Es ist grauenhaft, was neue Studien über das pädokriminelle, drei Jahrzehnte währende „Wirken“ des damals überaus geschätzten Pädagogikprofessors Helmut Kentler und über seine Netzwerke zu Tage förderten. Inzwischen gibt es drei Forschungsberichte, die auch die Verstrickungen des Berliner Landesjugendamtes in die Duldung, Unterstützung, Ermöglichung von sexualisierter Gewalt untersuchten. Es seien „unsägliche Experimente“ gewesen, sagte Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) soeben bei der Vorstellung des Abschlussberichtes der Universität Hildesheim. Titel: „ERGEBNISBERICHT – Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“.
Zurecht beginnt dieser 107 Seiten starke Bericht der Universität Hildesheim denn auch mit einer Vorwarnung: „Bitte um Achtsamkeit: In dem folgenden Ergebnisbericht werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für betroffene Personen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.“
Kentlers Kernthese war: Nur Pädophile könnten schwer erziehbare Kinder lieben. Kentler sagte einmal: „Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für ‚ihren‘ Jungen taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten.“ Kentler selbst fungierte dabei als Supervisor, Gutachter und Begleiter der Pflegestellen. Das „Kentler-Experiment“ erfolgte möglicherweise mit Kenntnis oder sogar Billigung der West-Berliner Verwaltung oder jedenfalls einzelner Mitarbeiter derselben. Bis in die 1990er-Jahre lehrte Kentler an der Universität Hannover, schrieb Gutachten in Missbrauchsfällen – zugunsten der Angeklagten.
Die Odenwaldschule
Der aktuelle Abschlussbericht nennt auch Namen: Zum Beispiel den Namen Gerold Becker (1928 – 2008). Dieser war von 1972 bis 1985 Leiter der im Jahr 2015 geschlossenen, zuvor als reformpädagogisch hochgerühmten Odenwaldschule, dort verantwortlich für regelmäßige Pädosexualität und langjähriger Lebenspartner des ebenfalls hochgerühmten Pädagogikprofessors Hartmut von Hentig (*1925). Weitere Namen: Prof. Hellmut Becker (1913 – 1993) förderte – nicht mit ihm verwandt – Gerold Becker und Hartmut vom Hentig; Hellmut Becker selbst war Mitarbeiter von Ernst von Weizsäcker, von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, dessen Sohn Andreas wiederum war Schüler der Odenwaldschule.
Zu den „prominenten“ Schülern dort gehörte der „Grüne“ Daniel Cohn-Bendit (1945). Dass der „rote Dani“ dort geprägt worden sein könnte, ist möglich. Jedenfalls schrieb er 1975 über seine Erfahrungen als Erzieher in einem Kindergarten in Frankfurt/M. in seinem Buch „Der große Basar“: „Mein ständiger Flirt mit den Kindern nahm erotische Züge an. Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.“ Den Hannah-Arendt-Preis (2001) und den Theodor-Heuss-Preis (2013) bekam er gleichwohl.
Kentler passte in die „progressive“, grüne Zeit
Zurück zu Kentler: Kentler war kein Einzeltäter. Von den 1960er Jahren bis in die 2000er Jahre existierte bundesweit ein Netzwerk angesehener Reformpädagogen, Jugendamtsmitarbeiter, Sozialarbeiter. Es war dies in den 1980er Jahren überhaupt eine Zeit, in der Kinder im Zuge der Ideologie der „sexuellen Befreiung“ massenhaft zum Opfer/Objekt progressiver Politik wurden. Die Dimensionen damals kommen den Dimensionen der beiden Kirchen sehr nahe. Die Grünen hatten 1980 die Legalisierung von Sex mit Kindern in ihrem Grundsatzprogramm gefordert; erst 1993 hoben sie diese Forderung auf. Und erst Ende 2013 bekannten sie sich anlässlich einer umfassenden Studie des Göttinger Politologen Franz Walter zu ihrer höchst unrühmlichen pädosexuellen Vergangenheit.
Die Auswertung von Akten des Berliner Jugendamtes ergibt, dass Kentler und Co. sich immer an die gleichen Mitarbeiter gewandt haben, um Jungen zu vermitteln. „Es gab starke Signale, dass bei den Pflegestellen etwas nicht stimmt. Dem wurde nicht nachgegangen“, schreibt Julia Schröder von der Universität Hildesheim. Die Autorinnen des Hildesheimer Berichts sprechen von einem machtvollen Zusammenwirken von Wissenschaft, Fachexperten und Behörden.
Wie viele Betroffene es gab, ist bis heute unbekannt. Ins Rollen brachten das Verfahren zwei Männer, die als Sechsjährige als Pflegekinder zu einem Pädokriminellen kamen. Inzwischen haben sich weitere Betroffene gemeldet und so einen Beitrag für die Aufarbeitung dieses Kapitels geleistet. Den Wissenschaftlerinnen ist es wichtig, dass das nicht das Ende ist, auch wenn das Land Berlin keine weitere Förderung in Aussicht stellt.
Immerhin, Berlins Jugendsenatorin will auf der Familienministerkonferenz für eine bundesweite Aufarbeitung des „Kentler-Experiments“ werben, da jetzt eindeutig belegt ist, dass der Fokus auf Berlin viel zu klein war. Der aktuelle Bericht nennt neben Berlin und Göttingen auch Tübingen, Lüneburg und Hannover. Bis über eine Fortsetzung der Recherchen entschieden ist, wird die Forschergruppe allein weitermachen. Sie hofft, dass weitere Betroffene sich bei ihnen melden.