Damals, als die Welt noch klüger war, damals, als das Internet noch ein Geheimtipp war, nicht die schnalzende Geißel der Empörten – und wir noch nicht seine seufzende Geisel – damals, als Eltern ihr gerade-mal-volljähriges Kind auf einen fünfwöchigen Roadtrip durch die USA entsenden konnten ohne in Sorgen zu zergehen, damals also (in »Verstand, Gewissen und scharfe Klingen« erwähne ich es) begaben sich zwei Freunde und ich auf einen eben solchen Roadtrip.
Eine Nacht waren wir zu Gast im Ferienhaus eines wunderbaren Paares, und dieses Haus stand in den Ausläufern der Rocky Mountains und man blickte über ein bewaldetes Tal. Ich erinnere mich gut an jene Nacht, als wir wach wurden, und meinten, der Boden samt Bett und Haus habe gezittert. Hatten wir nur schlecht geträumt?
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, mit Soja-Speck (der war damals in Mode) und frisch gepresstem Orangensaft, fragten uns die Gastgeber fröhlich: Na, habt ihr auch das Erdbeben gut überstanden?
Ah, wir hatten nicht nur schlecht geträumt!
Der Hausherr nahm uns mit auf den Balkon. Vor uns lagen das Tal und der weite Wald. Es war September. Die Bäume hatten bereits begonnen, sich zum Indian Summer zu verfärben. Wind strich über die Baumspitzen, die sich in sanften Wellen wie ein Meer wiegten.
Der Gastgeber erzählte uns etwas, das eine meiner Inspirationen für die Metapher in »Von »Fresse polieren« bis Mord – Gewalt als ›neues Normal‹«, und das ich nun hier rekonstruieren möchte, dem Sinn und der bestmöglichen Erinnerung folgend; unser Gastgeber wies auf das Tal und den Wald, und er sagte: »Es hat die letzten Tage immer wieder gebebt. Letzte Woche stand ich einmal hier oben und schaute aufs Tal, und da sah ich, wie die Bäume da hinten zu zittern begannen, und dann rollte es wie eine Welle, und man sah es an den Bäumen. Am Zittern der Bäume sah ich, wie das Erdbeben zu uns kam. Schließlich erfasste es die Bäume hier vorne, und keine Sekunde später bebte die Erde unter uns. Dinge im Haus fielen um und das Holz ächzte, und dann war es schon wieder vorbei. Das Erdbeben war weitergerollt.« (Manchmal fühlt es sich für mich an, als hätte ich selbst das Heranrollen erlebt, nicht nur das leichte Nachbeben in der Nacht. Doch, nein. Ich will keine Journalismuspreise gewinnen: Ich will sagen, was wahr war, was wahr ist – und so rational wie mir möglich es abschätzend, was wahrscheinlich wahr sein wird.)
Beeindruckt von der Geschichte unseres Gastgebers schauten auch wir damals auf das Tal. Der Wind ließ hier und da die Baumwipfel tanzen, und nun glaubten auch wir, ein Erdbeben kommen zu sehen. Aber nein, es war nur der Wind, und der Wind wollte nur spielen.
»Ein Wiedereinstieg sei denkbar«
Es sind merkwürdige Meldungen, die wir heute aus dem Erdbebengebiet deutscher und europäischer Innenpolitik hören. Selbst geübte Weltsortierer wie Sie und ich tun uns gelegentlich schwer, die passende Schublade für manche Meldung zu finden.
Innerhalb des Machtapparats CDU gibt es eine Reihe von Figuren, die als »Hoffnungsträger« fungieren, doch nicht in dem Sinne, dass sie demnächst die große Zerstörerin an der Spitze ersetzen wollten (ein solcher Eindruck kann der politischen Karriere abträglich sein), sondern in dem Sinne, dass sie uns Hoffnung geben, in der Merkelpartei seien noch Reste von Vernunft vorhanden. (Randnotiz: So sympathisch mir etwa die Positionen der »WerteUnion« sind, so erinnert es mich doch an die Salatgerichte im Fastfood-Restaurant – fürs tatsächliche Angebote eher nebensächlich, aber gut fürs Image.)
Einer dieser »Hoffnungsträger«, die den Vernünftigen unter den Bürgern gelegentlich ein paar Krümel Hoffnung hinwerfen, ist Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. In der an dummen Entscheidungen wahrlich nicht armen Merkel-Ära, belegt die Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen, einen der fragwürdigen Spitzenplätze. – Nun lesen wir in welt.de, 16.1.2020, »Kretschmer spricht offen über Rückkehr zur Atomkraft«: »Ein Wiedereinstieg sei denkbar, wenn die Energiewende scheitere.«
Die seit Jahren wie ein Erdbeben über Deutschland rollende Dummheit, mit immer neuen Schockwellen aus den bröckelnden Wänden des Kanzleramts und den dunkelfeuchten Katakomben des weitverzweigten Staatsfunks, diese Dummheit hat bewirkt, dass Deutschland wichtige Technologien aufgibt und darauf hofft, dass für immer genug Sonne scheinen und Wind wehen wird, um die 1.000-Euro-Smartphones und 100.000-Euro-Elektro-Limousinen der gewissensgeplagten Guten zu speisen.
Es wird seinen Grund haben, wenn dieselben Grünen, die an die heilende Wirkung magischer Zauberkügelchen glauben, auch darauf vertrauen, dass Sonne und Wind uns magischerweise rund um die Uhr versorgen werden, wenn wir ihr nur unsere Wirtschaft opfern und Zaubertänze aufführen. Die Energiewende war gescheitert, bevor sie begann, weil sie auf Wunschdenken statt auf Realität fußte, so wie ein Sprung aus dem Flugzeug ohne Fallschirm nicht schon deshalb glimpflich ausgehen wird, dass man es, warum auch immer, für moralisch geboten hält. Ja, dieser sektenhafte Irrsinn, der im Ausstieg aus zuverlässiger Energieversorgung mündet, ist wie ein Erdbeben, dessen Schockwellen uns immer wieder durchschütteln, aber nicht mehr überraschen.
Wir sehen sie ja immer wieder heranrollen. Und so überrascht es nicht, wenn wieder eine neue Erdbebenwelle der Dummheit uns durchschüttelt – zuletzt etwa die CO2-Steuer (teils via Moral-Panik von Mädchen aus reichem Hause und dubiosen NGOs »moralisch notwendig« gemacht). Dass ein CDU-Politiker es wagt, etwas Vernunft in die Debatte einzubringen, ist denkbar mutig. Es überrascht, so wie nach einer Folge regelmäßiger Erdbeben das Ausbleiben eines Erdbebens überraschen würde.
Merkel, getrieben von Grünen, Staatsfunk und wohl auch einer Blindheit für alles außer ihrer Macht im Moment, hat große Gräben in Europa aufreißen lassen. Sebastian Kurz will versuchen, Europas wohlstandsverlosten Westen mit dem nach Jahrzehnten von Diktatur deutlich abgeklärterem Osten zu versöhnen (auch wenn er es so wohl nicht formulieren würde). Sebastian Kurz und ausgerechnet Frau Dr. von der Leyen (die stets gut beratene Dame mit den gelöschten SMS) könnten sich dranmachen, zu reparieren, was Flaggenwegwerferin Merkel und Haarewuschler Juncker zerdepperten (welt.de, 16.1.2020: »Jetzt macht Kurz, was Merkel nicht geschafft hat«). Wenn Frau von der Leyen es gelingen sollte, auch nur einen Teil der Zerstörung zu reparieren, die Merkel über Europa brachte, dann sei ihr von mir aus ein Eierkarton voller Berater zusätzlich gegönnt – immer noch besser als dass diese Typen auf der Straße herumlungern – die Straßen Brüssels sollen ja gefährlich sein.
Und dann gibt es noch die Erdbeben, die einfach nicht aufhören wollen, uns immer wieder zu erschüttern – sie überraschen uns nicht mehr, und doch sind sie lästig. In Berlin hat sich aktuell die Ausländerbehörde in »Landesamt für Einwanderung« umbenannt (morgenpost.de, 15.1.2020), und die üblichen Unverdächtigen bejubeln es (etwa @sawsanchebli, 15.1.2020). Die Migration von und nach Deutschland scheint derzeit tatsächlich einem gewissen Muster zu folgen: Ein gewisser Herr Miri kann nicht abgeschoben werden, weil er sich derzeit für einen Syrer hält, und syrische Flüchtlinge zwar auf Heimaturlaub nach Syrien fliegen (welt.de, 18.8.2019), aber nicht dorthin abgeschoben werden können (focus.de, 17.1.2020). (Aber natürlich ist Syrien vergleichsweise kein sicheres Land, schließlich sind die Weihnachtsmärkte dort nicht so gut gesichert wie in Deutschland.) Dass man einem verurteilten Straftäter nicht zumutet, in Syrien zu leben, aber gleichzeitig Deutschland zumutet, mit ihm zu leben, das ist noch nicht einmal einem einzelnen Menschen als Schuld zuzuordnen (hoffe ich), es ist ein Versagen des Systems. Ja, es gibt Zeichen der Hoffnung, einzelne Schwalben, schwach noch, und auch allzu schüchtern.
Worauf wollen wir achten, wovon wollen wir reden, was soll unseren Tag bestimmen? Die schüchternen Schwalben am Himmel oder auf das Beben der Dummheit, das noch immer den Boden unter unseren Füßen wanken und wackeln lässt?
Hoffnung im Erdbebengebiet
Man möchte mit Hawkeye aus Avengers: Endgame ausrufen: »Don’t give me hope!« – Zu Deutsch (und in 2. Person Plural): »Gebt mir nicht (falsche) Hoffnung!« (Für Online-Kultur-Forscher: Es ist ein »Meme«, siehe YouTube und KnowYourMeme.)
Studien legen nahe, dass Pessimisten präzisere Vorhersagen über die Welt treffen. Ein paar kluge Aussagen sind noch nicht die Gewissheit, dass Vernunft wieder einkehrt. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – im Kanzleramt sitzt eine junge Dame, die mit ihrem metaphorischen Luftgewehr bislang noch jede Schwalbe der Hoffnung vom Himmel geholt hat. Wie lange wird sie es noch tun? Dass die Schwalben überhaupt in die Luft zu steigen wagen, das ist ein Zeichen für … wofür eigentlich?
Ich denke oft an jenen Moment zurück, an die Erzählung unseres Gastgebers, vom Erdbeben, das durchs Tal und auf das Haus zu rollt. Ich denke an meinen Blick ins Tal. Ich spüre mich an die Gleichzeitigkeit von gewaltiger Natur und menschlicher Hilflosigkeit.
Aufs Tal zu blicken, und zu beobachten, wie das Erdbeben heranrollt, und doch wenig daran ändern zu können – so fühlt es sich heute an, auf Deutschland und Europa zu blicken! Für jene von uns, die nicht dem Wahn von Haltung und gefühlter Wahrheit verfallen, fühlt es sich nicht täglich so an, als ob die Schockwellen eines Erdbebens unter uns durchrollten?
So wie mein Gastgeber in der Entfernung das Zittern der Bäume sah, und ahnte, dass da ein Beben heranrollt, so sehen wir es heute zu häufig, wie die Dummheit sich manifestiert, erst entfernt und scheinbar schwach, dann nahe und drohend, dann als Beben unter unseren Füßen.
Irgendein reicher NGO-Aktivist eines wie aus dem Nichts auftauchenden Vereins (mit noch reicheren, teils ausländischen Finanzierern) fordert etwas Dummes, ein wohlversorgter Staatsfunker fordert es nochmal, bald wird dem Volk eingeredet, diese neue Dummheit sei, was es doch mehrheitlich wolle, und wer das nicht wolle, der sei Nazi und seine Meinung sei »Hass«, und schon wieder rollt eine zerstörerische Welle praktischer Dummheit übers Land (die wahrscheinlich jene, welche sie auslösten, wenig betrifft).
Und doch, selbst wer in einem Erdbebengebiet wohnt, hofft ja, dass ein Erdbeben auch wieder vorbeigeht. An einem Ort, wo immerzu die Erde bebt, und nicht einmal für einige wenige Jahre uns durchatmen lässt, da würde und sollte keiner wohnen.
Dummheit, die ein ganzes Land erfasst, ist wie die die Wellen eines Erdbebens. In diesem Sinne: Deutschland ist ein Erdbebengebiet, und die Wellen der Dummheit erschüttern den Boden unter unseren Füßen.
Noch zittern die Bäume
Wenn die Erde bereits unter den Füßen bebt, dann ist es fast zu spät sich aufs Erdbeben vorzubereiten. Wenn wir in der Ferne die Bäume zittern sehen, dann sollten wir bereits die teure Ming-Vasen-Sammlung aus dem Regal nehmen und weich verpacken, vielleicht den Gasherd ausschalten und uns sicher positionieren, wo uns hoffentlich nichts auf den Kopf fallen wird.
Wir hoffen ja immerzu, dass die Dummheitsbeben aufhören, dass das Land zur Ruhe findet. Wir sehen Zeichen der Hoffnung, und wir sind uns längst nicht mehr sicher, ob es nicht nur Theater und Täuschung ist, ob es uns nicht nur glauben machen soll, dass es richtiges Denken unter der falschen Kanzlerin geben kann. Wir sehen Zeichen der Vernunft, und wir hoffen, dass sie nicht nur Geister sind, die uns unsere Hoffnungen vorgaukelt, süße Illusionen (also eine Art perverses Gegenüber zum »Zimmer 101« in »1984«, wo dem Opfer seine eigenen Ängste verabreicht werden).
Ein Unterschied zwischen tatsächlichen Erdbeben und der Dummheit besteht darin, dass sich die Dummheit durch Widerworte und Widerstand bremsen lässt. Widerworte geben wir der Dummheit täglich, und manche demokratisch und freiheitlich gesinnte Bürger tragen den Kampf gegen die Aushöhlung von Freiheit und Grundrechten nicht nur in Worten, sondern auch in Klagen und Gerichtsverfahren aus (siehe tichyseinblick.de, 17.1.2020).
Ist das Dummheitsbeben schon vorbei? Nein, noch lange nicht. Wird es neue Schockwellen geben? Es steht zu befürchten. Gibt es Zeichen der Hoffnung? Nun, das muss jeder für sich bewerten. Ich will mich weder ganz der Hoffnung hingeben – noch erlaube ich mir, sie ganz aufzugeben.
Noch zittern die Bäume. Sucht euren Innenhof, seid vorsichtig und weise. Ordnet eure Kreise! – Hofft darauf und kämpft dafür, dass es ruhiger wird, dass das Beben weniger wird. Bis dahin aber: Nehmt eure Ming-Vasen aus dem Regal!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.