Der Glaube an Gott ist die Idee, dass es etwas Größeres gibt als das Leben. Etwas Größeres als den Menschen. Kirchen strahlen das aus. Kirchen müssen das ausstrahlen, sollen sie funktionieren. Durch die Pfarrkirche Humes verläuft ein rot-weißes Sperrband. Es ist auf den Boden geklebt. Daneben kleben Ikonen. Sie geben keine Führung. Zumindest keine spirituelle. Stattdessen mahnen sie, Abstand zu halten.
Sie gehören zum Hygienekonzept des Bistums Trier. Genau wie die Anmeldung. Am Eingang sitzt eine Frau, die prüft, ob man auf der Gästeliste steht. Wie im Club. Eine Platzanweiserin führt einen zum reservierten Platz. Wie im Kino. Vor der Messe liest der Pfarrer die Sicherheitsregeln vor. Wie im Flugzeug.
Die Pfarrkirche kenne ich seit 43 Jahren. Allerdings war ich seit 30 Jahren nicht mehr da. Etwas ist anders als damals. Und es ist nicht (nur) der Corona-Zirkus mit all seinen Widersprüchen. Irgendwas stört – verhindert das Aufkommen jeglicher Spiritualität. Es sind die Lampen. 20 Leuchter mit jeweils einem Dutzend Lichtern. Energiesparlampen. Sie tauchen die Kirche in ein Licht – so grell wie in den Glastempeln am Frankfurter Flughafen.
Die Lichtdramaturgie ist prägend dafür, wie eine Kirche funktioniert: Die lichtdurchfluteten Döme und Kathedralen, die von kirchlicher Macht zeugen. Oder der Zauber, in den die Fenster von Marc Chagall die Mainzer Stephanskirche tauchen. Die Pfarrkirche Humes war eine Bauernkirche: gemütlich und dunkel. Das Kirchenschiff blieb in diffusem, schwachem Licht – das verlieh dem Altarraum mit seinen Kerzen umso mehr Glanz. Für eine halbe Stunde ging es um Gott. Sonntags für eine ganze.
Die 240 Energiesparlampen lassen den Altarraum optisch untergehen. Im Mittelpunkt stehen das Hygienekonzept und die Teilnehmer, die seine Regeln einhalten. Vorne liest eine Frau Bibelstellen vor. Sie klingt wie eine dieser talentlosen Streberinnen in der Schule, die sehr viel Energie darauf verwendet haben, einen Text auswendig zu lernen – und keine darauf, den Text zu fühlen. Die auch gar nicht wissen würden, was das sein soll: einen Text zu fühlen.
Der Pfarrer predigt über Kirchenreformen. Er hält sie für notwendig. Vor 40 Jahren wäre das spektakulär gewesen. Heute wirkt sein Vortrag profan. Wie ein Tweet. Ein belangloser, der nur Pflichtlikes bekommt. Ausschließlich von der Bezugsgruppe. Der Pfarrer zählt vornehmlich Fragen der Sexualität als Punkte auf, die sich ändern müssen. Die Gemeinde sieht nicht so aus, als ob Sex ihr Lebensmittelpunkt sei – eher eine Erinnerung.
Auf die Frage, wie er Verlorene zurückgewinnen will, geht der Pfarrer nicht ein. Ihm war es wichtig, was zur Kirchenreform zu sagen. Das hat er umgesetzt. So wie das Hygienekonzept. Und das Aufhängen der Energiesparlampen. Um die Menschen geht es nicht. Die spüren das. Bleiben weg. Rund 80 Menschen sind in der Kirche. Früher waren es in jeder Gemeinde mehr. Mittlerweile musste die Kirche mehrere Gemeinden zusammenlegen. Und doch sind es nur 80 Besucher. Dabei wird einem halben Dutzend Toten geehrt. Allein schon, um wenigstens deren Verwandte zum Besuch zu nötigen.
Wer verzweifelt ist, wer nach Mut sucht oder Trost oder wer Antworten auf die großen Fragen wünscht – kurz: Wer auf der Suche nach etwas ist, das größer als er ist, der muss sich das rausschälen: aus den runtergenölten Bibelzitaten oder aus dem Vortrag über Kirchenreformen. Es ist eine schwere Aufgabe. Die Gemeinde hilft ihm nicht. Nicht in der Kirche. Bestenfalls draußen auf dem Parkplatz, wo die Menschen die Masken ausziehen, nahe beisammen sind und Gespräche geführt werden in einer Sprache, die nicht tot ist.