Tichys Einblick
Können Zahlen Hetze sein?

Keine Antwort auf die Frage nach den Kosten der Zuwanderung

Eine Aufgabe der Opposition ist es, der Regierung Fragen zu stellen, die Pflicht der Regierung, sie zu beantworten. Aber im Deutschen Bundestag ist Selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich. Schon einfaches Fragen nach nüchternen Zahlen löst Empörung aus: Dokumentation einer Bundestagsdebatte.

imago images / Christian Spicker

Bei einer Debatte im Bundestag über einen Antrag der AfD, der nach den jährlichen Aufwendungen für Migration von Bund, Ländern und Gemeinden fragte, prallten am 9. Oktober unterschiedliche politische Zielvorstellungen und moralische Wertesysteme aufeinander. Die Debatte zwischen der AfD und den übrigen Fraktionen, bei der es hier und da heftig krachte und auch ein Hauch von Hate Speech in der Luft hing, warf im Kern die Frage auf, ob es unmöglich, unnötig oder sogar „unanständig“ ist, Zuwanderung überhaupt in genaue fiskalische Zahlen zu fassen. Zumal, wie einige Politiker postulierten, Migration ja grundsätzlich eine „Win-Win-Situation“ für Aufnahmegesellschaft und Migranten darstelle, die „Aufnahme von Geflüchteten“ nicht verhandelbar sei und eben Investitionen erfordere.

Der Bundestag hat sich am 9. Oktober mit der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der AfD-Fraktion befasst, in der es um die „fiskalischen Lasten der Zuwanderung“ ging. In namentlicher Abstimmung lehnte das Parlament den Antrag der AfD-Fraktion ab, die finanziellen Lasten der Migrationspolitik „umfassend“ offenzulegen. Der Abstimmung lag eine Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses vom 7. Oktober (Drucksache 19/23183) zugrunde, der sich für die Ablehnung des AfD-Antrags ausgesprochen hatte. Im Ergebnis stimmten 493 Abgeordnete, darunter alle anwesenden Abgeordneten der Linken, SPD, Grünen, FDP und fast alle Unionsabgeordnete außer einer Person, gegen den AfD-Antrag. 73 Parlamentarier stimmten dafür, es gab keine Enthaltungen. Insgesamt 143 der 709 Abgeordneten gaben keine Stimme ab.

AfD wünscht jährlichen Migrations-Bericht für Bund, Länder, Kommunen

In dem gut 7-seitigen AfD-Antrag vom 14. Januar 2020 (Drucksache 19/16488) fordert die Fraktion unter anderem, der Bundestag möge die Bundesregierung beauftragen,

„1. ihn jährlich nach Ende eines Haushaltsjahres zum 31. Mai in einem Bericht über die aktuellen Aufwendungen mit Bezug auf ihre Migrationspolitik zu informieren, die a) beim Bund bzw. in den Einzelplänen des Bundeshaushalts im Zusammenhang mit seiner gesamten Migrationspolitik anfallen – sei es für Kosten der sog. Fluchtursachenbekämpfung oder anderer indirekter Maßnahmen, sei es für die Bewältigung der Zuwanderung von Migranten aus sog. humanitären Gründen selbst (vornehmlich vor Ort in den Ländern und Kommunen anfallend), inklusive jener Haushaltstitel, die diese Kosten auch enthalten, aber nicht explizit als solche ausgewiesen sind; b) in den Ländern und Kommunen für die Bewältigung der sog. humanitären Migration tatsächlich insgesamt anfallen …;

2. die Länder aufzufordern, der Bundesregierung die entsprechenden Informationen für einen derartigen Bericht zukommen zu lassen;

3. soweit es die in Deutschland befindlichen Zuwanderer betrifft, wird dabei möglichst um Differenzierung nach deren … aufenthaltsrechtlichem Status gebeten“.
Im Einzelnen werden 15 Leistungsbereiche aufgezählt, für die in den jährlichen Bilanzen die anfallenden Kosten aufzuschlüsseln seien, darunter die Kosten für: Gemeinschaftsunterkünfte; Gesundheit; das Justizwesen; die allgemeine öffentliche Verwaltung; die öffentliche Ordnung und Sicherheit, Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, Länderpolizeien sowie Feuerwehr; sämtliche Rückführungen usw. Erbeten werden ferner Daten „über die aktuellen Steuer- und Sozialabgabenzahlungen der Zuwanderer mit Arbeitserlaubnis, differenziert nach deren … aufenthaltsrechtlichem Status, … um so die Einnahmen den Ausgaben gegenüberstellen und etwaige Fortschritte der Integration aufzeigen zu können,“ und jeweils aktuelle Angaben über die Höhe der „Asylrücklage zur Finanzierung der flüchtlingsbezogenen Belastungen“.

Bundesregierung legt ausgewähltes Datenmaterial vor

Im Vorfeld hatte die Bundesregierung bereits am 19. März 2020 auf 210 Seiten die vom 17. Juli 2019 datierende Große Anfrage einzelner AfD-Vertreter und der Fraktion der AfD „Die fiskalischen Lasten der Zuwanderung“ (Drucksache 19/11733) beantwortet. In der umfangreichen Regierungsbilanz (Drucksache 19/18352) sind ausgewählte statistische Informationen zusammengestellt. Eine Reihe von Fragen der AfD blieb allerdings unbeantwortet.

Präsentiert werden in dem Papier Daten und Informationen zu ausgewählten Themenkomplexen meist aus dem Zeitraum 2014 bis 2019 wie: Anzahl der sich im Land aufhaltenden Ausländer, deren Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsdauer, Altersverteilung, Aufenthaltsstatus; Anzahl der Ausreisepflichtigen, die über keine Duldung verfügen, sowie zu Personen, zu denen im Ausländerzentralregister kein Aufenthaltsstatus erfasst ist; Anzahl der Ausländer, die sich unter Berufung auf humanitäre Gründe in Deutschland aufhalten; Anzahl der Antragsteller, die sich im Asylverfahren befinden; Anzahl der Personen, die mit einem positiv oder ablehnend abgeschlossenen Asylverfahren erfasst wurden; Ausreisepflichtige usw. Ab Frage 12 werden auch ausgewählte Ausgaben für migrierte Menschen aufgeführt, so Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; der Bestand an Arbeitslosengeldempfängern, Anspruchshöhe des Arbeitslosengeldes und abgeführte Sozialversicherungsbeiträge für Personen im Kontext von Fluchtmigration und Weiteres.

Im Einzelnen wird die Anzahl der sich in Deutschland aufhaltenden Ausländer auf 11,06 Millionen Mitte 2019 beziffert (gegenüber 8,15 Millionen 2014), unter ihnen fast 4,84 Millionen EU-Bürger und gut 6,22 Millionen Drittstaatsangehörige. Wie die Bundesregierung ferner ausführt, könne davon ausgegangen werden, dass zwischen Januar 2014 bis Mitte 2019 insgesamt etwa 1,77 Millionen Menschen nach Deutschland eingereist seien, die in der Folge einen Asylantrag gestellt haben. Von diesen haben sich am 30. Juni 2019 noch etwa 1,48 Millionen in der Bundesrepublik befunden. Insgesamt wurden von Januar 2014 bis Juni 2019 Asylverfahren rechts- oder bestandskräftig bei gut 1,48 Millionen Menschen abgeschlossen, von denen sich fast 1,15 Millionen Mitte 2019 in der Bundesrepublik aufhielten, darunter fast 900.000 mit einer Aufenthaltserlaubnis und 108.000 mit einer Duldung. Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse über illegal nach Deutschland eingereiste Personen, die untergetaucht sind, vor.

Methodische Probleme / Keine Zuständigkeit für Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen

Die Bundesregierung macht in der Vorbemerkung ihrer Antwort unter anderem geltend, Bund und Länder seien in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig. Demnach fielen die Ausgaben der Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und Sozialversicherungen nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Die Bundesregierung nehme hierzu keine Stellung. Auch seien flüchtlingsbezogene Belastungen weder in funktionaler noch gruppierungsmäßiger Abgrenzung ein Merkmal im Bundeshaushalt, auf dessen Grundlage eine präzise Datenabfrage im Bundeshaushalt möglich sei. Bei einer Vielzahl von Titeln im Bundeshaushalt seien mehrere Maßnahmen veranschlagt. Zudem kommen zahlreiche Maßnahmen nicht ausschließlich Flüchtlingen zugute. „Eine Aufschlüsselung für die einzelnen in den Fragen genannten Personengruppen ist anhand des Bundeshaushalts nicht möglich.“ Soweit nach Angaben zu Haushaltsausgaben für zukünftige Jahre nach den aufgeführten Personenkreisen gefragt werde, liegen diese Angaben nicht aufgeschlüsselt vor. Zweck der Abschätzungen künftiger Bedarfe an Ausgabemitteln sei es primär, über valide Grundlagen für die Aufstellung kommender Haushalts- und Finanzpläne zu verfügen, welche sich nach den im Haushaltsrecht vorgesehenen funktionalen Gesichtspunkten gliedern.

Hinzu komme: Für die Beantwortung einzelner Fragebestandteile der Großen AfD-Anfrage sei „die Erhebung von Daten, die über die bereits in Datenbanken des Bundes geführten Informationen hinausgehen, für die Bundesregierung unzumutbar“, weil extrem arbeitsaufwändig. Betont wird zugleich, die Zahl der Asylerstanträge in Deutschland sei im Jahr 2019 erneut gesunken, auf 142.500. Auch widerspreche man der Darstellung, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Bearbeitung von Widerrufsverfahren vernachlässigt habe. Allein 2019 seien 170.400 Entscheidungen in Widerrufsverfahren getroffen worden.

Hitzige Parlamentsdebatte der Fraktionen am 9. Oktober: alle gegen eine

Der Abstimmung des Bundestags über den AfD-Antrag war am 9. Oktober eine hitzige Redeschlacht vorausgegangen (Plenarprotokoll 19/184). Die Diskussion verlief zwischen den Polen „(Stärkere) Ökonomische Betrachtungsweise der Migration“ und „Vorrang von Menschenrechten und Nächstenliebe bei unstrittig bestehender ‚Win-Win-Situation‘ für die Aufnahmegesellschaft und die Migranten“.

AfD-Position: Temporärer Schutz für gefährdete Menschen ja, Integration nein

Stefan Keuter und René Springer (beide AfD) sprachen die ihrer Meinung nach hohen Gesamtkosten von Migration an. Die Bundesregierung habe die sogenannten „Flüchtlings- und Integrationskosten“ auf 23,1 Mrd. Euro pro Jahr beziffert, das Institut der deutschen Wirtschaft und der Sachverständigenrat seien 2017 von jährlichen Migrationskosten in der Dimension von 50 Mrd. Euro ausgegangen, das Kieler Institut für Wirtschaftsforschung sogar von 55 Mrd. Unbegleitete jugendliche Migranten kosteten 60.000 Euro (pro Person). Stefan Keuter formulierte in deftiger Sprache: „Immer mehr Altdeutsche buckeln für immer mehr Neudeutsche. Auf der einen Seite Kinder- und Altersarmut, auf der anderen Seite kinderreiche alimentierte Großfamilien.“ Von circa 95 Prozent der 11 Millionen Ausländer in Deutschland habe man auch keine Angaben zu ihrer Schulbildung.

Die AfD, so Stefan Keuter, „will Menschen, die Schutz brauchen, die an Leib und Leben gefährdet sind, temporär Schutz gewähren. Aber sie will sie nicht integrieren. Jeder Mensch, auch ein Migrant, hat ein Recht auf Heimat und darauf, in seiner Heimat zu leben. Wir wollen die Menschen, die keinen Schutzgrund mehr in Deutschland haben, nach Hause schicken … Ein Sozialstaat und offene Grenzen passen irgendwie nicht zusammen“. Das Vorzeigeprojekt Digital-Pakt, über das lange gerungen worden sei, solle 1,1 Mrd. Euro pro Jahr kosten. „Im Gegenzug haben wir derzeit 270.000 unmittelbar Ausreisepflichtige ohne Schutzgrund in Deutschland, die Kosten von 8,1 Mrd. Euro pro Jahr verursachen. Da stimmen die Relationen nicht.“ René Springer führte aus, von den heute eine Million Menschen, die seit zehn Jahren Hartz IV beziehen, seien 200.000 Ausländer. Fraktionskollege Thomas Ehrhorn erkundigte sich bei den Abgeordneten, wer denn selbst einen Migranten bei sich zu Hause aufgenommen habe? „Oder könnte es vielleicht sein, dass Sie die Migration immer nur mit dem Geld der anderen, aber nie mit dem eigenen Geld bezahlen wollen?“

Die Vertreter der anderen Fraktionen im Bundestag argumentierten demgegenüber, dass eine fiskalische Bilanz der Zuwanderung, wie sie der AfD vorschwebe, sachlich unangebracht, unanständig und ohnehin nicht realisierbar sei.

AfD instrumentalisiert Migrationsdebatte/ „Anständige Deutsche“ stellen solche Anfragen nicht

Mehrere Redner kritisierten, die AfD wolle die Migrationsdebatte instrumentalisieren. So warf Christoph Meyer (FDP) der AfD vor, sie wolle „Menschen ein Preisschild umhängen“. „Liest man Ihre krude Auflistung, was Sie alles hier in die Kosten eingerechnet haben wollen und was am Ende beim Berliner Mietendeckel endet, dann wird es vollkommen klar, dass es Ihnen hier nur darum geht, in Buchstaben gegossene Hetze zu betreiben, Menschen zu verunglimpfen und eine Rechtfertigung für Ihre immer gleiche Mühle – die Situation 2014/2015 – hier in den parlamentarischen Betrieb einzubringen,“ erklärte Meyer. Humanität koste Geld. In der Flüchtlingskrise 2015, 2016 seien „politische Fehler gemacht“ worden, aber am Ende werde man es niemals zulassen, dass die AfD „auf Kosten, auf dem Rücken der Menschen hier“ ihre Polemik weiterverbreite.

Der Sozialdemokrat Helge Lindh erinnerte an den Anschlag von Halle und kritisierte in gleichem Atemzug „die moralische und menschliche Mickrigkeit der gesamten AfD-Fraktion in diesem Haus“. „Diese Mickrigkeit äußert sich in ebendieser Großen Anfrage und in dem Antrag. Nachdem Sie gesehen haben, dass die Nutznießerei von Coronaprotesten nicht wirklich läuft, nachdem Sie gesehen haben, dass das Instrumentalisieren der Klimaschutzdebatte auch nicht funktioniert, muss natürlich wieder die Frage der Migrationskosten auf den Tisch kommen.“

Lindh sagte weiter:
„Und dann rechnen Sie vor, dass 12 Durchschnittsverdiener einen Schutzbedürftigen finanzieren und 24 Durchschnittsverdiener einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling. Ich frage mich: Wie viele Durchschnittsverdiener finanzieren einen sehr gut diätierten AfD-Abgeordneten im Bundestag? Diese Rechnung möchte ich gerne einmal haben.“
„Da Sie das Ganze offiziell als Kritik an der Politik, als Kritik an der Migrationspolitik deklarieren, wünsche ich mir, dass die Kosten IHRER Migrationspolitik einmal entsprechend aufgeschlüsselt werden: die Kosten, die Rassismus in diesem Land verursacht, die Kosten, die Prävention verursacht, die Kosten zusätzlicher Stellen bei Sicherheitsbehörden, etwa beim Verfassungsschutz, die Kosten der Traumabehandlung von Opfern von Rassismus und Beschimpfung durch Ihre Anhänger – all die Kosten, die in diesem Land durch den Ungeist, den Sie verbreiten, verursacht werden. …“
„Wenn Sie anständige Deutsche wären, Herr Gauland, dann würden Sie solche Anfragen nicht stellen.“
(Bezogen auf anonyme Drohungen gegen ihn mit ähnlichem Wortlaut): „Und deshalb sage ich hier auch, weil Schweigen keine Option ist: Wenn irgendwann eine Schrotflinte meinen Hals lüftet, wenn mein Gehirn an irgendwelchen Wänden klebt, wenn mein Herz rausgerissen wird, dann sind Sie politisch dafür mitverantwortlich, dann hatten Sie politisch den Finger mit am Abzug.“

Andere finanzielle Posten wichtiger als Migrationskosten

Gesine Lötzsch (Die Linke) monierte, man könne sich über 50 Mrd. Euro im Jahr für eine Aufrüstung der Bundeswehr nicht leisten. Die laut Lötzsch „völlig legitime“ Frage, ob man sich hingegen die Aufnahme von geflüchteten Menschen leisten könne, beantworte sie persönlich „ohne Zögern mit Ja“. Gleichzeitig lobte Lötzsch den auch ökonomischen und demografischen Nutzen der Migration: „Wir brauchen pro Jahr 400.000 Menschen, die zu uns einwandern, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten. – Ich finde, wir sollten nie vergessen, welche Leistungen Menschen, die hier nicht geboren sind, die zugewandert sind, die hierher geflüchtet sind, für unsere Gesellschaft erbringen.“ Zuwanderer zahlten zum Beispiel jährlich Beiträge in Höhe von 17 Mrd Euro in die gesetzliche Krankenversicherung ein. Dem stehen nach Lötzschs Angaben lediglich Kosten in Höhe von 8 bis 9 Mrd Euro gegenüber. Im Ergebnis sorgten die Zuwanderer für eine jährliche Entlastung des gesetzlichen Gesundheitssystems.

Filiz Polat erklärt Migrationskosten für irrelevant

Filiz Polat (Bündnis 90/Die Grünen), Sprecherin für Migration und Integration, erklärte Migrationskosten für „Geflüchtete“ quasi für irrelevant. „Wenn wir vom Schutz von Geflüchteten sprechen, geht es nicht darum, was wir bereit sind zu zahlen. Es geht schlicht um das Recht, Rechte zu haben. Es geht um das international verankerte Recht, in einem Land Schutz zu suchen.“ Die Aufnahme von Geflüchteten „war in der Vergangenheit und ist bis heute stets eine Win-Win-Situation.“

Polat zitierte hier mehrmals die dritte Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus, der zur Abkehr vom Egoismus mahne. Sie betonte gleichzeitig, „dass dieses Land, Deutschland, ein Einwanderungsland ist“ und im Parlament wie in der Wirtschaft Einwanderungsfamilien vertreten seien. Sie glaube, die AfD disqualifiziere alles, was sie hier tue, „wenn Sie solche Menschen beschäftigen und in Ihren Reihen haben, wie Sie das tun. Deshalb haben Sie eigentlich überhaupt kein Recht, hier zu sprechen, und es tut mir im Herzen weh, dass Sie hier Mitglied dieses Hauses sind.“ In einer Twitter-Meldung beschwerte sich Polat im Nachhinein: „Die AfD hat wieder einmal über Geflüchtete und Migrant*innen gehetzt. Sie werden entmenschlicht und als vermeintliche Kosten für ‚die Deutschen‘ dargestellt.“

Integration verlangt Investitionen / Zuwanderung als Win-Win-Situation

Annette Widmann-Mauz, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, erklärte, die Aufnahme der Geflüchteten im Herbst 2015 sei „eine humanitäre Notlage von historischem Ausmaß gewesen“. Integration sei jedoch kein Selbstläufer. Sie koste Kraft, und „wir müssen investieren, damit sie gelingt“. Die Bundesregierung habe mit Nachdruck für schnellere Asylverfahren und mehr Ordnung und Steuerung bei der Migration gesorgt. Sie setze „auf die Integration von Schutzbedürftigen von Anfang an“. Die Hälfte der Geflüchteten seit 2013 sei erwerbstätig, etliche seien in Ausbildung. „Viele arbeiten davon im Gesundheitswesen, in der Altenpflege, im Handel, im Transport. Auch sie halten im Übrigen während der Coronakrise unser Land mit am Laufen.“ Man setze dem „von Verachtung getragenen Deutschlandbild“ der AfD „entgegen, was Deutschland im Jahr 2020 ist: ein Land der Vielfalt, ein Land der Chancen“, sagte die Staatsministerin.

Detlef Seif (CDU/CSU) monierte, die AfD-Fraktion fordere eine Masse an Zahlen an, die nicht in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Die AfD erwecke den Eindruck, dass sie sich auf Zuwanderung insgesamt beziehe. „Aber… die Zuwanderung nach Deutschland – ich sage es einmal genau so, wie Sie andersherum reden – in die Arbeitsmärkte, in die Wirtschaft ist existenziell für unser Land.“ Ohne diese sei der Wohlstand nicht gewährleistet. Seif kritisierte den Ausdruck „sogenannte humanitäre Gründe“ und verwies auf Schicksale von Flüchtlingen in seinem Umfeld, was Alexander Gauland (AfD) mit dem Zuruf, um die gehe es nicht, das wisse Seif auch ganz genau, quittierte. Seif: „Ich kann es nur zusammenfassen: Was sind Sie für ein herzloser, unmenschlicher und menschenverachtender Haufen!“ Beim Flüchtlingsschutz gehe es nicht um Gewinne. Seif gab aber auch zu: „Der Flüchtlingsschutz darf und soll nicht missbraucht werden für andere Zwecke; etwa für Wirtschaftsmigration.“ In Deutschland habe man schon wesentliche Fortschritte mit Asylpaketen gemacht. Ein geeignetes und taugliches System könne nur ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem sein.

Seifs Fraktionskollege Alois Karl kritisierte den „Duktus“ der AfD-Stellungnahmen, dass Deutschland angeblich „einen finanziellen Niedergang erleiden wird, einen finanziellen Niedergang sondergleichen, durch die Aufnahme von Flüchtlingen, von Zuwanderern, die uns in unseren Grundfesten erschüttern sollen“ und führte aus, dass er viele Fragestellungen für „banal“ und zum Lachen halte sowie einzelne Behauptungen der AfD falsch seien. Sein Resümee unter dem Beifall von CDU/CSU, SPD, FDP, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen:
„Es ist in der Tat ein gewaltiger Unterschied zwischen unserem Politikansatz und dem Ihrigen. Während Sie die Menschen, auch die Menschen in ihrer existenziellen Not, lediglich als finanzielle Recheneinheit in einem Abakus [= mechanisches Rechenbrett] von Soll und Nichthaben sehen, haben wir zum Gegenstand unserer Politik die Humanität, die Nächstenliebe, die Grundrechte und die Menschenrechte, und daran werden wir festhalten.“

Ein Grunddilemma der Migrationsdebatte: Spielt Geld keine Rolle, und wenn doch, welche?

Alois Karls Resümee bringt das Grunddilemma der Debatte um fiskalische Lasten der Zuwanderung und deren Bewertung gut auf den Punkt. Es fällt immer wieder auf, dass bei Streitigkeiten um die Flüchtlings- und Migrationspolitik und deren Kosten der entscheidende Faktor ist, auf wen oder was man den Blick fokussiert: inwieweit man sich einerseits auf Aufwendungen verursachende „Problemgruppen“ konzentriert, die nicht integriert werden sollen/wollen/können, wie man (illegale) Wirtschaftsmigration einschätzt; inwieweit man andererseits für die postulierte Erfolgsbilanz der Migration vor allem unproblematische und unstrittigen Teilgruppen heranzieht.

Sprich: Wer primär leidende „politische Flüchtlinge“, die unzweifelhaft „in existenzieller Not“ sind, und Bürger mit Migrationshintergrund, die seit Langem in Krankenhäusern, Läden und an Supermarktkassen arbeiten, vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen sieht, dürfte die Kosten von Flucht und Migration für sekundär halten. Anders derjenige, dem die wachsende Höhe der öffentlichen Haushalte und problematische Seiten der Zuwanderung (viele Fluchtgründe, Kriminalität, Integrationsschwierigkeiten und -probleme, illegale Zuwanderung, schwierige Rückführungen) Sorgen bereiten.

Selbstverständlich kann man den Standpunkt der Bundesregierung nachvollziehen, eine umfängliche, Aufarbeitung aller Aufwendungen für Migration sei praktisch unmöglich. Auch der Einwand, es bedürfe einer Kosten-Nutzen-Rechnung, nicht nur einer Kostenbilanz, zumal Menschen nicht in erster Linie als Finanzposten zu betrachten seien, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings läuft der von den meisten Bundestagsabgeordneten, bei denen eine stärker ökonomische Betrachtung der Zuwanderung spürbar Unbehagen auslöst, anscheinend vertretene Gegen-Entwurf mit den Argumentationssträngen

„1. Bei der Aufnahme von Menschen geht es in erster Linie um Humanität und Moral.

2. Sofern wirtschaftliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen, kann sich Deutschland Migration ohne Wenn und Aber auf jeden Fall leisten. 3. Migration ist unabhängig von den Kosten sowieso eine Win-Win-Situation für alle Seiten“
die Gefahr, wirtschaftliche Aspekte und Schattenseiten der Zuwanderung zu unterschätzen. Nach dem – oft für typisch deutsch gehaltenen – Lebensmotto: Über Geld spricht man nicht.

Auch nicht in Zeiten von Corona, verstärkter Arbeitslosigkeit, strapazierten Sozialkassen, einer schwächelnden Wirtschaft und steigenden Ausgaben fürs Klima? Selbstverständlich muss man die konkreten Folgen von Feliz Polats puristischem Leitsatz „Wenn wir vom Schutz von Geflüchteten sprechen, geht es nicht darum, was wir bereit sind zu zahlen. Es geht schlicht um das Recht, Rechte zu haben“ in seinen, auch finanziellen, Konsequenzen überdenken.

Letztlich prallten am 9. Oktober im Bundestag politische Wert- und Zielvorstellungen aufeinander, die das breite Meinungsspektrum in der Gesamtbevölkerung und speziell die Vielschichtigkeit des Gesamtthemas widerspiegeln. Sie laufen auf die zugespitzte Frage hinaus: Spielt Geld keine (entscheidende) Rolle, wenn man meint, unter dem Strich positive Ziele zu verwirklichen?

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