Aus unbekannten Gründen hatte sich Angela Merkel entschieden, ihre Podcast-Worte zum 75. Jahrestag des Attentats auf Hitler schon ein paar Tage vor dem 20. Juli zu senden. Wer es für unmöglich hält, dass sie es dort schaffte, den rhetorischen Bogen von Stauffenberg über den Kampf gegen Rechts bis zur Digitalisierung und NGOs zu schlagen, der unterschätzt die Kanzlerin eben noch immer.
„Dieser Tag ist uns Erinnerung nicht nur an die Akteure um Claus von Stauffenberg“, so Merkel, „sondern an alle, die sich der Herrschaft des Nationalsozialismus entgegengestellt haben. Und glücklicherweise gab es davon viele Menschen.“
Möglicherweise sogar unter dem Motto „#Wir sind mehr“? Bis jetzt galt es gesicherte Geschichtsschreibung, dass sich dem Nationalsozialismus nur sehr wenige entgegengestellt hatten; es waren wenige wie bei allen Unternehmungen, deren Teilnehmern Folter und Hinrichtung drohen. Der Kreis der Mitwisser um das Attentat vom 20. Juli war winzig, anderenfalls hätte es gar nicht stattfinden können.
Von der Umschreibung der NS-Geschichte, in der also viele Widerstand leisteten, geht es im Podcast flugs zum Kalenderblattsatz aus Kanzlerinnenmund: „Nur wenn wir die Vergangenheit verstehen, können wir eine gute Zukunft bauen.“
Möglicherweise ist ja ein Gutes-Zukunfts-Gesetz in Berlin schon in Arbeit.
Aber erst einmal folgt die Einblendung des nicht ernsthaft als Frage gemeinten Fragesatzes:
„Wie wichtig ist der Bundesregierung der Kampf gegen den Rechtsextremismus?“
Selbstredend so wichtig, dass ab diesem Moment praktisch nichts anderes mehr vorkommt:
„Auch wir sind heute verpflichtet, allen Tendenzen entgegenzutreten, die die Demokratie zerstören wollen. Dazu gehört der Rechtsextremismus.“
Was gehört noch dazu? Immerhin gab es 2016 auch ein islamistisches Attentat in Berlin mit 13 Todesopfern, und mehr als ein Dutzend geplante und erst im letzten Moment verhinderte islamistische Anschläge. Diese Tendenz oder der Linksextremismus zählen zumindest in Merkels Ansprache nicht zu den Demokratiegefährdungen.
Dann folgt ein veritabler Sprung nach vorn, der möglicherweise vielen Kanzlerinnenpodcasthörern in dem gleichförmigen Redefluss gar nicht auffällt:
„Der schreckliche Mord an Walter Lübcke, dem Kasseler Regierungspräsidenten, führt uns vor Augen, wie wichtig es ist, diejenigen zu unterstützen, die auf lokaler Ebene oder anderen Ebenen Verantwortung übernehmen, egal ob als Politiker oder in Nichtregierungsorganisationen in der gesamten Gesellschaft.“
Von Stauffenberg und dem Attentat auf Hitler über die vielen Menschen, die sich dem Nationalsozialismus entgegengestellt haben, geht es also mit kurzen Zwischenhalten bei Rechtsextremismus und dem Mord an Lübcke in eine scharfe argumentative Kurve. Einen politischen Mord und überhaupt politische Gewaltakte in einer Demokratie verurteilt fast jeder. Wer es nicht tut, gesellt sich zu den extremistischen Rändern. Aber die Verurteilung politischer Kriminalität führt, egal, wie es eine Regierungschefin dreht und wendet, noch lange nicht zu einer ganz allgemein eingeforderten Unterstützung für Politiker und NGO-Aktivisten. Wer den Mord an Lübcke zu Recht verurteilt, musste mit seinen politischen Ansichten trotzdem nicht einverstanden sein, auch postum nicht.
Wie sollte die Unterstützung aller für alle Verantwortungsträger auch praktisch aussehen? Vorstellungen von Politikern divergieren schon zwischen Politikern der sächsischen CDU und linken Sozialdemokraten erheblich, vom Abstand zwischen AfD und Grünen gar nicht zu reden. Und Nichtregierungsorganisationen gibt es einige. Manche davon finden sich auch in Verfassungsschutzberichten. Mit der exklusiven Nennung von Rechtsextremismus als Demokratiebedrohung macht Merkel aber schon im Subtext klar, ohne es auszusprechen, wer dann für sie eben nicht mehr zu denjenigen zählt, die „Verantwortung übernehmen“.
Darüber hinaus wird das gar nicht mehr so überraschende Gesellschaftskonzept der Kanzlerin deutlich. Bei ihr kommen gar keine unterschiedlichen und sogar unvereinbaren politischen Standpunkte inklusive Streit vor, sondern nur noch die Forderung, „diejenigen, die Verantwortung übernehmen“, zu „unterstützen“. Darin scheint für Merkel die eigentliche Aufgabe von Bürgern zu liegen.
Von da aus geht es im Schweinsgalopp weiter zum Digitalzeitalter, denn zum Kampf gegen Rechtsextremismus im Geiste Stauffenbergs „müssen wir natürlich unsere Sicherheitsorgane gut ausstatten“. Dazu gehört „der Pakt für den Rechtsstaat, um Digitalisierung auch unserer Staatsanwaltschaften und Gerichte voranzubringen“.
Wer dem Kanzlerinnenpodcast lauscht, kann von Glück sagen, dass nicht noch irgendein Zuarbeiter seinen Textbaustein zur CO2-Vermeidung in die Stauffenberg-Presswurst gequetscht hat.
Ganz nebenbei: Seit wann sind Gerichte eigentlich „Sicherheitsorgane“? Und als zweiter Einschub: Mit wem schließt der Staat, der ja per se für die Ausstattung der Justiz zuständig ist und dazu das Geld der Steuerzahler bekommt, eigens einen „Pakt“ für die Erfüllung seiner Aufgabe?
Mit derlei Sophistereien hält sich Merkel nicht auf, denn jetzt geht es im thematischen Schweinsgalopp – von Stauffenberg, Lübcke-Mord, Unterstützung von Politikern und NGOs und zur Digitalisierung – zur „Zivilgesellschaft“ und einer „Präventivstrategie gegen Extremismus“. Für die wiederum, so Merkel, „gibt es wichtige Programme wie ‚Demokratie leben’.“ Dieses Geldverteilungsprogramm des Bundes existiert seit 2015, für 2019 gibt es ein Budget von 115,5 Millionen Euro. Wer genauer in die Liste der Empfänger* schaut, entdeckt als geförderte Organisationen unter anderem die aus Ankara gelenkte türkische Religionsgemeinschaft** DITIB, den „Zentralrat der Muslime“, dessen Mitglieder teilweise ideologisch an die radikalen Muslimbrüder andocken, mehrere islamische Landesgemeinden, natürlich auch viele andere Organisationen, darunter auch solche, die Islamismus bekämpfen. Irgendwie ist, ganz im merkelschen Geist, fast alles dabei. Beim Klick auf die Seite von „Demokratie leben“ grüßt ganz oben wiederum Merkels Podcast zu Stauffenberg-Lübcke, Digitalisierungspakt und Bundesprogramm. Daneben gibt es noch einen Film, in dem der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick erklärt:
„Radikalität entsteht in der Mitte der Gesellschaft.“
Sollte nicht eben diese Mitte laut Merkel gerade Politiker und NGOs im Namen der guten Sache unterstützen? Und: Wenn schon die Mitte radikal kontaminiert ist, was hilft dann gegen Radikalität?
Egal. In Merkels Welt beauftragen jedenfalls nicht Bürger die Politiker und beleihen sie dafür mit Macht auf Zeit. Sondern Politiker „und Nichtregierungsorganisationen“ fordern die Unterstützung der unter latentem Radikalitätsverdacht stehenden Bürger ein und halten immer schon die passenden Pakte, Pakete und Programme bereit, die definieren, was gut ist.
So routiniert wie die Kanzlerin fledderte bisher noch kein bundesdeutscher Regierungschef die Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Und das nicht zum ersten Mal. Auf ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause am 20. Juli 2018 verkündete sie ebenfalls eine historische Neujustierung: „Diese Pressekonferenz findet am 20. Juli statt. Der 20. Juli ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte. Viele Menschen haben ihr Leben für Europa, für ein gemeinsames Europa gelassen.“
Stauffenberg und die Seinen waren also irgendwie auch Wegbereiter der EU. Mit ihrer Rhetorik macht sich die Kanzlerin in einem historischen Kostümball praktisch zur Testamentsvollstreckerin, eigentlich aber zur direkten politischen Erbin der damaligen Verschwörer gegen Hitler. Wessen Wiedergänger dann Leute wie Alexander Gauland und Hans-Georg Maaßen sind, die Merkel aus dem Kanzleramt wünschen, muss die Regentin nicht eigens ausführen.
Ein dialektischer Witz besteht darin, dass tatsächlich eine untergründige Verbindung zwischen Merkels Bild einer von oben formierten Gesellschaft und dem damaligen Kreis um Stauffenberg besteht. Stauffenberg, Treskow, Stülpnagel und andere waren wohl keine Demokraten, sondern eher Befürworter einer ständischen Gesellschaft. Vermutlich wären sie keine Unterstützer der heutigen Bundesregierung gewesen. Als fähige Militärs wussten sie, dass der Krieg für Deutschland verloren war, und dass es nur noch darum ging, das massenhafte Blutvergießen zu beenden. Als das Attentat auf Hitler in Rastenburg stattfand (und fehlschlug), standen nicht nur US- und britische Truppen schon in Frankreich. Am 22. Juni 1944 hatte die sowjetische Operation Bagration begonnen, in der die Heeresgruppe Mitte binnen Wochen zerschlagen wurde. Vom Sommer 1944 bis zum Mai 1945 starben etwa so viele Soldaten auf den Schlachtfeldern wie in den Kriegsjahren seit 1939. Die Brüder Stauffenberg und andere waren Nationalkonservative im Wortsinn: Sie hofften, Deutschland noch im letzten Moment erhalten zu können. Mehr als eine wilde Hoffnung hegten sie ohnehin nicht. „Das Attentat“, so Henning von Tresckow, „muss erfolgen, coûte que coûte.“
Helden – zumal noch Helden der Vergangenheit – sind meist nicht nach dem Bild der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung geformt. Das sagt nichts gegen die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung, sondern folgt der zutreffenden Feststellung Bertolt Brechts, dass es keine guten Zeiten sind, in denen ein Land Helden nötig hat. Ihre Demokratieferne wurde den Attentätern in der Bundesrepublik lange Zeit aus sicherer Entfernung vorgeworfen. Dazu schrieb der Autor Karl Heinz Bohrer in der ZEIT:
„Was besonders ins Auge springt, ist die Naivität: Inwiefern wird die Bereitschaft, sein Leben dafür zu opfern, dass eine Verbrecherclique verschwindet, politisch-moralisch dadurch infrage gestellt, dass man nicht das richtige, sozusagen bundesrepublikanische Bewusstsein hatte? Vermutlich ertragen die Kritiker nicht, dass es zur Zeit ihrer Nazi-Vorfahren mutige Deutsche gegeben hat.“
Genau diese Differenz über die Zeit hinweg zwischen Stauffenberg und der Gegenwart wäre ein produktives Thema für einen Kanzler (oder Kanzlerin) gewesen. Es wäre um Ambivalenz gegangen.
In dem wer-nicht-hüpft-ist-ein-Nazi-Land des Jahres 2019 ist dieser Begriff bei seinen neoautoritären Politikern wahrscheinlich verhasst wie kaum ein zweiter.
** Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
der Abgeordneten Oliver Luksic, Dr. Stefan Ruppert, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
– Drucksache 19/8306 –
Ausmaß ausländischer Einflussnahme auf Religionsgemeinschaften, religiöse Vereine und sonstige religiöse Organisationen
* Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
des Abgeordneten Stephan Brandner und der Fraktion der AfD
– Drucksache 19/744 –
Das Bundesprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“
Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.