In kaum einen anderen Bereich gilt ähnlich viel Halbwissen wie im strategischen Marketing. Gleichzeitig wird dort so viel Geld versenkt wie selten zuvor. In der Markenführung von Produkten, Dienstleitungen oder auch politischen Positionierungen zählen Meinung, Glaube und Emotion – dazu hat jeder seine persönliche und vollkommen legitime Ansicht. Am Ende geht es aber immer um Vertrauen als lukratives Mittel, um Überzeugungsenergien zu senken. Vertrauen lässt sich allerdings nicht befehlen. Es entsteht. Eine sozioökonomische Klärung in Zeiten epidemischer Ahnungslosigkeit.
Konsumentensouveränität ist ein feststehender Begriff in der Volkswirtschaftslehre. Er soll veranschaulichen, dass die souveränen Verbraucher durch ihre Entscheidungen in hohem Maße bestimmen, was die Unternehmen zu produzieren haben. Der Markt will es so lautet die Erklärung und das Marketing lauert und wittert überall „relevante Zielgruppen“. Außerdem steht einer Kaufabsicht heute ein weltweites Leistungsspektrum über die digitalen Kanäle zur Verfügung. Der Konsument kann sich Gewünschtes aus einem schier unendlichen Angebot heraussuchen; mit vielfältigen Vergleichsmöglichkeiten … Der homo oeconomicus hat die freie Wahl – Souveränität pur.
Ebenso prominent ist der Begriff der Produzentensouveränität. Als Maximum ist sie Monopol, im Extrem also so stark, dass der Konsument zum unhappy prisoner wird. Er hat keine Alternative, er muss vom Monopolisten kaufen, auch wenn er diese spezifische Ausführung einer einzelnen Leistung nicht sonderlich schätzt. Der Unternehmer kann frei entscheiden, sei er nun Hersteller, Händler oder ingrediant brander. Das ihm jeweils opportun erscheinende kann er veranlassen: neue Produkte, neue Maschinen, neue Mitarbeiter, neue Zulieferer, neue Vertriebswege, neue Serviceleistungen und vor allem neue Preise. Er kann machen, was er situativ für angemessen hält. Auch er hat die freie Wahl, auch er ist ein Souverän.
Allerdings: Für die Durchsetzung einer Leistung im Markt egal ob Produkt oder Programm ist es notwendig, diese Art von freier Unverbindlichkeit in eine prognostizierbare Ordnung zu bringen. Denn in dem Maße, in dem sich dauerhafte Bindung zwischen Leistung und Kunde bzw. Wähler aufbaut, sinken die Vermarktungs- d.h. Überzeugungskosten. Skaleneffekte hört man allenthalben im Meeting. Im Verlauf eben dieser sozialen Stabilisierung – meist als Vertrauen bezeichnet – verändert sich der Charakter der Entscheidungsfreiheit hin zur Bindung, und zwar auf beiden Seiten.
Die Leistung als Verpflichtung
Beim ersten Entwurf (s)einer neuen Idee ist der Unternehmer tatsächlich frei. Er kombiniert bestehende Komponenten zu einem neuen Ensemble. Über die Zeit wird deutlich, welche Leistungsvarianten auf Resonanz stoßen. Dauerhaft wird nur das reproduziert, was Erträge oder Zustimmung einbringt.
Auf diese Weise verpflichtet sich der Markenverantwortliche mehr und mehr zur Treue seinen eigenen Ideen gegenüber, alles andere wäre geschäfts- und erfolgsschädigend. Denn die Entscheidung zur Bindung führt zunehmend zur Investitionssicherheit. Vollständig frei zeigt sich der Markeninitiator also lediglich bei der Entwicklung seiner Idee. Die Freiheit wovon changiert mehr und mehr zur Freiheit wozu. Der Markenverantwortliche macht sich zum ersten Diener seines Werkes. Und dies nicht, weil ihm etwa sonst nichts mehr einfiele, sondern weil seine Markenleistung nun vom Kunden gelernt und geschätzt wird. Er muss sie in der gewohnten Form immer wieder erbringen.
Gewollte Unmündigkeit
Auch beim Konsumenten spielt sich diese zunehmende Veränderung der Entscheidungssouveränität ab. Sicherlich ist er beim Suchen eines neuen oder noch nie gekauften Produktes souverän; aber die vielen alltäglichen Kaufvorgänge sind irgendwann liebe Gewohnheit geworden: Gerade einmal 488 unterschiedliche Produktarten kauft ein durchschnittlicher deutscher Haushalt im Jahr. Angesichts des unendlichen, sich laufend veränderten Angebots sucht auch der postmodernde Mensch nach Konstanten, nach Kontinuität und Verlässlichkeit. Die vielen Angebote sein Produkt zu individualisieren, ob Müsli oder Sportschuh, werden nur von einem Bruchteil der Menschen tatsächlich genutzt. Kurzum: Standard ist Trumpf! Der homo oeconomicus, der mündige Konsument will sich beim Kauf der alltäglichen Produkte seiner Mündigkeit gerne entledigen. Er will nicht mehr prüfen, sondern genießen, wie dies häufig ausgedrückt wird und eigentlich nur meint: Freude an der Wiederholung empfinden: Das reinste Lustprinzip. Der Mensch will in vielen Bereichen nicht aufpassen, sondern einer Gewohnheit folgen.
Das klassische Marketing dagegen ist „lückenorientiert“ und sucht in scheinbar gesättigten Märkten, Bedürfnisse durch passgenaue Analyse zu recherchieren und schließlich auszufüllen. Das Unternehmen wird zum Spielball vermeintlicher Konsumenten-Befragungen und damit zum Empfänger. Vertrauen und Bindung entsteht allerdings erst, wenn der Leistungserbringer für etwas steht und eben durch dieses Bekenntnis Orientierung und Verlässlichkeit ermöglicht. Oder: Vertrauen entsteht aus Vertrautheit.
Freiheit durch Bindung
Das allein mit dem Preis arbeitende Geschäft baut meist nur kurzfristig eine steigende Absatzlinie auf. Warum? Weil sich marktseitig keine Konsumenten anregen lassen, Kunden zu werden, geschweige denn ein Geflecht von zuverlässigen Gelgebern zu bilden. Sie bleiben Käufer und also bleiben beide Komponenten des Markensystems frei von Verpflichtungen. Die Freiheit wozu beschränkt sich Gelegenheitskäufe, die ihrerseits zu Gelegenheitsarbeiten führen, zu Aushilfskräften und Werkverträgen.
Der langfristig orientierte Unternehmer dagegen wendet sich der Sicherung und dem Wachstum innerhalb seines Leistungskorridors zu und der Konsument der beruhigenden Erfahrung mit gewohnten Inhalten. Auf diese Weise entsteht das dauerhafte Verhältnis zwischen einer Kundschaft und einem Unternehmen – vollkommen egal, ob es sich um ein kleines Restaurant oder einen globalen Konzern handelt.
Erfolgreiches Anti-Marketing bedeutet also nicht das Arbeiten „auf“, sondern das Arbeiten „in“ wirtschaftlichen Leistungskörpern. Das ist ganz simpel, aber deshalb für unsere Epoche geradezu revolutionär.