Wie der Autor neulich aus der Provinz bei Stuttgart hörte, können nicht einmal Ortsvereine oder Stadtverbände den Berliner Unmut noch abfedern, geschweige denn Genossen halten – so ausgelaugt und leider auch abgestoßen vom SPD-Bundesvorstand sind bereits viele Wähler und auch Mitglieder.
So parlierten dann Breymaier und Kühnert, ein wenig wie Mutter und Sohn wirkend, über den Politbetrieb und Politiker an sich, über gleichgeschlechtliche Ehe, das Schlagwort „Digitalisierung“ und sexuelle Belästigung. Dass sich beide in vielem einig sind, überrascht kaum jemanden. Man fragte sich eher, warum Breymaier überhaupt einen eigenen Genossen zu einem Gespräch eingeladen hatte. Um etwa Streit- und Diskussionskultur vorzugeben? Immerhin, Breymaier wolle unbedingt regieren, um Dinge zu verbessern und zu verändern. Kühnert hingegen ist nicht bereit, um jeden Preis die Koalition aufrechterhalten. Insgesamt war es mehr ein Kokettieren mit beiderlei Stellung in der Politik. Was dachten sich wohl etliche kritische Genossen unter den Studenten? Dass da nun einer da vorne sitzt, eigentlich in ihrem Alter, und von Politik und Gefahren der Rechten sprach wie ein routinierter Parlamentarier, der selbst aber beruflich wenig auf die Reihe bekommen, das Studium abgebrochen hat?
Die anschließende Kneipentour, wie im Programm angekündigt, durch Aalens Innenstadt, sei feuchtfröhlich gewesen, die Diskussionskultur wurde intensiviert. Ob dabei auch über den ehemaligen Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, debattiert wurde, ein Realo durch und durch, 70 Jahre alt, und sich plötzlich mit der Forderung nach einem Ausschluss aus der SPD konfrontiert sieht, weil sich ein paar „SPD-No-Names“ in Berlin bemüßigt fühlten, einen Antrag auf eben dieses Verfahren zu stellen? Vielleicht auch nur Symbolpolitik, aber eine fatale, die die SPD an Genossen wie Sympathisanten sendet. Die SPD, so scheint es, ist wirklich am Ende und weit unten. Offenbar genügt das aber alles noch nicht.
Den Computer hochgefahren, springt dem Autor der SPD-Generalsekretär aktuell Lars Klingbeil entgegen. Die aufgeregte Headline lautet dieses Mal: „SPD fordert CDU zu Abgrenzungsbeschluss von AfD auf“. Lars Klingbeil, 40 Jahre alt, und als Nachrücker in den Bundestag eingezogen (2005), firmierte Klingbeil irgendwann ganz plötzlich als Generalsekretär. Nominiert wurde er von Martin Schulz. Außerhalb Niedersachsens jedoch kannte ihn kaum ein (Ur-)Genosse wirklich. Geprägt wurde Klingbeil bei den Jungsozialisten, in dieser Zeit wurde er auch stellvertretender Bundesvorsitzender und war Jugendbildungsreferent. Als Friedrich-Ebert-Stipendiat studierte Klingbeil Soziologie und Politik.
Es war der neue Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen, Christian Hartmann, der für einen „Aufschrei“ gesorgt hatte, als er eine Koalition mit der AfD nach der Landtagswahl 2019 nicht ausschließen wollte.
Als dann auch der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland darlegte, er könne sich mittelfristig eine Koalition mit der CDU vorstellen, hatte die SPD endlich wieder zum Thema zurückgefunden – aber eben doch wieder mal kein eigenes gesetzt. Man kümmert sich eben lieber doch wieder um die Belange anderer Parteien, anstatt zu überlegen, wie man die etwa 330.000 Wechsel- oder Protestwähler mit einem ansprechenden Programm wieder zurückgewinnen könnte. Zudem gewinnen immer mehr Bürger den Eindruck, dass eine Nach-Merkel-CDU die in der Tat vorhandenen, aber wenigen unsäglichen Politiker mit diametral entgegenstehenden Ansichten mit einer Protestwahl besser zur Räson bringen könnte, als durch den steten Ruf der „Abgrenzung“ durch die etablierten Parteien.
Immerhin, führende CDU-Politiker um Angela Merkel erteilten einer Koalition mit der AfD eine unmißverständliche Absage. Die Hysterie treibt die SPD durch Berlin. Durch die ständige Beschäftigung mit der AfD und anderen Politikern, die konservative Ansichten vertreten, erreicht die SPD das „krasse Gegenteil“ von dem, was sie beabsichtigt. Lars Klingbeil sollte sich einmal die Landtagswahl von Nils Schmid in Baden-Württemberg vom 13. März 2016 ansehen: mit 12,68 Prozent schmierte die SPD komplett ab (das desaströsteste Ergebnis, das ein Landesvorsitzender je erzielte; dieses Ergebnis klebt jetzt auch an Leni Breymaier wie Pech). Nils Schmid war immerhin Vize-Chef der Grün-Roten-Landesregierung sowie Finanz- und Wirtschaftsminister im Kabinett Kretschmann. Eines war augenscheinlich: die Grünen gestalteten ihren eigenen Wahlkampf und die SPD fuhr lange bequem im Windschatten von Kretschmanns Popularität mit.
Übrigens: wenn ganz normale interessierte Bürger auf dem Wochenmarkt schon ironisch-schmunzelnd fragen, wann denn der Neuanfang in der SPD endlich beginnen würde, dann weiß man, dass man den Sozialdemokraten derzeit wirklich wenig abnimmt.
Giovanni Deriu, Dipl. Sozialpädagoge, Freier Journalist. Seit 20 Jahren in der (interkulturellen) Erwachsenenbildung tätig.