Mission accomplished? Das ist der Eindruck, den Norbert Walter-Borjans erwecken will. Schon bei seiner Wahl zum Co-Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie hatte er angekündigt, dass er kein weiteres Amt anstrebe. Im Dezember 2019 war die Partei an einem Tiefpunkt ihrer Geschichte angelangt – wie so oft bei der Übernahme eines neuen SPD-Vorsitzenden. Doch nicht nur der überraschende Wiederaufstieg der Sozialdemokraten ereignete sich unter seiner Ägide – ob dieser Phönixflug auf „NoWaBo“ zurückzuführen ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Walter-Borjans gehört zu den wenigen Parteivorsitzenden der jüngeren SPD-Vergangenheit, der weder aus dem Amt gejagt wurde noch verzweifelt aufgab. Wenn so ein Erfolg als SPD-Chef aussieht, dann hat ihn der 69 Jahre alte Politrentner tatsächlich errungen – und kann sich nun einen ruhigen Lebensabend gönnen. Die Ankündigung, nicht mehr als SPD-Vorsitzender zu kandidieren, ist daher keine große Überraschung.
Den Großteil der Medien beschäftigt dieser Fall, weil Cincinnatus-Momente in einer Republik, die 16 Jahre lang von derselben Person regiert wurde, selten geworden sind. Da verabschiedet sich tatsächlich einer, der sagt: Wenn es am schönsten ist, soll man gehen. Reihenweise liest man Artikel über diesen selten gewordenen, würdigen Abgang eines Politikers. Dabei scheint kaum jemand die wahre Dimension dessen zu begreifen, was sich andeutet. Walter-Borjans’ Abgang war bereits klar, als er eingesetzt wurde. Und niemand hat das besser gewusst als sein Steigbügelhalter Kevin Kühnert.
Doch Kühnert gehört nicht zum Typus des schlafwandelnden Utopisten, wie er bei den Grünen weit verbreitet ist. Kühnert ist ein mit allen Wassern gewaschener Sozialist, ein gewiefter Stratege und mit einem unheimlichen Instinkt für die Macht gesegnet. Das macht ihn deutlich gefährlicher als die verschrobenen roten Ideologen im Schlafwagenabteil. Kühnert ist zwar nicht der Lokomotivführer, aber steht in der strategischen Position des Heizers, der Kohle für den SPD-Zug nachschaufelt – oder nicht.
Kühnert hat sich geschickt in diese Position manövriert. Angefangen mit seinem Kampf gegen eine Erneuerung der Großen Koalition 2017/2018 gewann er nicht nur innerparteiliche, sondern auch öffentliche Beachtung wie lange kein Juso-Chef vor ihm. Das Scheitern des Votums beflügelte seinen Aufstieg, statt ihn zu besiegeln. 2019 ließ er sich mit einem der besten Ergebnisse der Geschichte der Jusos wiederwählen – und verkündete zügig, dass er bei der nächsten Wahl nicht zur Verfügung stünde. Lange vorab plante er den Aufstieg auf Bundesebene. Dass er in den laufenden Koalitionsverhandlungen als Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Arbeit und Wohnen“ agiert, ist ein Ritterschlag – und eine Anerkennung seiner Position. 49 Jusos sitzen im neuen Bundestag. Eine inoffizielle Kühnert-Fraktion in der Fraktion. Und damit ein Hebel, den Kühnert innerparteilich wie auf Ampel-Ebene genüsslich ziehen kann.
Zudem könnte Kühnert als Aushängeschild der SPD-Linken Brücken zum grünen Koalitionskollegen schlagen: ob Miete und Wohnen, Geschlechteridentität, Klimaschutz oder Massenmigration. In seiner Zeit als Juso-Chef hatte die SPD-Jugendorganisation den Klimaschutz zum zentralen Thema gekürt. Kühnert ist außerdem gegen eine „Militarisierung“ der Außengrenzen, bezeichnete die Anlage von Ankerzentren als „Kasernierung“. Gegen Darstellungen wie einen möglichen Kontrollverlust an den Grenzen wehrte sich Kühnert, das sei falsch und führe „in die Irre“. Es wird sich zeigen, wie ernst es der offen homosexuell lebende Kühnert mit seinem Appell gegenüber Linken und Linksliberalen meint, man müsse das „Schweigen“ über den Islamismus beenden.
Aber auch das ist ein Zeichen von Herrschaft: nicht gezwungen sein, jeden Schritt zu tun. Anders als der sklerotische Rest des SPD-Apparats hat Kühnert Zeit. Er ist jung, er hat seine Möglichkeiten. Er kann warten, bis sich andere verbrennen. Das kommt alles sehr bekannt vor. Der gelehrigste Schüler der Kanzlerin ist ein ehemaliger Juso-Chef.