Tichys Einblick
Einer unter sieben Milliarden

Konsumphilosophie à gogo 5: Jever Pilsener – Gott und Bier

Individuell konfigurierbare Autofarben, Müslis, Sportschuhe, Kaffeesorten, Musikstreamingdienste, Tageszeitungen ... der Kunde im Mittelpunkt, also dort, wo er immer im Wege steht.

Wenn Du das Meer gemacht hättest, hättest Du es zahm gemacht? / Wenn Du den Wind gemacht hättest, hättest Du ihn lau gemacht? / Und, wenn Du ein Bier gemacht hättest, wie hättest Du das gemacht? / Genau so. / Wie das Land, so das Jever. / Friesisch-herb.

Jever

Die Verheißungen von Werbung und PR scheinen in Zeiten der Haltlosigkeit die letzte Bastion großer Wertvorstellungen zu sein. Das kann traurig machen … oder glücklich. Ein tiefer, kurzer Blick lohnt, um dann – ganz beruhigt – in die Kleinheit unser aller Leben zurückzusinken.

Die vorherrschende Stimmung unserer Epoche ist, dass es noch nie so einfach war, Individualität vorzugeben, obwohl sie gleichzeitig noch nie so unerreichbar war wie heute. Jede Straßentaube existiert individueller als ein Mensch der Postmoderne. Das ist traurig und man sollte einen guten Roten diesbezüglich öffnen.

Vor dem Jahr 2000 lebten die Menschen in dem Gefühl, einzigartige Wesen auf diesem Planeten zu sein, einzigartige Seelen, deren Geschichte über sieben Jahrzehnte oder mehr verlief. Die Begrenztheit der Welt, des Horizonts machte das einzelne Leben wertvoll. Heute leben wir mit dem quälendem Gefühl, dass wir eine Einheit Mensch unter sieben Milliarden Einheiten sind. Vor lauter Spuren bleibt nichts … ganze Waschtrommeln voller Speicherchips mit Fotos und Smartphonevideoschnipseln, die nach uns nie wieder jemand anschauen wird, warten aufs Vergessen.

In dieser gedanklichen Katastrophenstimmung hilft das Marketing. Heute ist dort alles individuell – „Individualisierungsoptionen sicherstellen“ heißt das im Marketingsprech. Der große Fundamentalphilosoph Wolfgang Joop sagte sinngemäß: „Je mehr Marken desto individueller das Ich.“ Gäbe es keine Marken … was bliebe dann noch vom Ich? Zum Heulen.

Gedanken zu Konsum und Zeitgeist
Konsumphilosophie à gogo 4: ALDI
Individuell konfigurierbare Autofarben, Müslis, Sportschuhe, Kaffeesorten, Musikstreamingdienste, Tageszeitungen … der Kunde im Mittelpunkt, also dort, wo er immer im Wege steht. Ja, die eigene Meinung zählt immer und überall. Jeder bewertet immer alles und jeden: Studenten ihre Professoren, Kunden ihre Produkte, Bürger ihre Politiker und richten danach Lehrangebot, Ansprache und Produkt- und Politikportfolio aus. Ob in irgendeiner Form eine Kompetenz zur Urteilserbringung besteht, ist als Frage zutiefst verdächtig und vollkommen irrelevant. Vielleicht möchte man es auch gar nicht allen immer recht machen.

Jede Meinung ist ständig sehr wichtig … als Durchschnittswert. Emmanuel Levinas schrieb vor inzwischen einigen Sommern, das alle Welt so debattieren würde, als „wäre man bei der Schöpfung dabeigewesen […].“ Alles was wir meinen, glauben und denken habe seine tiefste Berechtigung und Richtigkeit allein, weil wir als autonomes Wesen per se vollkommen souverän sind. Ein jeder Mensch ist an sich die Welt, der Kosmos und letztlich Gott.

In diesem Stakkato der Individualisierungserbringung ist es der wohlschmeckenden Marke Jever gelungen, die Vorgabe des Zeitgeistes ins fast Unendliche zu steigern und fragt in unseren banal dahinplätschernden Lebensalltag erhebend hinein:

„Wenn Du das Meer gemacht hättest, hättest Du es zahm gemacht?

Wenn Du den Wind gemacht hättest, hättest Du ihn lau gemacht?

Und: Wenn Du ein Bier gemacht hättest, wie hättest Du das gemacht?“

Halleluja! Endlich fragt mich mal einer!

Heute reicht es nicht mehr, den bloßen Wunsch nach Autonomie in Privatsphäre und Beruf zu postulieren, es müssen schon die gottgemachten Elemente sein: „Wie siehts aus? Wenn Du Mal wieder wirkmächtiger Weltenschöpfer bist, was machst Du dann so bis zum nächsten WhatsUp-Check mit der Schöpfung? Zum Glück gibt’s die Memo-Funktion.“

Kultur ist die Kunst, mit den Toten Beziehungen zu pflegen, Intelligenz ist die Kunst Neuronen und Computer funktionieren zu lassen, schrieb Alain Finkielkraut. Und damit macht dieser Werbespot exemplarisch deutlich, dass unser Denken kein gemeinschaftliches mehr ist, indem das bereits Dagewesene „ge-leitet“, sondern nur noch ein gesellschaftliches, dass im Hier-und-Jetzt seine Kreativität entfaltet, demnach nur noch geschichtlich „be-gleitet“ wird.

Ich frage mich, ob der allumwölbende Wunsch nach Individualität nicht in Wirklichkeit eine Form von Angst ist, nämlich sein Leben nicht „ausreichend“ gelebt zu haben. Ich frage mich, ob Menschen überhaupt fähig sind, mit dem psychischen Vakuum umzugehen, das Freiheit und das Leben im Jetzt schafft. Ich habe beim Lesen der Nachrichten den Eindruck, dass es eine Menge Menschen gibt, vielleicht sogar die Mehrheit, die noch nicht einmal Fortschritt oder die Freiheit, die der Fortschritt bringt, haben wollen.

Da hilft nur noch ein Griff ins Bücherregal – ganz analog. Denn Machiavelli war ein kluger Mann: „Ist es Abend geworden, gehe ich nach Hause und kehre in mein Arbeitszimmer ein. An der Schwelle werfe ich das schmutzige, schmierige Alltagsgewand ab, ziehe mir eine königliche Hoftracht an und betrete passend gekleidet die Hallen der Großen des Altertums. […] Hier darf ich ohne Scheu mit ihnen reden, sie nach den Beweggründen ihres Handelns fragen, und menschenwürdig antworten sie mir. Vier Stunden lang werde ich dessen nicht müde, vergesse allen Kummer, fürchte die Armut nicht mehr  und fürchte mich nicht vor dem Tod, so ganz fühle ich mich unter sie versetzt.“ Ganz ohne den Wind gemacht zu haben.

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