Tichys Einblick
Was der Koalitionsvertrag erwarten lässt

Die Ampel-Regierung der Illusionen

Die im Koalitionsvertrag angekündigte Gesellschafts-, Migrations- und Europapolitik wird nicht nur fiskalisch einen Scherbenhaufen hinterlassen. Nebenwirkung: Die FDP schadet ihrer eigenen Klientel und macht sich überflüssig.

Am Abend der letzten Bundestagswahl, als auch noch dem Letzten klar wurde, dass der langgehegte Plan der CDU, sich selber überflüssig zu machen, endlich zu einem großartigen Erfolg geführt hatte, war bereits absehbar, dass uns nichts Gutes erwarten würde. Eine von SPD und Grünen dominierte Koalition war unvermeidlich, da die CDU sich selbst aus dem Spiel genommen hatte.

Überdies zeichnete sich schon kurz nach der Wahl ab, dass es der FDP in einer solchen Kombination nicht leichtfallen würde, zumindest in Teilbereichen vernünftige Argumente zur Geltung zu bringen, soweit sie es denn überhaupt beabsichtigte. Ein Schlüssel zum Koalitionsvertrag, wie er jetzt beschlossen wurde, ist daher auch die innere Gespaltenheit der FDP. Einerseits ist sie eine Partei, die Wähler vertritt, denen die CDU in den letzten Jahren zu profillos geworden war, sowohl in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch mit Blick auf Reizthemen wie Immigration.

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Andererseits vertrat und vertritt die FDP seit Westerwelles Spaßpartei-Wende aber auch eine Art post-bürgerliche Bourgeoisie, wenn man dies so nennen darf, jene wohlhabende Mittelschicht, die mit Bürgerlichkeit im traditionellen Sinne nicht mehr viel anfangen kann und kulturell ähnlich orientiert ist wie die Grünen. Es sind typische „anywheres“, die glauben, überall zu Hause zu sein, für den Multikulturalismus schwärmen und meist vollständig säkularisiert sind. Von den Grünen und ihren Stammwählern unterscheiden sie sich aber durch eine gewisse Abneigung gegen ein Zuviel an Moralismus und einen ausgeprägten persönlichen Hedonismus. Mit Bildung im traditionellen Sinne können sie meist ebenso wenig anfangen wie mit den überkommenen Vorstellungen von Ehe und Familie. Unter den Wählern der FDP sind diese postbürgerlichen, aber wirtschaftlich erfolgreichen Linksliberalen wohl eher die Minderheit, aber nicht unbedingt unter den Mitgliedern der Partei. Dies und nicht nur die Zwänge einer Koalition, in der der kleinste Partner naturgemäß Zugeständnisse machen muss, erklärt viele Eigenheiten des neuen Koalitionsvertrages in gesellschaftspolitischen Fragen. 

So soll ein ressortübergreifender nationaler Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten mit 70 Millionen Euro dotiert werden. Der Gedanke, dass geschlechtliche Identität wesentlich auch durch biologische Faktoren bestimmt ist, wird ad acta gelegt, da es jeder Person in Zukunft selbst überlassen bleibt, welchem Geschlecht sie sich zuordnen will. Ein Blick auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über ähnliche Fragen in Großbritannien zeigt, dass man damit eine Büchse der Pandora öffnet. Zum einen stellt sich die Frage, ob Personen, die erklären, sie seien weiblich, aber rein körperlich eher männliche Züge tragen, damit auch uneingeschränkten Zugang zu Räumen erhalten, die bisher für Frauen im biologischen Sinne reserviert waren – auch aus Gründen des Schutzes. Zum anderen liegt es nahe, nun den Gedanken zu tabuisieren, es gäbe doch so etwas wie ein angeborenes biologisches Geschlecht. Der nächste Schritt wäre dann, Männer und Frauen, die diesen Gedanken dennoch vertreten, mit den Mitteln der Cancel-Kultur oder gar unter dem Vorwand, ihre Äußerungen seien „hate-speech“, auch mit strafrechtlichen Sanktionen aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen, wie es vor Kurzem in England der Professorin Kathleen Stock widerfahren ist.

Die Bedeutung der Migrationspolitik

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Andererseits überrascht es nicht, dass die FDP an dieser Stelle einer Lobby entgegengekommen ist, für die sie seit langen Jahren eintritt. Und fürs Erste mögen die gesellschaftlichen Folgen auch überschaubar sein. Gravierender sind die migrationspolitischen Entscheidungen. Die neue Regierung wird, diesen Eindruck gewinnt man, wenig tun, um das Ausmaß der Armutsmigration, die sich auf das Zielland Deutschland richtet, zu reduzieren, obwohl nominell davon die Rede ist, dass man irreguläre Migration stärker begrenzen will. Dem steht aber das Versprechen einer rascheren Einbürgerung von Einwanderern gegenüber, im Endeffekt auch dann, wenn diese ursprünglich ohne plausiblen Asylgrund eigentlich illegal ins Land gekommen sind, denn ein Spurwechsel von der Immigration kraft des Antrages auf Asyl zur legalen Arbeitsmigration wird deutlich erleichtert. Die Abschaffung wichtiger Sanktionen im Hartz-IV-System wird Deutschland für Armutsmigranten zusätzlich noch attraktiver als bisher werden lassen. Ob der ohnehin überdehnte Sozialstaat den Folgen einer solchen Politik gewachsen ist, bleibt abzuwarten. Bleibt ein dauerhaftes starkes Wirtschaftswachstum aus, und das ist sehr wahrscheinlich, wird das wohl eher nicht der Fall sein.

Hinter der Migrationspolitik steht aber eigentlich die Vision einer perfekten multikulturellen Gesellschaft ohne eigenen kulturellen Kern, mit umfassender positiver Diskriminierung (etwa Quoten) für Minderheiten aller Art, so wie sie heute schon ansatzweise in Kanada zur Wirklichkeit geworden ist. Das lässt der Koalitionsvertrag, der hier vor allem die Handschrift der Grünen trägt (darauf deutet unter anderem das geplante „Partizipationsgesetz“ hin), dann doch ansatzweise erkennen. Die kulturelle Diversität wäre dann so groß, dass schon aus diesem Grunde liberal-konservative Parteien, die sich zumindest teilweise am traditionellen Nationalstaatsgedanken orientieren, wie es die CDU vor Merkel einstmals tat, für immer chancenlos wären. SPD und Grüne hätten sich ihre Macht dann auf Dauer gesichert, zumal sie ihr Wählerreservoir jederzeit durch Immigration vergrößern könnten. Die FDP würde man in einigen Jahren als Partner dann auch nicht mehr brauchen, weil sie von dieser Entwicklung sicher weniger profitieren würde als ihre Partner, und was können sich Scholz und Habeck mehr wünschen, als eine Konstellation, in der sie die FDP gar nicht mehr als Mehrheitsbeschaffer benötigen?

Allerdings würde die Regierung mit ihrer stärkeren Öffnung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft (natürlich alles unter den Bedingungen der weitgehenden Doppelstaatsbürgerschaft) auch für rezente Immigranten gar nicht so viel anders verfahren als kleine EU-Staaten wie Zypern oder Malta, die ihre Staatsbürgerschaft meistbietend an wohlhabende Interessenten verkaufen. Das würde Deutschland nicht tun, sondern den deutschen Pass einfach nur verschenken, das dann allerdings nicht wie beispielsweise Zypern an Hunderte oder Tausende, sondern an Hunderttausende oder gar – über die Jahre hinweg – an Millionen. Europapolitisch wäre das dennoch brisant, denn auf diese Weise Eingebürgerte würden damit eben in der ganzen EU Bürgerrechte genießen und könnten sich auch bei Bedarf in jedem beliebigen Land niederlassen. Da fast alle Nachbarn Deutschlands – selbst Schweden – in der Migrationspolitik die Zügel zurzeit eher anziehen, wäre Deutschland damit in der EU ein gefährlicher Geisterfahrer. So könnten zumindest unsere Nachbarn das sehen.

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Kanada, dessen Gesellschaft den Koalitionären als Vorbild dienen mag (Habeck sieht sich mit seinem cremigen Charme vermutlich schon als deutschen Trudeau), setzt zwar ganz auf die Karte des Multikulturalismus und einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik, die alle „bedenklichen“ Äußerungen, die den multikulturellen Frieden oder das subjektive Wohlbefinden von Minderheiten stören könnten, sprachpolizeilich zu kriminalisieren sucht. Aber Kanada versteht es dennoch, eine reine Armutseinwanderung dank eines entsprechenden Punktesystems weitgehend einzudämmen. Davon wird im neuen Ampel-Deutschland wohl eher nicht die Rede sein.

Das wiederum wird die soziale Ungleichheit wachsen lassen, denn es wird eben aller Voraussicht nach in erheblichem Umfang Armut importiert. Darauf wird es wie in der Vergangenheit trotz zum Teil gegenteiliger Lippenbekenntnisse aber hinauslaufen, wenn man eine große Zahl von beruflich schlecht qualifizierten Migranten ins Land lässt, die noch dazu kulturell nur begrenzt anpassungsfähig sind. Es wird nicht lange dauern, bis das den Ruf nach Ausgleich und mehr Umverteilung lauter werden lässt, der jetzt schon allenthalben erklingt, und von dem die Politik der Koalition ja auch bereits inspiriert wird, man denke an den höheren Mindestlohn oder marktwirtschaftlich gesehen problematische Maßnahmen zur Begrenzung des Anstiegs der Mieten. Verwirklicht wird dieser Ausgleich dann auf Kosten der Mittelschicht, der natürlichen Klientel der FDP. Ohne es zu realisieren, gräbt sich somit die FDP durch eine noch liberalere Migrationspolitik als bisher womöglich das eigene Grab, aber das scheint der Partei nicht bewusst zu sein.

Bedenkliche fiskalische und europapolitische Weichenstellungen

Wie die vielen Projekte der Koalition, allen voran der klimaneutrale Umbau von Wirtschaft und Verkehr bei stetig wachsenden Kosten des Sozialstaates finanziert werden sollen, bleibt ohnehin unklar. Diese Frage wurde bei den Verhandlungen bewusst ausgeklammert, wohl auch deshalb, weil es zu diesem Zeitpunkt für die FDP noch zu gefährlich gewesen wäre, einer offiziellen Aufhebung der Schuldenbremse oder höheren Steuern zuzustimmen. In zwei oder drei Jahren, wenn die Probleme sich noch einmal zugespitzt haben werden, wird das aber vielleicht anders aussehen. Das lässt sich zurzeit schwer vorhersagen, zumal bis dahin eine steigende Inflationsrate noch einmal ganz neue sozialpolitische Probleme geschaffen haben wird, auch dank der Politik der EZB. Die wird mit Sicherheit einstweilen weiter auf finanzielle Repression ausgerichtet bleiben, weil man nur so den Süden der Eurozone und Frankreich entlasten kann. 

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Die Koalition hat sich trotz der durchweg eher schlechten Erfahrungen mit dem europäischen Einigungsprozess seit Ausbruch der Eurokrise und unseren wenig vertragstreuen Partnern in der Eurozone ganz dezidiert dazu bekannt, die Nationalstaaten in Europa abzuschaffen und durch einen europäischen Bundesstaat zu ersetzen. Das Subsidiaritätsprinzip, das in diesem Zusammenhang immerhin erwähnt wird, war schon in den vergangenen zwanzig Jahren komplett irrelevant und wird es in der EU natürlich auch in Zukunft bleiben, zumal der EuGH es in seiner Rechtsprechung nie gestützt hat. Sicher, die praktischen Wirkungen eines solchen von tiefer Einfalt geprägten Bekenntnisses zu einem EU-Bundesstaat werden zunächst begrenzt sein, denn eine solche Linie wird von den wenigsten Regierungen in Europa mitgetragen, allenfalls in Belgien und Luxemburg mag man die Dinge ähnlich sehen, sicherlich nicht in Paris, Warschau, oder Den Haag.

Aber ein solches Bekenntnis wird bei unseren „Partnern“ als Signal gedeutet werden, dass Deutschland mehr als andere Länder bereit sein wird, Opfer für das Ziel der europäischen Einigung zu bringen, Opfer in Form von deutlich mehr finanziellen Transfers und in Form einer immer stärker wachsenden gemeinsamen Verschuldung aller EU- oder zumindest aller Euro-Länder. Die Weichen dafür hat ja schon Merkel gestellt in ihrer Amtszeit – wie übrigens die gesamte Politik der neuen Koalition in weiten Bereichen nur die Fortsetzung der Merkelschen Politik ist. Vorangetrieben wurde die Vollendung der europäischen Haftungsunion aber auch vom damaligen Finanzminister Scholz, dem zukünftigen Kanzler. Der Mann ist offenbar stolz darauf, dass er nicht rechnen kann – anders kann man sein Verhalten auch in anderen, sozialpolitischen Fragen nicht nachvollziehen. Was er freilich mit vielen Amtsvorgängern gemeinsam hat. Nun gut, Scholz hat sich einen Namen ja unter anderem als überzeugter intersektioneller Feminist gemacht, wie wir alle wissen, da muss man dann auch nicht unbedingt rechnen können, das wäre dann eher ein Zeichen für toxische Männlichkeit.

Die Kosten, die auf Deutschland auf Grund der immer stärker werdenden Haftungsunion auf europäischer Ebene zukommen, werden erheblich sein. Spätestens, wenn längerfristig die Zinsen wieder steigen – und steigen sie nicht, werden sich eine trabende Inflation und eine immer stärkere Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar wohl kaum vermeiden lassen – wird man von Deutschland verlangen, den südlichen Ländern der Eurozone einen großen Teil der Lasten des Schuldendienstes abzunehmen, wie das über die gemeinsamen EU-Schulden (Corona-Fonds) in Höhe von einstweilen knapp einer Billion und die diversen Rettungsfonds der Eurozone im Grunde genommen jetzt schon geschieht. Bei steigenden Zinsen könnten dann, rechnet man zusätzliche direkte Transfers ein, auf denen Paris und Rom sicher bestehen werden, rasch jährliche Kosten von 60 bis 80 Milliarden Euro, wenn nicht gar in noch größerer Höhe entstehen.

Scholz und Habeck haben bereits in der Vergangenheit klar gemacht, das sie sich auf all das explizit einlassen wollen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie man dann die übrigen ehrgeizigen Projekte der neuen Regierung (Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Stabilisierung des Rentenniveaus etc.) finanzieren will. Das wird faktisch ohne erhebliche Steuererhöhungen kaum möglich sein. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man hier in einigen Jahren vor einem fiskalpolitischen Scherbenhaufen stehen wird, ist sehr hoch.

Ein Militär für Krisenstabsleitung
Ampel-Lindner will, dass ein General in der Pandemie führt
Die FDP wäre eigentlich gut beraten, hier vorzeitig auf die Bremse zu treten. Die bisherigen europapolitischen Äußerungen von Lindner deuten aber eher darauf hin, dass er an dieser Front bereits weitgehend widerstandslos kapituliert hat. Er würde sich damit in die lange Reihe der politischen Leichtgewichte unter den FDP-Vorsitzenden nach dem Muster des unvergessenen Westerwelle einreihen, und faktisch den wirtschaftlichen Niedergang seiner eigenen Wählerklientel einleiten, die solche Fehlentscheidungen wird ausbaden müssen. Die FDP wäre hier gut beraten, so rasch als möglich eigene europapolitische Akzente auch um den Preis eines koalitionären Dauerkonfliktes mit SPD und Grünen zu setzen, wenn sie selber überleben und Deutschland irgendeine Form von wirtschaftlicher Zukunft sichern will. Denn diese Zukunft wird es in einer EU, wie sie sich Draghi und Macron vorstellen, für unser Land mit absoluter Sicherheit nicht geben. Das ist aus der Sicht von Paris und Rom einfach nicht vorgesehen.

Insgesamt können sich unsere Nachbarn in Europa über eine Regierung, die noch weniger als ihre Vorgängerin bereit sein wird, offen für deutsche Interessen einzutreten, natürlich durchaus freuen. Etwas Besseres hätte ihnen ja kaum passieren können. Aber sind Frankreich und andere Länder, die auf die deutsche wirtschaftliche Stärke oft mit Missgunst geblickt haben, mit einer Regierung, deren Politikverständnis bestenfalls durch naiven Idealismus, wenn nicht gar in vielen Fragen durch Traumtänzerei geprägt ist, wirklich so gut bedient?

Sieht man einmal von der Energiepolitik ab, wo sich bereits starke französisch-deutsche Konflikte abzeichnen (Kernkraft), wird auch eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ein Problemfeld sein. Aber auch hier gibt es ja Zeichen der Hoffnung, denn Deutschland, so steht es im Koalitionsvertrag, will jetzt eine „feministische Außenpolitik“ betreiben. Wie man aus gewöhnlich gut informierten Kreisen hört, haben Putin und die Regierungen in Peking und Kabul schon mit großer Nervosität auf diese Ankündigung reagiert. Der Kombination von intersektionellem Feminismus im Kanzleramt und feministischer Außenpolitik unter der Leitung der renommierten Völkerrechtlerin Annalena Baerbock werden sie sich kaum gewachsen zeigen, das zeichnet sich jetzt schon ab. Einer moralischen Großmacht, wie Deutschland es in den nächsten Jahren sicher sein wird, kommt daher eine ganz neue weltpolitische Bedeutung zu, das mag uns zum Trost gereichen, wenn es auch sonst steil bergab gehen wird.

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