Das moderne Leben ist höchst komplex: Der wirklich große und deshalb heute von der wissenschaftlichen Zunft ungern erwähnte oder als „alt“ verniedlichte Sozialwissenschaftler Georg Simmel machte deutlich, dass der zivilisatorische Grad eines Gemeinwesens an der Anzahl der verschiedenen Organisationen gemessen werden kann, die wir im Laufe eines Tages durchschreiten: Beschränkte sich die Anzahl der unterschiedlichen Einrichtungen, die ein Bauer im Mittelalter durchlief höchstwahrscheinlich auf seine Familie, sein Dorf und seinen Gang zur Kirche, so kommt der Mensch des 21. Jahrhunderts mit mehr Organisationen innerhalb einer Stunde in Kontakt als der besagte Bauer im Laufe seines gesamten Lebens. Nun ist es nicht so, dass der moderne Mensch „besser“ mit all diesen Informationen umzugehen weiß, weil sich seine intellektuellen Fähigkeiten somatisch optimiert hätten … er strukturiert die Informationen nur anders. Kurzum: Komplexität wird fokussiert. Denn in den allerwenigsten Feldern des Lebens verfügen wir über Informationen und Wissen, dass in irgendeiner Form fundiert ist. Das meiste was der moderne Mensch sagt, denkt und meint ist ziemlich zusammenhanglos, oberflächlich und allenfalls „gefühlsgetragen“. Überall werden wir nach unseren Gefühlen gefragt: In der Schule, in der Arbeit und bei der Marktforschung. Gefühle haben gegenüber Fakten aller Art den Vorteil, dass sie sich einer Bewertung entziehen, was erklärt warum die Politik zunehmend emotional „argumentiert“. Dennoch erfordert das erfolgreiche Bestehen in der modernen Welt Tag-für-Tag Tausende von Entscheidungen zu treffen: Die Wahl der Kleidung, des Verkehrsmittels, des Radiosenders, des Mittagsessens, der Frau oder des Mannes mit dem man Zeit (vielleicht sogar den Rest seines Lebens!) verbringen will, nicht zuletzt dem Produkt, dem man Vertrauen schenkt und bereit ist Geld zu investieren.
Was kommunikativ zählt, ist durch bestimmte Handlungen dem Gegenüber das Gefühl der Bewertbarkeit zu suggerieren. Beispielsweise können die wenigsten Menschen wirklich beurteilen, ob der Techniker der ihre kaputte Waschmaschine repariert, bei seiner Diagnose die Wahrheit sagt … sie müssen sich darauf verlassen, dass sein Urteil stimmt. Dies gelingt eher, wenn der Techniker zuvor im adretten, gebügelten Blaumann, freundlich und akkurat frisiert vor ihrer Türe steht und vielleicht sogar anbietet, vor Betreten ihres Hauses die Schuhe auszuziehen … natürlich hat dies keinerlei wirkliche Auswirkung auf die Kompetenz des Fachmannes, aber es vermittelt das Gefühl, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Syllogismus nennt man dies in klassischer Rhetorik – Scheinbeweis in der Werbetheorie. Oscar Wilde hat diesen Zusammenhang viel prägnanter auf den Punkt gebracht: „Nur der Schein trügt nie.“
Was in der wunderbaren Waren- und Werbewelt gilt, ist auch für die zeitgenössische Form der Politikvermittlung bedeutsam. Und so ist die kommunikative Inszenierung der Sondierungsverhandlungen (über den Balkon hinaus) nicht nur spannend, sondern offenbart viel vom Selbstverständnis aller bisherigen Protagonisten. Die Frage ist nämlich, wie die jeweiligen Vertreter einer Partei ihre Milieus über die Inhalte hinaus gestalthaft zu erreichen versuchen. Der wunderbare Begriff der Gestalt enthält einen Zusammenhang, der über rein faktisch zu vermittelnde Elemente hinausgeht. Die Gestalt umfasst mehr als die Summe der Teile, sondern schafft etwas Einzigartiges im Zusammenspiel der Elemente: So schließen wir aus der Art wie sich ein Mensch bewegt, gestikuliert und spricht auf seinen Charakter. Politikkommentatoren sprechen von der Macht der Inszenierung.
Die Sondierungsverhandlungen offenbaren in ihrer Inszenierung Selbstverständnis, Mut und Trauma der Protagonisten in seltener Deutlichkeit. So präsentierten sich Grüne und ihre Sprecher in ihrer Kleidung deutlich seriöser und staatstragender als die Akteure, die schlechthin als konservativ gelten. Während nämlich Cem Özdemir und Michael Kellner in Anzug erschienen, lümmelten Andreas Scheuer und Alexander Dobrindt leger in Jeans, peppigen Wildlederschuhen und Jackett vor den Kameras. Und selbst die CDU-Unterhändler wirkten wie gut gestylte Ansons-Verkäufer in 1a-Citylage in Düsseldorf, Hamburg oder München. Kurz danach rief Herr Dobrindt auch noch die „Konservative Revolution“ aus und konnte nur schwer davon abgehalten werden, sich mit einem Hermes-Schal zu vermummen. Die Klamotte machte allerdings gestalthaft deutlich: Konservatismus ist heute cool, während die einstigen Unangepassten nach inhaltlicher „Unschädlichmachung“ nun auch eine ästhetische Anpassung vollzogen haben. Wer wills den Grünen verdenken: So nah waren sie an ihrem finalen gesellschaftlichen Aufstieg, so nah an ihrer Aufnahme ins bürgerliche Establishment, so dass sie ordentlicher wirkten, als katholische Jugendliche bei der Firmung beim Gruppenfoto mit dem Weihbischof. Das ganze erinnert nun wirklich an „My fair lady“ …
Und nun die neuen Sondierungen mit der SPD: Ein vertrautes Bild. Die Unterhändler sind abgezogen, nunmehr reden die Chefs direkt ans Volk. Und auch hier wiederholt sich das Bild: Martin Schulz trägt Anzug und Krawatte in gehobener Kaufhausstilistik durchgängig … während um ihn herum der legere Geist in Chefetagen und konservativen Zirkeln Einzug hält und wieder mal verdeutlicht, dass die „Sozialdemokratie“ in neuen Zeiten immer noch dem alten hinterherhinkt. Die Frage ist: Was ist aus dem linken Selbstbewusstsein geworden? Als aufrechter Sozialdemokrat mag man vor so viel gestalthafter Angepasstheit schier verzweifeln. Es gilt in Zeiten der Globalisierung ohnehin nicht mehr: „Mehr Demokratie wagen“, sondern allenfalls „Mehr Mode wagen“ … Machen wir uns nichts vor: Die tatsächlich immer noch wirksame Abgrenzung der Konservativen von „den Sozialisten“ hat eben nicht zu einem tieferen Selbstbewusstsein bei der Linken geführt, sondern – im Gegenteil – einer ästhetischen Stigmatisierung der „Unangepasstheit“ und „Massenkultur“ … das wirkt seit mehr als einem Jahrhundert und wurde keinen Deut besser. Man beachte nur altes sozialdemokratisches Liedgut: „Der Feind den wir am meisten hassen, das ist der Unverstand der Massen.“
Eine sozialpsychologische Binsenweisheit ist, dass der Emporkömmling stets versucht, dem erstrebten Rollenmodell möglichst passgenau zu entsprechen. In einem rückwärtsgewandten Verständnis traurig-kleinbürgerlicher Logik verschanzt sich die vermeintlich progressive Flanke hinter der Requisite der Vergangenheit. So entsteht Konturlosigkeit im Kleinen – wie solls dann mit dem großen politischen Wurf und der klaren Abgrenzung zwischen „rechts“ und „links“ klappen?
Und so leben wir in spannenden Zeiten: Die inzwischen ermüdende Frage, was heute „rechts“ oder „links“ ist, umfasst nicht nur im 50sten-Jubiläumsjahr von 1968 die politische, sondern ebenso die ästhetische Komponente – denn das „Außen“ erlaubt nun einmal Rückschlüsse auf das „Innen“ …
„Früher trugen die Arbeiter am Sonntag noch einen Anzug“, so ist durchaus zu vernehmen. Heute haben sich die Arbeiter bereits emanzipiert, während ihre Interessensvertreter umso mehr den alten und wenig gewinnbringenden Traditionen anhängen und damit offenbaren: Uns trägt zur Zeit keine eigene kraftvolle Idee – noch nicht einmal im Kleiderschrank.