Kürzlich las ich in der FAZ ein interessantes Portrait über die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach und weshalb sie, die sie im Januar nach über 40 Jahren aus der CDU austrat, nun die AfD im Wahlkampf unterstützt. Steinbach wird immer wieder zitiert. Die Politik der Kanzlerin hält sie für grundlegend falsch. Deutschland sei massiver Schaden zugefügt worden, der Bundestag habe das mit allen Fraktionen nahezu kritiklos, in Teilen sogar euphorisch hingenommen.
Das Portrait über Steinbach ist deshalb so angenehm zu lesen, weil es auf Kommentare des Autors verzichtet. Es bleibt eine Ausnahme. Denn Erika Steinbach musste viel in den letzten zwei Jahren einstecken. Darunter auch nicht selten unsachlichen Spott an der Grenze zur Verleumdung von vermeintlich regierungskritischen Satire-Shows wie der Heute-Show und Extra 3, wo ihr u.a. der „Rassismus-Oscar“ für das Posten eines Bildes verliehen wurde, auf dem ein hellhäutiges blondes Kind umringt von farbigen Kindern neugierig betrachtet wird. Überschrieben ist das Bild mit den Worten „Deutschland 2017“ und „Woher kommst du denn?“.
Als das Bild neulich bei Omar Meslmani zu sehen war, einem syrischen Youtuber, der u.a. auch Videos für den WDR dreht, empörte sich jedenfalls niemand darüber oder behauptete, Meslmani betriebe Hetze und sei ein Rassist. Dieser hatte das Bild mit den Worten „Das musste ich einfach posten“ und mehreren lachenden Smileys kommentiert. Unter dem Posting lachen sich seine syrischen Anhänger und andere Personen in arabischer Sprache ebenfalls kaputt. Komischerweise blieb ein entsprechender Kommentar Volker Becks, der die Aufkündigung der Zusammenarbeit des WDR mit Meslmani fordert, aus. Die Opposition in Deutschland? Andere Meinungen? Im Jahre 2017, in dem Künstler und Stars den Schulterschluss mit den Regierenden üben und die Grünen nur noch in Schnappatmung verfallen, sind das längst andere wie Erika Steinbach. Nichts veranschaulicht das mehr, als ihr einsamer Sitz im Bundestag in der letzten Reihe und den sie mit Würde einnimmt.
Die linke Utopie des „neuen, besseren Menschen“, den man beliebig formen und erziehen kann, ist bis tief in die Gesellschaft vorgedrungen. Er zeigt sich nicht nur im Bestreben, den störrischen Wutbürger rechtzuleiten, sondern auch und nicht zuletzt in der arroganten Haltung, wonach man jede und jeden ungeachtet von religiösen und kulturellen Differenzen, integrieren zu können glaubt. Dass Letzteres angesichts von Schulklassen, in denen kein einziges Kind mehr Deutsch spricht, von Parallelgesellschaften mit eigenen Gesetzen und Regeln kaum noch möglich ist, blendet man aus.
Auf lange Sicht mag das liberale Modell jenes sein, welches sich durchsetzt, weil es als einziges der Unterschiedlichkeit der Menschen Rechnung trägt und es vermag, ihnen trotzdem, ohne Einschränkung der persönlichen negativen Freiheit, dank eines einheitlichen rechtlichen Rahmens und eines wertebasierten Minimalkonsenses, ein weitgehend friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, mit verschiedenen Meinungen. Kurzfristig bietet jedoch genau jene Freiheit und Toleranz des liberalen Modells ein Einfallstor für all jene, die die nach dem Maximalkonsens, und zwar nach ihrem Geschmack, streben.
Will man die friedliche multikulturelle Gesellschaft am Leben erhalten, den westlichen Glauben an die Vielfalt nicht gänzlich begraben? Integration in das hiesige Wertesystem funktioniert nur, so lange eine Mehrheit ihre Ansichten vorlebt und selbstbewusst einfordert. Gerade weil es sich hier nur um einen gesellschaftlichen Minimalkonsens handelt, muss dieser umso überzeugter verteidigt werden.
Was wir momentan in den meisten westlichen multikulturellen Gesellschaften erleben, ist jedoch genau das Gegenteil. Bloß keine anderen Meinungen. Die Frage des Umgangs mit dem Islam und der Zuwanderung spaltet nicht nur häufig muslimische Migranten und Einheimische, sie reißt auch eine tiefe Kluft zwischen Muslime und Einheimische selbst. Die Einigkeit, die es so dringend für eine machbare Integration bräuchte, gibt es nicht. Statt das künftige Miteinander wirklich angemessen „auszuhandeln“, verteufeln sich die unterschiedlichen Lager lieber gegenseitig. Manch AfD-Anhänger steht hierbei der ideologischen Intoleranz des linken Spektrums in nichts nach und selbst große Teile der ehemals politischen Mitte von CDU und SPD fahren in Bezug auf die Dämonisierung des islam- und einwanderungskritischen Spektrums ähnliche Geschütze auf. Der Minmalkonsens stirbt, stattdessen scheint es nur noch Leute zu geben, die ihren jeweiligen Maximalkonsens, die eine „wahre“ Ansicht durchdrücken wollen.
Dabei ist es genau jener Zwang, um jeden Preis „Haltung“ zeigen zu müssen, der die eigentliche Definition von Haltung ad absurdum führt. Er ist darüber hinaus zutiefst undemokratisch, weil er die Gesellschaft aufspaltet, Vielfalt in Meinungen zu unterdrücken sucht, statt sie wahrzunehmen und im Rahmen des demokratischen Systems zu kanalisieren. Je mehr man die einzelnen zwingt, sich für eine Seite zu entscheiden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich für eine Seite entscheiden, deren Ansichten sie gar nicht unbedingt in Gänze teilen, mit der sie aber mehr Schnittmenge haben, als mit der anderen. Die Mitte verpufft. Und je mehr man vor allem den um Differenzierung bemühten kritischen Bürger in die Schmuddelecke am rechten Rand steckt, ihn sozial und in Bezug auf den gesellschaftlichen Diskurs ausgrenzt, desto mehr beginnt er sich aus Enttäuschung mit eben jenem rechten Rand zu identifizieren. Desto mehr vermeintliche Gemeinsamkeiten, die er vorher nicht mit ihm hatte, wird er entdecken. Aber desto größer wird auch seine Wut und Verzweiflung. Die Absicht zu erziehen führt in der Folge zur Radikalisierung.
Stabilität in einer Gesellschaft erhält man nicht durch Zwang, die „richtige Haltung“ einnehmen zu müssen. Weder durch Internetzensur, noch erzieherische Pamphlete und mediales Schmierentheater mit Vorzeige-Migranten und einstudierten Fragen für die selektierten Gäste. Je mehr gegen die Kritiker der aktuellen Politik geschossen wird, desto weniger wird man sie überzeugen. Desto mehr werden sich Fronten entwickeln, wo früher eine Mitte war, und desto mehr werden sich diese Fronten verhärten und der Kampf gegeneinander unerbittlicher. Es ist die Erkenntnis, dass der linke (oder auch religiöse) Absolutheitsanspruch nie ohne Zwang durchzusetzen ist. Der Mensch ist, wie er ist. Eine der trivialsten Feststellungen und doch zugleich eine, die wir im Zuge eines angeblichen moralischen Imperativs weitgehend vergessen haben.
Die wirksamste Bekämpfung extremistischer Tendenzen aller Art liegt in einem gesellschaftlichen Diskurs mit Maß und Mitte, der wieder zeigt, dass Politik nie bloß schwarz und weiss ist. Dass weder alles gut ist, noch alles schlecht. Dass der Minimalkonsens nicht perfekt ist, aber immer dem Maximalkonsens vorzuziehen. Ein Gesellschaftsmodell, das nicht erzieht, sondern Meinungspluralismus zelebriert. Nur so lassen sich Konflikte im demokratischen Rahmen kanalisieren. Nur so wird verhindert, dass sie unter der Oberfläche gären und irgendwann hochkochen, sodass demokratische Repräsentation schlussendlich nicht mehr ausreicht, um der Wut Herr zu werden. Was wir brauchen, ist daher keine Angst vor anderen Meinungen, sondern Bewusstsein von der Wichtigkeit ihrer Abbildung, ungeachtet unserer eigenen Ansichten.
Das Bild von Erikas Steinbachs einsamen Stuhl verdient jedenfalls einen Eintrag in die Geschichtsbücher mit dem Titel: Die Opposition im deutschen Bundestag bis September 2017.