Tichys Einblick
Neue Daten zu Kollateralschäden der Lockdowns

Frühjahr 2021: Dreimal so viele Kinder wegen Suizidversuch auf Intensivstationen

Die Zahl der Kinder, die wegen Suizidversuchen auf einer Intensivstation landeten, ist bis Ende Mai 2021 drastisch gestiegen. Einmal mehr sollten die Kultusminister ihr Wort halten und die Schulen unabhängig von Virusvarianten unbedingt offen lassen.

IMAGO / Jochen Tack

Bei der Kultusministerkonferenz am 5. Januar wurde der letzte Beschluss vom Dezember 2021 insofern bekräftigt, als das Präsenzlernen „weiterhin absolute Priorität behalten soll“. Trotz der sich ausbreitenden Omikron-Variante sollen die Schulen laut KMK-Vorsitzender Karin Prien (CDU-Ministerin in Schleswig-Holstein) unbedingt offen bleiben, auch wenn „es im Einzelfall denkbar [ist], dass eine Schule ein Betretungsverbot ausspricht“. Diese Maßnahme soll jedoch erst ergriffen werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien – was genau das bedeuten wird, bleibt offen. Klar ist nur, dass sich die Prioritäten unserer Politik in den letzten anderthalb Jahren sehr schnell ändern konnten und von den Versprechen, sich für Kinder und Jugendliche, ihre Bedürfnisse und Wünsche, stark zu machen, mit steigenden Inzidenzwerten häufig nicht viel blieb. Dabei sind die Folgen von Schulschließungen und Lockdowns dramatisch. Wie dramatisch zeigte nun erneut eine Auswertung der Daten von 27 Kinder-Intensivstationen: Die Zahl der Kinder, die wegen eines Suizidversuchs auf der Intensivstation landeten, ist bis Ende des zweiten Lockdowns um 400 Prozent gestiegen.

Vergessene Corona-Opfer
Psychisch kranke Kinder leiden besonders unter dem Lockdown
Zu diesem Ergebnis kam eine neue Studie der Essener Uniklinik, über die der Leiter der dortigen Kinder-Intensivstation, Christian Dohna-Schwake, im Videocast der SVZ berichtete. Ihm zufolge mussten während des zweiten Lockdowns zwischen März und Ende Mai 2021 bis zu 500 Kinder wegen eines Suizidversuchs stationär auf einer Intensivstation behandelt werden – womit sich die Zahl der betroffenen Kinder im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten verdreifacht und im Vergleich zum ersten Lockdown sogar vervierfacht hat. Mit dieser dramatischen Entwicklung habe Dohna-Schwake nicht gerechnet. Der extreme Anstieg habe ihn überrascht, obwohl er auf seiner eigenen Station einen Anstieg der Fallzahlen beobachten konnte und dieser auch im Austausch mit Kollegen bestätigt wurde.

Der erhebliche Anstieg zwischen dem ersten und zweiten Lockdown sei wohl dadurch begründet, dass sich letzterer „wie Kaugummi“ hingezogen habe. Obwohl die Maßnahmen lockerer waren, habe es viel weniger Zuversicht gegeben, „dass das alles endlich vorbei geht“. Vor allem Kinder, die schon unter depressiven Verstimmungen litten, könnten das Bedürfnis gehabt haben, irgendwie dort rauszukommen – der Suizidversuch ist demnach ein verzweifelter Hilfeschrei. Dohna-Schwake empfiehlt deshalb, gerade die Schulen offen zu halten, „solange das irgendwie geht“. Soziale Kontakte, insbesondere außerhalb sozialer Medien, wirken präventiv. Die Schule ist für Kinder und Jugendliche der Ort mit sozialen Kontakten – das Offenhalten der Schulen ist aus seiner Sicht also „das A und O“ der präventiven Maßnahmen.

Wo die Triage Realität ist
Folgen der Lockdowns: Dramatische Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Neben den Aussagen von Medizinern wie Dohna-Schwake, gibt es inzwischen zahlreiche Studien, Umfragen und sonstige Daten, die den Zusammenhang von sozialer Isolation unter den Corona-Maßnahmen und der weltweit steigenden Zahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen (wie auch bei Erwachsenen) belegen. Soziale Interaktion, Mimik, Gestik, Berührung und Auseinandersetzung sind in der Entwicklung eines jungen Menschen entscheidend und durch nichts zu ersetzen. Enthält man einem jungen Menschen all diese Bestandteile eines normalen Lebens vor und schürt zusätzlich Panik und Hoffnungslosigkeit, können sich schwerwiegende Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Essstörungen entwickeln. Bleiben diese Krankheiten unbehandelt, was angesichts völlig überfüllter Kinder- und Jugendpsychiatrien (TE berichtete) und endloser Wartelisten bei ambulanten Therapeuten für viele leider eher die Regel als eine Ausnahme ist, treibt das einige bis in den Suizid.

Schon ohne Corona nehmen sich in Deutschland jährlich etwa 500 Kinder und Jugendliche das Leben – etwa zehn bis zwanzig Mal so viele unternehmen einen Suizidversuch. Weltweit stirbt alle elf Minuten ein junger Mensch durch Suizid, in Deutschland im Schnitt einer am Tag. Unsere Kultusminister täten also gut daran, ihr Wort zu halten und für offene Schulen einzustehen – und zwar unabhängig von Impfquoten, neuen Virusvarianten und saisonal schwankenden Inzidenzzahlen. Nur so kann (noch) Schlimmeres verhindert werden.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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