Der Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) wirbt seit einigen Tagen für den „Kölner Corona-Aufruf“, einen offenen Brief, den „ein breites Bündnis an die Bewohner der Stadt“ richtet. Der Aufruf appelliere an die Solidarität im Kampf gegen die Pandemie und sei eine Antwort auf sogenannte Corona-Spaziergänge. Initiator ist das Kölner Bündnis gegen Rassismus „Köln stellt sich quer“, das jetzt ein deutliches Zeichen setzen will. Man will „die Spaziergänge nicht unkommentiert lassen“, so die Mitinitiatorin Brigitta von Bülow (Grüne). Klar ist also, worum es geht: Demonstranten gegen die Corona-Politik als Rassisten oder zumindest als mit Rassisten Mitlaufende abzustempeln.
Der Aufruf an die „lieben Kölnerinnen und Kölner“ beginnt mit der Bekundung, nach zwei Jahren mit Corona erschöpft, aber fest entschlossen zu sein, „die Pandemie gemeinsam und solidarisch zu überwinden“. Von Entschlossenheit zur Solidarität war bei einigen prominenten Unterstützern allerdings bislang wenig zu spüren. Denn stillschweigend dabei zuzusehen und es für richtig zu befinden, wenn ein Teil der Bürger vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird, hat erstmal nicht viel mit Gemeinsamkeit und Solidarität zu tun, sondern mehr mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Spaltung. Und wohl erst recht, wenn man dabei an vorderster Front mitmacht, wie etwa der 1. FC Köln, der schon seit Sommer 2021 Ungeimpften den Einlass ins Stadion verbietet, das Kölner Festkomitee, das Ungeimpften bei Karnevalsveranstaltungen den Zutritt verwehrt, sowie Künstler, die Ungeimpfte nicht mehr zu ihrem Publikum zählen möchten („Klare Ansage vor Köln-Konzerten: 2G oder 3G? Tommy Engel hat sich längst entschieden“).
Solidarität bedeutet laut Wörterbuch „auf das Eintreten füreinander sich gründende Unterstützung“ und „unbedingtes Zusammenhalten“. In diesen außergewöhnlichen und für die meisten vielleicht bisher schwierigsten Zeiten zeigt sich nun, wer Herz und wer Anstand hat – und den Mut, das zu zeigen und füreinander einzutreten und unbedingt zusammenzuhalten. Ja, es gibt Geschäfte und Gaststätten, es gibt Künstler, die bei der Diskriminierung und Ausgrenzung nicht mitmachen, die sich weigern, ihre Kunden, Gäste und Zuschauer auszuschließen. Viele der Unterzeichner des Solidaritäts-Aufrufs gehören jedoch nicht dazu.
Die Unterzeichner behaupten, ihre besondere Solidarität gelte den älteren Menschen sowie Kindern und Jugendlichen. Letztere sind wohl die mit am meisten Leidtragenden und werden noch lange die psychischen und sozialen Auswirkungen der letzten Monate spüren. Sie, die kaum gefährdet sind, am Virus schwer zu erkranken, sind seit nunmehr fast zwei Jahren zumindest fragwürdigen Corona-Maßnahmen ausgesetzt.
- Sie tragen den ganzen Schultag lang teilweise ununterbrochen eine Maske: auf dem Schulweg in Bus und Bahn sowie in der Schule während des Unterrichts und der Pausen. In der Tat höre ich von Jugendlichen, dass sie sich daran gewöhnt haben und es ihnen nichts ausmacht. Man kann sich an vieles gewöhnen, auch an Schädliches – und je früher im Leben, desto besser.
- Schüler testen sich – darauf eingestellt, dass sie jederzeit ansteckend und damit eine Gefahr für andere sein könnten – mehrmals die Woche, zittern vor dem Ergebnis, hängt doch davon ab, ob sie an der Klausur teilnehmen, ihren Geburtstag feiern, ihre Großeltern besuchen, mit auf Klassenfahrt dürfen. Oft genug zeigten die Tests falsch positiv an, sodass die Aufregung und Quarantänezeit bis zum Ergebnis unnötig waren. Oft genug mussten sie als „Kontaktperson“, ohne selbst krank zu sein, tagelang in Quarantäne.
- Viele haben sich impfen lassen, um dem sozialen Druck durch Mitschüler und Lehrer zu entgehen, der Stigmatisierung und Diffamierung als Ungeimpfte oder auch nur, um ihrem Hobby in Sportverein oder Musikschule nachgehen zu können – mit einem Impfstoff, der nur bedingt zugelassen ist und jungen Menschen mehr schaden kann, als er ihnen nutzt.
Halten wir fest: Obwohl Schüler inzwischen geimpft sind und mehrmals die Woche mit einem Test ihre Gesundheit nachweisen müssen, um am Unterricht teilnehmen zu dürfen, tragen sie immer noch den ganzen Tag eine Maske und sitzen in Klassenräumen bei geöffneten Fenstern, im Winter mit dicken Jacken, Decken, Mütze und Handschuhen, um sich vor der Kälte zu schützen. Frage an die Initiatoren und Unterzeichner des Aufrufs: An welcher Stelle zeigen sie sich solidarisch mit Kindern und Jugendlichen, wenn sie „deshalb (wegen ihrer besonderen Solidarität) die von allen renommierten wissenschaftlichen Expert:innen empfohlenen Maßnahmen zur wirkungsvollen Bekämpfung der Pandemie wie Impfen, Boostern, Masken- und Testpflicht“ befürworten.
Im Ernst? Das zu lesen, erschöpft auch. Wer sich nur ein wenig bemüht, sich umfassend zu informieren – zugegeben, ganz ohne Mühe geht es nicht, denn die Leitmedien samt öffentlich-rechtlichem Rundfunk präsentieren diese Informationen nicht gerade auf dem Tablett –, wird erfahren, dass sich eben nicht alle renommierten wissenschaftlichen Experten einig sind. Im Gegenteil. Und der Blick in andere Länder, vor allem die skandinavischen, zeigt, dass es auch anders geht.
Die Mitinitiatorin von Bülow will mit dem Aufruf zeigen, „wo die Stadtgesellschaft steht und dass ein sehr großes Spektrum die Situation anders sieht als die Spaziergänger“. Das klingt wieder mehr nach Ausgrenzung als nach Solidarität — zählt sie doch bestimmte Menschen offensichtlich nicht zur „Stadtgesellschaft“. Sie hätten auf eine „große Demonstration“ verzichtet wegen der hohen Infektionszahlen. Dabei klappt es doch beim FC und Karneval auch, dass mit 2G, 2Gplus oder 2Gplusplus, mit Maske und Abstand viele Menschen zusammenkommen – da sollte doch auch eine Gegen-Demonstration möglich sein. Nein, die hohen Infektionszahlen sind nicht der wahre Grund: Vermutlich ahnt die Initiatorin, dass sich nicht genug Teilnehmer zusammenfinden, dass es eben keine „große Demonstration“ geben würde und dass es nicht „ein sehr großes Spektrum“ ist, das die Situation anders sieht als die Spaziergänger.
Das zeigen die bisherigen Gegen-Demos, zu denen aufgerufen wurde und an denen im Verhältnis nur wenige teilgenommen haben. Denn immer mehr Kölner schließen sich den „Spaziergängern“ an. Und nein, es sind sehr weit überwiegend keine „Corona-Leugner“, „Impfgegner“, „Verschwörungstheoretiker“, „Rechte“ und „Reichsbürger“. Es sind vielmehr Bürger aus der Mitte, Familien, Junge, Alte, viele Migranten – und: auch viele Geimpfte. Vielleicht ist das für die Initiatoren und Unterzeichner des Aufrufs schwer vorstellbar, aber auch Geimpfte gehen auf die Straße: für die Freiheit – die eigene und die der anderen. Das ist Solidarität im Sinne von Zusammenhalten und Eintreten füreinander.
Und genau das tun die „Antirassismus-Initiative“ und ihre Unterzeichner, wenn sie es für nötig halten, an die Demonstranten zu appellieren, „sich unmissverständlich von einer kleinen, lautstarken Minderheit rechter Populisten und Extremisten zu distanzieren, die den Protest für ihre nationalistischen und rassistischen Ziele instrumentalisieren, und nicht gemeinsam mit ihnen auf die Straße zu gehen.“ Hier stellt sich die Frage: Was bedeutet „unmissverständlich“ und wer beurteilt, ob eine Distanzierung „unmissverständlich“ genug ist? Für das Bündnis „Köln stellt sich quer“ und seine Unterstützer dürfte schon die Teilnahme an einer Demo verwerflich sein, bei der auch nur ein Vertreter der verhassten, aber demokratisch gewählten AfD mitgeht.
Die Unterzeichner sind dafür, dass die Maßnahmen von demokratisch gewählten Parlamenten debattiert, entschieden und auf das Notwendige beschränkt werden. Sie sind zudem für Pressefreiheit und wollen einen wissenschafts- und faktenbasierten Journalismus, der aufklärt. Sie setzen sich dafür ein, die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Doch sind da die „Bewohner der Stadt“, an die sich der Brief richtet, nicht die falschen Ansprechpartner? Diese Forderungen müssten wohl eher an Politik und Medien gerichtet sein. Und merken die Unterzeichner nicht, dass das genau die Forderungen sind, für welche die „Spaziergänger“ auf die Straße gehen?
Die Unterzeichner verurteilen „verbale und tätliche Angriffe auf Mitarbeiter:innen von Ordnungsämtern und Polizist:innen, auf Politiker:innen, Journalist:innen, Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen“. An dieser Stelle wäre notwendig und sinnvoll zu ergänzen, dass verbale Angriffe auch auf nicht geimpfte und für ihre Freiheit demonstrierende „Bürger:innen“ verurteilt werden. Es wäre vor allem der erste Schritt zu beweisen, dass die Initiatoren und Unterzeichner es ernst meinen, wenn sie ihren „Kölner Corona-Aufruf“ mit der Aussage schließen: „Wir stehen für ein demokratisches, solidarisches und friedliches Köln.“