmer des nach Brüssel Weggehenden – war Fassungslosigkeit. Und dienstliches Schweigen. Lediglich der Flurfunk meldete den Oettinger-Anruf. Unbeantwortet blieb auf den Fluren die Frage: Warum interessieren den Ministerpräsidenten eigentlich Ermittlungen wegen eines Mordanschlags auf einen Bekleidungsunternehmer?
Mit den Augen gerollt hatte man bereits Mitte 2009 auch in den Hinterzimmern der CDU-Landtagsfraktion. Dort war die Information eingegangen, dass der italophile „Minischterpräsidend“ offenbar doch noch einmal mit seinem Mafia-Stammwirt Mario Lavorato, mit dem er ja seit Anfang der 1990er-Jahre angeblich überhaupt keinen Kontakt mehr hatte, zusammen feiernd gesehen worden sei. Im Restaurant am Fuße des Stuttgarter Fernsehturms hatte „Oetti“ im großen Pizzabäckerkreis angeblich mit seinem ersten Stammwirt auf seinen zweiten Stammwirt Luigi A. bei Luigis 50. Geburtstag im Mai 2009 angestoßen.
Zentrale im Inter-Fanklub
Was die Parteifreunde nachhaltig erschütterte, war die Erzählung von Besuchern, dass Luigi seine Verbundenheit mit Politikgrößen per Fotobeamer auf einer großen Leinwand illustrierte. Zu sehen gewesen sei dort auch ein Bild von Luigi zusammen mit dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Das war ein gutes halbes Jahr, bevor Luigi A. als Zeuge des mutmaßlichen Mafia-Mordversuchs an Felix W. ins Visier der Stuttgarter Kripo geriet. Eine weitere Spur hatte die Ermittler dann auch noch in das Umfeld Mario Lavoratos geführt: ins sehr reiche „Mafia-Städtle“ Fellbach. Dort war nämlich der Überfall auf den Unternehmer geplant worden. Dort hatten sich die Täter in der Autowerkstatt eines kalabresischen Landsmanns vor dem Mordanschlag verabredet, und dort hatten sie sich auch nach dem Überfall in Sachen Flucht nochmals abgesprochen. Sie wurden übrigens später zu hohen Freiheitsstrafen zwischen neun und elf Jahren verurteilt.
Ein italienischer Immigrant aus Cirò war bei der Tat in Stuttgart-Feuerbach nicht vor Ort beteiligt. Der saß nämlich während der Tat als „Initiator des Überfalls“, so das Gericht, in einer Fellbacher Bar, welche als „Interclub“ Fellbach firmiert. Der „Presidente“ dieses vermeintlichen Mailand-Fanklubs in der Innenstadt findet sich nicht nur im erwähnten ’Ndrangheta-Bericht des BKA, sondern taucht auch in der Liste der bei der jüngsten Razzia Gefassten unter Nr. 128 auf: „Palmieri, Domenico, bekannt als Tonino, geb. 29.06.1970 in Cirò Marina, wohnhaft in Fellbach (D).“
Schon 2005 war dem BKA bekannt worden, dass über den Interclub Fellbach wohl auch eine Verbindungslinie zwischen der ’Ndrangheta und ihren Verbrecherbrüdern in der Cosa Nostra bestand. Lavorato hatte nämlich zusammen mit Clanbruder Palmieri ein kalabresisches Fest in Fellbach organisiert. Dort trat auch ein Künstler auf, „bei dem es sich um einen berühmten kalabresischen Sänger handeln soll, der von dem Reporter Angelino P. des italienischen Fernsehsenders La Calabria begleitet wurde“. Am Rande der Darbietungen zogen sich Lavorato, Palmieri und Reporter Angelino P. zu einem Acht-Augen-Gespräch mit dem mutmaßlichen Cosa-Nostra-Mafioso Angelo A. aus Agrigent zurück. A. stand übrigens bereits mehrfach „im Verdacht, mit Rauschgift zu handeln“ (BKA).
Doch nicht der Rauschgifthandel der ’Ndrangheta war 2010 das große Thema in Italien. Hohe Aufmerksamkeit erregte ein Politkrimi mit Tatort Fellbach und einem angeblichen Haupttäter in Stuttgart, dem süddeutschen „Finanzminister der ’Ndrangheta“ namens Mario Lavorato, so äußerten sich jedenfalls italienische Staatsanwälte.
Im Blog mafialand.de stand zu lesen: „In Italien ist es ein großer Skandal – wie ein Senator der Berlusconi-Partei mithilfe der ’Ndrangheta nicht nur Milliarden Euro gewaschen, sondern auch Wahlstimmen mithilfe der ’Ndrangheta in Deutschland fälschte.“ Stationiert waren die Fälscher allerdings nicht in Stuttgart und Esslingen, wie überall berichtet wurde, sondern in Fellbach im Interclub des nun festgenommenen Domenico Palmieri.
Es ging um die Wahlen 2008 in Italien. Als Kandidat für den römischen Senat war auch der Anwalt und Unternehmer Nicola Di Girolamo für die Popolo della Libertà (PDL) angetreten. Der war zwar fast völlig unbekannt, erhielt dennoch von im Ausland lebenden Italienern mehr als 25.000 Stimmen. Wie diese Zahl zusammenkam, ergibt ein Blick hinter die Kulissen des Interclub.
In Fellbach war der Auslandsitaliener schon zuvor bei der Auswertung der Stimmzettel zur Europawahl 2008 aufgefallen. So berichtete die „Stuttgarter Zeitung“, „dass viele Zettel mit demselben Stift und in derselben Handschrift ausgefüllt“ worden waren. Die Mafiosi hatten Auslandsitalienern die Stimmzettel abgekauft, nächtelang wurde im Interclub gefälscht.
Drahtzieher des gigantischen Stuttgarter Wahlbetrugs war laut Staatsanwaltschaft in Rom der römische Geschäftsmann Gennaro Mokbel – dem nicht nur zehn Morde zur Last gelegt werden, sondern auch beste Beziehungen zu Rechtsterroristen, zur römischen Mafia-Bande Banda della Magliana und zur ’Ndrangheta. Die Politikerkarriere dank Wahlfälschung endete übrigens im Knast – wegen Geldwäsche.
Staatsanwaltschaft schläft
Der pensionierte Stuttgarter Oberstaatsanwalt „Bobby“ Krombacher, der in seiner aktiven Zeit für den Wahlfälschertatort Fellbach zuständig war, zuckt heute noch zynisch mit den Schultern, wenn er Zuhörern erklärt, dass man gegen die Fälschung italienischer Wählerstimmen in Deutschland nichts tun könne, dafür gebe es gar keine Gesetze, das sei allein eine italienische Angelegenheit.
Die Verhaftungen seien „ein wichtiger Erfolg gegen die Unterwanderung unserer Wirtschaft“, sagt nun Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). „Wir lassen es nicht zu, dass kriminelle Organisationen wie die ’Ndrangheta Deutschland als Rückzugs- und Investitionsraum nutzen und hier ihr kriminelles Geschäft erledigen.“ Dafür ist es natürlich zu spät. Die ’Ndrangheta hat sich längst in Deutschlands Mitte eingekauft, besitzt insbesondere im Osten wahre Gastronomie-Imperien.
Einer der Einsatzorte der groß angelegten Durchsuchungsaktion vom Januar war Fellbach. „Razzia in Fellbach – Mafia-Verdacht: drei Festnahmen“ meldet die „Stuttgarter Zeitung“ am 10. Januar. Ein Name wird dann genannt, der von Mario L., dem lokalen Chef des Farao-Clans und Herrscher über den Raum Stuttgart. Berichtet wird auch von der Festnahme des „Präsidenten eines ausländischen Vereins in Fellbach“, der auf dem Weg von Italien nach Deutschland gefasst und dessen Fischlokal frühmorgens kriminalpolizeilich entgrätet wurde. Die Ermittler fanden im Müll des Lokals auch zahlreiche Autokennzeichen. Genannt wird indes nicht der Name des stadtbekannten „Präsidenten“ des Wahlfälscher-Interclub, des „Palmieri Domenico, detto Tonino, nato a Cirò Marina il 29/06/ 1970, residente a Fellbach (D)“.
Die „Stuttgarter Zeitung“ aktuell: „Als Ergebnis der Razzia lässt sich erkennen, dass der 47-Jährige aus Fellbach nicht für einen kleinen Fisch gehalten wird. Sein Name taucht im europäischen Haftbefehl jedenfalls häufig auf.“ Doch warum konnte der große Fisch der ’Ndrangheta mindestens 15 Jahre lang im kleinen Fellbach Mafia-Festivals mit Mario Lavorato veranstalten, Wahlfälscher beherbergen und wohl auch Koks im Kreis seiner kalabresischen Parallelgesellschaft verkaufen? Und warum konnte der Ex-Oettinger-Freund Mario Lavorato mindestens zehn Jahre lang Dutzende von Restaurants übernehmen und von Strohmännern und -frauen managen lassen?
Zum einen hat die Staatsanwaltschaft in Stuttgart wohl jahrelang geschlafen und wurde erst durch die italienische Anti-Mafia-Einheit geweckt. Und wer nicht schlief, hatte Respekt vor der politischen Vernetzung der Verdächtigen. So war Palmieri als Präsident des Interclub angeblich auch gut bekannt mit dem Fellbacher Ex-Oberbürgermeister, der seit Jahren, nach einer Einladung ins ’Ndrangheta-Städtchen Cariati, eine sehr „freundschaftliche Beziehung“ mit dem Geburtsort zahlreicher Neu-Fellbacher pflegte.
Mittlerweile gehören Mafia- und ’Ndrangheta-Clans ganze Häuserzeilen in besten Innenstadtlagen. Auch in Sachen Geldwäsche der ’Ndrangheta besitzt die baden-württembergische Landeshauptstadt bei Fahndern der italienischen Anti-Mafia-Behörde DIA einen beachtlichen Bekanntheitsgrad.
Niemand hat bisher nach den Folgen auch für die deutsche Wirtschaft gefragt. Niemand fragt, was alles rund um den Bau von Stuttgart 21 geschieht. Eine gigantische Baustelle mit Kosten in Milliardenhöhe. Ein gefundenes Fressen. Niemand hat den Überblick, aus der Deckung wagt sich ohnehin niemand mit der Frage, wohin ein Teil der gigantischen Kostensteigerungen wandert. Der Verdacht liegt nun ziemlich auf der Hand, dass ein Gutteil der Gelder unsaubere Taschen füllt.
Die Zugehörigkeit zur Mafia ist bis heute kein Straftatbestand in Deutschland. Die Italiener hatten einen Antrag auf Rechtshilfe gestellt, daraus wurde dann ein europäischer Haftbefehl. Ohne die Italiener wäre kein einziger der in Deutschland lebenden Mafiosi festgenommen worden. Es ist nicht der Fehler der deutschen Polizei, sondern allein den mangelnden deutschen Gesetzen geschuldet.
Der profilierteste italienische Mafia-Ermittler, Nicola Gratteri, der als Oberstaatsanwalt in Reggio di Calabria seit bald 30 Jahren unter massivstem Po- lizeischutz steht, kommt zu einer ernüchternden Analyse. Sein Resümee, nachdem unter seiner Regie der sechsfache Mafia-Mord von Duisburg, der ein erhebliches Medienecho ausgelöst hatte, aufgeklärt werden konnte: „Die Politik bewegt sich immer erst, wenn das Problem auf Seite 1 der wichtigen Zeitungen rückt. Immer wenn es etwas Sichtbares gibt, was die Gesellschaft beunruhigt. Aber wenn ich Geld wasche oder investiere, präsentiere ich mich als Unternehmer, ich mache nichts schmutzig und ich stinke nicht, ich mache keinen Lärm. Ich bringe frisches Geld, kaufe eine Pizzeria, ein Hotel – auch wenn das Geld aus dem Kokainhandel kommt. Aber das ist kein Problem für die Politik. Die greift nur ein, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Denn ihr geht es um die Zustimmung in der Öffentlichkeit.“