Normalerweise sind die Grünen und weitere Teile der politischen Linken nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen und den Meinungskorridor einzuschränken. Da wird dann schnell von „Hass und Hetze“ schwadroniert, wird die „Nazi-Keule“ ausgepackt oder wahlweise „Rassismus“, „Misogynie“ oder anderes unterstellt, wenn sich Konservative zu Wort melden. Parallel regt die Einrichtung von „Meldestellen“ die Bevölkerung zur eifrigen Denunziation an.
Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass die Grünen bei einem Thema, das ihre eigene Klientel berührt, auf einmal ausgerechnet die Sorge um die Meinungsfreiheit vorbringen, um eine politische Initiative zu blockieren. Es geht um die Bekämpfung von Antisemitismus im Kultur- und Wissenschaftsbereich, man könnte auch spezifizieren: von linkem Antisemitismus.
Diese Anträge wurden allerdings nur in die Ausschüsse verwiesen und nicht verabschiedet. Seitdem versuchten die Fraktionen von der Union bis zu den Grünen (unter Ausschluss der AfD und der Linken sowie mittlerweile des BSW) eine Einigung für eine gemeinsame Antisemitismus-Resolution zu finden. Ergebnis mehr als ein Jahr nach dem 7. Oktober: keines. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, kommentierte das jüngst sarkastisch: Zunächst habe eine Resolution am 9. November 2023 verabschiedet werden sollen und dann sei der 7. Oktober angedacht gewesen: „Eine Jahreszahl wurde dabei nie genannt.“
Woran liegt’s? Ganz offensichtlich an den Grünen: Das jedenfalls legt ein Bericht in der aktuellen Ausgabe des Spiegel nahe. Zuvor hatte bereits der Blog „Ruhrbarone“ unter Berufung auf eigene Quellen von einer grünen „Blockadehaltung“ geschrieben. Ein Bericht der „Zeit“ läuft auf dasselbe hinaus. Was ist der Grund dafür? Die Sorge um die Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit, konkreter: um die Freiheit, Israel weiter nach Lust und Laune von links kritisieren zu dürfen. Dabei geht es den Grünen wohl nicht zuletzt darum, ihr Vorfeld, die linken Kultur- und Uniblasen, nicht zu verprellen. Dort herrschen schließlich teils äußerst ausgeprägte antiisraelische Ressentiments vor.
Bereits im Juli war ein Entwurf der Resolution öffentlich geworden. Darin fanden sich neben allgemeinem Geschwurbel etwa über antisemitische Angriffe, die man „aufs Schärfste“ verurteile, auch einige konkrete Passagen. Unter anderem sollten bei Bundesfördermittelanträgen von zivilgesellschaftlichen Organisationen die zu fördernden Projekte auf eine „Reproduktion von antisemitischen Narrativen“ geprüft werden. Und dafür sollte wiederum die Antisemitismusdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) zugrundegelegt werden. Auch auf Länder und Kommunen sollte entsprechend eingewirkt werden.
Die IHRA-Antisemitismusdefinition steht seit Jahren von links unter Beschuss. Die israelische Regierung unterstützt sie und auch die Bundesregierung hat sie 2017 bekräftigt. Stein des Anstoßes ist insbesondere der von der Bundesregierung damals verabschiedete Zusatz, dass „auch der Staat Israel“ Ziel judenfeindlicher Angriffe sein könne. In der eigentlichen IHRA-Definition findet sich das nicht, wohl aber in den Beispielen, die die IHRA zur Veranschaulichung herausgegeben hat.
Kritiker behaupten, dass durch diese angeblich zu extensive Antisemitismusdefinition legitime Kritik am israelischen Regierungshandeln zu schnell als judenfeindlich klassifiziert werde. Entsprechend fürchten sie konkret mit Blick auf die vom Bundestag geplante Antisemitismus-Resolution, diese könne insbesondere die Kunstfreiheit der Kulturschaffenden beschränken, weil sie zu einer Art Gesinnungsprüfung bei der Mittelvergabe führe.
Diese Argumentation ist alles andere als neu: Schon zu Jahresbeginn hatte sich der Berliner Kultursenator Joe Chialo die Finger verbrannt, als er eine „Antidiskriminierungsklausel“ in Förderbescheiden für Künstler einführte. Demnach sollten sich diese „gegen jede Form von Antisemitismus“ bekennen; die Klausel nahm dabei ebenfalls auf die IHRA-Definition Bezug. Nach einem riesigen Aufschrei musste Chialo zurückrudern.
Ähnlich gelagerte Kritik gibt es seit Jahren an einer Resolution, die der Bundestag 2019 zur Israel-Boykottbewegung BDS verabschiedete. Darin hatte das Parlament die Argumentationsmuster und Methoden von BDS als antisemitisch bezeichnet und unter anderem Länder und Kommunen aufgefordert, keine Projekte finanziell zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen. Ganze 16 Abgeordnete der Grünen widersetzten sich damals mit einer öffentlichen Erklärung.
Ihre Begründung: Es fehle im Antrag „jedes Bekenntnis zum Schutz und zur Verteidigung der Meinungsfreiheit“. Und die „Diffamierung“ von Gegnern der israelischen „Besatzung“ als antisemitisch gehöre „zur Standardargumentation der rechtsnationalistischen Regierung Netanjahu“. Unterzeichner der Erklärung waren unter anderem Lisa Paus, die heute als Familienministerin riesige Summen an „zivilgesellschaftliche“ Projekte verteilen kann, und Claudia Roth, die heute ausgerechnet Kulturstaatsministerin ist. Zudem Erhard Grundl, Leiter des Arbeitskreises Kultur und Medien der aktuellen grünen Bundestagsfraktion.
Dieselben Fragen ließen sich zur Forderung in der Antisemitismus-Resolution des Bundestages stellen, wonach Kulturprojekte auf die „Reproduktion von antisemitischen Narrativen“ geprüft werden sollten. Das Problem ist nur: Ein großer Teil der Grünen und anderer Linker stellt solche Fragen immer nur, wenn es um ihre eigene Meinungsfreiheit geht. Und was noch problematischer ist: Sie pochen besonders penibel auf Meinungsfreiheit, wenn es um Antisemitismus geht und darum, unbedingt das Recht zu behalten, den Staat Israel zu kritisieren – im Zweifel deftig und grenzenlos.
Es ist ein Doppelstandard, der eine seltsame Form der Israel-Obsession anzeigt. Ausgerechnet Volker Beck hat das jüngst entlarvt. Gegenüber der ARD sagte der pro-israelische Grüne, man könne die Ablehnung von Antisemitismus in Zuwendungsbescheide aufnehmen, denn: „Das macht man mit 1.000 anderen Kriterien genauso. Ob das Förderprojekt CO2-neutral ist, ob das Gender-Budgeting berücksichtigt ist, ob LGBTI-Personen angemessen bei der Umsetzung der Zuwendungen berücksichtigt wurden.“ Bei diesen von Beck angeführten Fällen gibt es aber seltsamerweise nie einen Aufschrei.