SPD, Grüne und FDP wollen mit ihrem Koalitionspapier „Mehr Fortschritt wagen“ eine besonders „progressive“ Einwanderungs- und Integrationspolitik einführen. Das geht aus mehreren Passagen des fast 180 Seiten langen Papiers hervor. Deutschland müsse ein „modernes Einwanderungsland“ werden, deshalb wolle die Koalition einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik“ gestalten. „Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel: Mit einer aktiven und ordnenden Politik wollen wir Migration vorausschauend und realistisch gestalten. Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen.“ Die Koalitionsparteien stünden zu ihrer humanitären Verantwortung und den Verpflichtungen, um „Geflüchtete” zu schützen und Fluchtursachen zu bekämpfen.
Die Koalition strebt ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ an. „Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen.“ Unter diese „übrigen Voraussetzungen“ zählt vor allem ein Identitätsnachweis und eine Lebensunterhaltssicherung.
„Geduldeten” in der Ausbildung soll mehr Rechtssicherheit durch eine Aufenthaltserlaubnis verliehen werden. „Beschäftigungsduldungen” sollen entfristet, die „Duldung light“ abgeschafft werden. Arbeitsverbote für „in Deutschland Lebende“ will die kommende Bundesregierung ganz abschaffen.
Auffällig ist die sehr kurze Spanne zum Erwerb von Aufenthalts- und Bleiberecht sowie der deutschen Staatsbürgerschaft. Sie unterliegt Fünf-Jahres-Fristen. De facto kann demnach jeder, der vor dem 1. Januar 2017 in Deutschland eingewandert ist, unter vergleichsweise marginalen Auflagen ein Aufenthaltsrecht erwerben und es nach einem Jahr in ein Bleiberecht umwandeln. Doch nicht nur der jungen Generation macht die Koalition ein Angebot: Auch der Gastarbeitergeneration soll der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert werden, als „Anerkennung der Lebensleistung“. Dafür soll es bei mangelnden Sprachfähigkeiten eine „allgemeine Härtefallregelung“ für den erforderlichen Sprachnachweis geben.
Zusätzlich möchte die Bundesregierung am Asylverfahren schrauben. Die Widerrufsprüfung werde in Zukunft wieder anlassbezogen erfolgen. Verwaltungsgerichte sollen durch „qualitativ hochwertige Entscheidungen“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge entlastet werden. „Weiter führen wir eine flächendeckende, behördenunabhängige Asylverfahrensberatung ein, um mit informierten Antragstellerinnen und Antragstellern für eine Verfahrensbeschleunigung zu sorgen. Vulnerable Gruppen wollen wir von Anfang an identifizieren und besonders unterstützen.“ Das Konzept von AnkER-Zentren werde unter der neuen Bundesregierung nicht mehr weiterverfolgt.
Die Familienzusammenführung soll deutlich liberaler als in der Vergangenheit werden. „Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen. Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen. Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen.“ Die Gesundheitsversorgung für Asylbewerber soll „unbürokratischer“ gestaltet werden, minderjährige Kinder seien von Leistungseinschränkungen und -kürzungen auszunehmen.
Das Koalitionspapier will auch bei Abschiebungen Veränderungen, um der „humanitären Verantwortung“ nachzukommen. Kinder und Jugendliche sollen grundsätzlich nicht mehr in Abschiebehaft kommen. „Die staatliche Rückkehrförderung für Menschen ohne Bleiberecht wollen wir finanziell besser ausstatten.“ Für einzelne Herkunftsländer soll die oberste Bundesbehörde einen „temporären nationalen Abschiebestopp“ erlassen können.