Wer darauf verweist, dass seit 100 Jahren alle Systeme gescheitert sind, die sich auf Karl Marx berufen haben, dem wird entgegengehalten, diese hätten sich zu Unrecht auf ihn berufen und seine an sich richtigen Gedanken missbraucht. Das ist die wichtigste Immunisierungsstrategie der politischen Linken: Die Entkoppelung des „guten Karl Marx“ von der gescheiterten politischen Praxis des Marxismus.
Kann man einen Denker oder Propheten dafür verantwortlich machen, wenn die Menschen ihn missverstehen? Natürlich nicht. Das gibt es immer wieder. Wie oft haben sich Menschen auf Jesus Christus berufen, obwohl sie sich ganz und gar unchristlich verhielten! Aber daneben gab und gibt es eben auch viele Christen auf der ganzen Welt, die seine Lehren durchaus richtig verstehen. Und Jesus hatte schließlich auch keine Utopie zur Verwirklichung des Paradises auf Erden entworfen: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagte er seinen Jüngern. Das Reich von Karl Marx sollte aber von dieser Welt sein.
Vor allem: Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Denker angeblich immer und ausnahmslos missverstanden wurde, weil es kein einziges System gegeben habe, das seine Ideen „richtig“ umgesetzt habe. Genau dies soll bei Marx der Fall gewesen sein, denn wenn man diejenigen fragt, die den Denker Karl Marx von der Praxis des Marxismus abkoppeln wollen, wo denn seine Ideen jemals „richtig“ umgesetzt worden seien, dann erhält man keine Antwort. Der Grund ist einfach: Alle sozialistischen Systeme, die sich auf Marx beriefen, sind ausnahmslos gescheitert, ob nun in der Sowjetunion, in China, in Jugoslawien, in der DDR, in Nordkorea, in Albanien: In jedem dieser Länder wurde das marxistische Experiment auf eine andere Weise durchgeführt, aber alle scheiterten letztlich an ökonomischer Ineffizienz.
Immunisierungsstrategie: Alle haben Marx missverstanden
Die These, dass eine Theorie seit über 100 Jahren immer und ausschließlich missverstanden worden sei, ist schon äußerst kühn und wäre im Grunde ein vernichtendes Urteil über einen Theoretiker, denn das hieße ja, dass er sich extrem unklar und missverständlich ausgedrückt hätte. Damit tut man Marx allerdings in der Tat unrecht. Er blieb in seinen Vorstellungen einer künftigen sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft bewusst sehr, sehr vage. Es finden sich nur vereinzelte Äußerungen, etwa in seinen Frühschriften. Marx wollte gerade kein „utopischer Sozialist“ sein, der ein fertiges Modell einer sozialistischen Gesellschaft entwarf. Aber so viel ist klar: Der Sozialismus – als Übergangsstadium zur klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus – sollte darauf beruhen, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft würde. Das hat Marx immer wieder sehr klar formuliert. Und genau dies ist in allen sozialistischen Systemen geschehen. Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Ersetzung einer Marktordnung, in der Unternehmer entscheiden, was produziert wird und die Preise die wesentliche Informationsquelle sind, durch eine Staatswirtschaft war – bei allen Unterschieden – das Gemeinsame aller sozialistischen Systeme, ob nun in der Sowjetunion oder China, in Kuba oder Korea, in der DDR oder in den Ostblockstaaten. Lenin und Mao, Fidel Castro und Kim Il-sung, Walter Ulbricht und alle anderen haben in diesem wichtigsten Punkt Marx durchaus richtig verstanden.
Warum ein solches System scheitern muss, hat Ludwig von Mises bereits 1922 (also fünf Jahre nach Errichtung des ersten sozialistischen Staates in der Sowjetunion) theoretisch in seinem Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“ begründet. Und die historische Entwicklung in den vergangenen 100 Jahren hat die Theorie von Ludwig von Mises bestätigt – und Karl Marx dann auch in der Praxis so eindeutig widerlegt, wie wohl nie zuvor eine Theorie widerlegt wurde.
So sieht das marxistische Traumland aus
Gregor Gysi hat dieses Dilemma erkannt und hat jetzt ganz willkürlich wenigstens drei sozialistische Versuche herausgekramt, die den „wahren Marx“ richtig verstanden hätten. Und diese drei seien alle nur deshalb gescheitert, weil man sie militärisch kaputt gemacht habe. Gysi im DEUTSCHLANDFUNK: „Die Linke ist natürlich geschwächt, weil der Staatssozialismus gescheitert ist, und so, wie er war, ist er ja auch zurecht gescheitert. Aber es gab ja nur drei Versuche eines demokratischen Sozialismus, wie es sich vielleicht auch Karl Marx vorgestellt hat. Das eine war die Pariser Kommune, die ist militärisch zerschlagen worden. Das zweite war der Prager Frühling, 1968 unter Dubcek in der CSR, auch militärisch kaputt gemacht worden. Und der dritte Versuch war von Allende in Chile, auch militärisch kaputt gemacht worden. Das ist interessant. Der demokratische Sozialismus hatte noch nie eine Chance.“
Nun, der „demokratische Sozialismus“ in der CSR war vor allem eine Revolte gegen den sowjetischen Kommunismus. Er fing so an, wie alle Revolten dieser Art, nämlich als Versuch, einen „besseren Sozialismus“ umzusetzen. So begannen bekanntlich auch die Demonstrationen gegen das DDR-Regime. Die Sowjets fürchteten damals der „Prager Frühling“ werde eine Eigendynamik entwickeln und im Kapitalismus enden. Und hätten sie ihn nicht mit Panzern niedergeschlagen, dann spricht viel dafür, dass es genau so gekommen wäre – wie bei allen antikommunistischen Aufstanden später (Polen, DDR usw.), die logischerweise „systemimmanent“ begannen und schließlich das sozialistische System komplett beseitigten. Den „Prager Frühling“ als eigenständiges, funktionierendes Musterbeispiel für den wahren „demokratischen Sozialismus“ anzuführen, ist jedenfalls sehr abenteuerlich.
Und Chile, das andere Beispiel von Gysi? In der Tat ist in Chile Allendes Sozialismus durch einen Militärputsch beendet worden, dem eine Diktatur folgte. Was Gysi verschweigt: Gescheitert war der Sozialismus in Chile schon davor.
So sieht Gysis Traumland aus
Im September 1970 wurde in Chile der Kandidat der Unidad Popular, Salvador Allende, mit knappen 36,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Faszinierend war dies für viele Linke deshalb, weil erstmals ein strammer Marxist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war. Marxisten kamen bis dahin üblicherweise durch gewaltsame Revolutionen an die Macht oder wurden von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt – so wie in der DDR oder Nordkorea.
Die erste Maßnahme des neuen Präsidenten war die Verstaatlichung der Kupferminen, der wichtigsten Einnahmequelle Chiles. Da die Sozialisten der Meinung waren, die von amerikanischen Firmen betriebenen Kupferunternehmen in Chile hätten in der Vergangenheit zu hohe Profite erzielt, bekamen diese nicht nur keine Entschädigung, sondern stattdessen noch nach ihrer Enteignung eine Rechnung präsentiert. Zügig wurden Banken und weitere Unternehmen verstaatlicht. Als Allende 1973 gestürzt wurde, lag der staatliche Anteil an der Industrieproduktion bei 80 Prozent. Die Mieten und die Preise für Grundnahrungsmittel wurden durch den Staat festgesetzt, die Gesundheitsversorgung kostenfrei angeboten.
Die sozialistische Regierung setzte vor allem auf den staatlichen Sektor. Die Beschäftigung beim Staat und in staatlichen Firmen weitete sich zwischen 1970 und 1973 um 50 bzw. 35 Prozent aus. Die Sozialausgaben stiegen in nur zwei Jahren real um fast 60 Prozent, was zur großen Popularität der Regierung beitrug. Finanziert wurde das alles durch Staatsschulden und eine Ausweitung der Geldmenge, nicht durch gestiegene Steuereinnahmen. Das Haushaltsdefizit wuchs allein 1971 im Vergleich zum Vorjahr von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 9,8 Prozent. Während die öffentlichen Investitionen um über zehn Prozent stiegen, fielen die Investitionen in der Privatwirtschaft 1971 um fast 17 Prozent. Das ist kein Wunder. Private Unternehmer, die befürchten müssen, dass ihr Unternehmen enteignet wird, investieren natürlich nicht mehr. In den Jahren 1970 bis 1973 wurden insgesamt 377 Unternehmen in Chile verstaatlicht.
Die Verstaatlichungen waren wirtschaftlich ein Misserfolg. Fachkräfte und Manager wanderten ab, stattdessen wurden zahlreiche Politaktivisten eingestellt. In Unternehmen, die noch nicht sozialisiert wurden, ergriffen Arbeiter selbst die Initiative und besetzten die Produktionsanlagen.
Zudem wurden 6,4 Millionen Hektar Land enteignet. Teilweise wurden Kollektive gebildet, wie man sie aus anderen sozialistischen Ländern kennt. Bauern, die in den 60er-Jahren von der Agrarreform profitiert hatten und Eigentümer geworden waren, mussten jetzt als Angestellte des Staates in landwirtschaftlichen Kollektiven arbeiten. In der Zeit von Allendes Herrschaft wurden täglich 5,5 Grundstücke enteignet oder besetzt und jeden zweiten Tag wurde ein Betrieb verstaatlicht oder besetzt. Die Produktionsleistung ging drastisch zurück, bereits 1972 musste Chile den Großteil seiner Exporterlöse für den Import von Lebensmitteln aufwenden.
Insgesamt war die Wirtschaftspolitik der Unidad Popular ein Misserfolg. Das galt nicht nur für den Agrar- und Industriesektor, sondern insbesondere auch für die Finanzpolitik. Wie ihre Vorgänger wurde die Regierung der Inflation niemals Herr, ja verschärfte sie durch die großzügigen Staatsausgaben zunehmend. Es kam zu einer ähnlichen Entwicklung, wie drei Jahrzehnte später in Venezuela (das Gysi und Wagenknecht noch vor wenigen Jahren als sozialistisches Wunderland lobten, doch angesichts der weltweiten höchsten Inflation von über 2000 Prozent hat Gysi dieses Beispiel nicht mehr erwähnt). Schon beim Amtsantritt von Allende hatte die Inflation 36 Prozent betragen, und sie stieg bis 1972 auf 605 Prozent.
Wie später im sozialistischen Venezuela kam es in Chile zu zahlreichen Protestaktionen. Während des fast einmonatigen Besuches des kubanischen Revolutionsidols und Staatsführers Fidel Castro in Chile organisierten Chileninnen einen „Marsch der Kochtöpfe“, um gegen die schlechte Versorgungslage zu protestieren. Linke Aktivisten griffen die Demonstranten an. Im Oktober 1972 beteiligte sich eine halbe Million Kleinunternehmer, Bauern und Freiberufler an Protestaktionen gegen die Regierung.
Im September 1973 putschte das Militär gegen die sozialistische Regierung. Kurz bevor die Putschisten den Präsidentenpalast stürmten, beging Salvador Allende Selbstmord. General Augusto Pinochet errichtete eine schlimme Militärdiktatur. Die Pressefreiheit und andere demokratische Rechte wurden beseitigt, Oppositionelle verhaftet und gefoltert.
War Marx’ Analyse des Kapitalismus richtig?
Erwähnt man die etwa 100 Millionen Toten, die die sozialistischen Experimente gekostet haben, dann lautet das Gegenargument, der Kapitalismus sei auch nicht besser. Im Gegenteil: Er sei viel schlimmer, denn er sei für Hunger und Armut auf der Welt verantwortlich. Nun, das ist allerdings nicht sehr marxistisch argumentiert, denn Marx betonte gerade die zivilisatorische Leistung des Kapitalismus, der zu einer ungeheuren Entwicklung der Produktivkräfte geführt habe. Er glaubte jedoch, dass der Kapitalismus schon bald zu einem Hemmschuh für eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte würde und an seinen inneren Widersprüchen zusammenbrechen müsse. Das Proletariat würde verelenden und die Profitrate immer weiter sinken – bis schließlich das Proletariat die Macht übernehme und Produktionsmittel sowie Grund und Boden vergesellschaftet würden.
In seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ (1858) schrieb er: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt haben. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln um.“ Seine Prognose: Der Kapitalismus werde schon bald zu einer Fessel für die Produktivkräfte werden und würde dann ersetzt werden durch eine Ordnung, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft werde.
Bekanntlich ist der Kapitalismus heute, genau 160 Jahre nachdem Marx dies prophezeite, lebendiger denn je. So wie die Anhänger von Weltuntergangssekten immer wieder neue Daten für den ausgebliebenen Weltuntergang aufrufen, so verkünden auch die Marxisten seit 150 Jahren das bald nahende Ende des Kapitalismus. Für Lenin war der „Imperialismus“ bzw. „Monopolkapitalismus“ bekanntlich das „letzte Stadium“ des Kapitalismus, der bald auf der gesamten Welt zusammenbrechen werde.
Eingetreten ist genau das Gegenteil dessen, was Marx vorhergesagt hatte: Die kapitalistischen Länder entwickelten sich sehr viel dynamischer und schafften sehr viel mehr Wohlstand als jene, in denen das Privateigentum abgeschafft wurde. Nicht die Abschaffung des Privateigentums war die Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik, sondern ganz im Gegenteil: Die Wiedereinführung des Privateigentums war – wie das Beispiel China zeigt, aber auch die Entwicklung in Ostdeutschland nach der Wende – die Voraussetzung für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung und mehr Wohlstand. Genau 100 Jahre, nachdem Marx seine oben zitierten Sätze schrieb, starben in China 45 Millionen Menschen an dem größten sozialistischen Experiment aller Zeiten: der „Großen Sprungs nach vorne“, dessen wesentliches Element die Abschaffung des Privateigentums auf dem Land und dessen Ersetzung durch „Volkskommunen“ war, führte zur größten von Menschen angerichteten Hungerkatastrophe in der Geschichte. Heute ist China eine aufstrebende Volkswirtschaft, und der Anteil der Armen ist in den vergangenen Jahrzehnten von 88 Prozent auf 2 Prozent gesunken. Der Grund für die Beseitigung der Armut war, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln wieder eingeführt und dem Markt mehr Raum gegeben wurde. China hat sich auf den Weg des Kapitalismus begeben – nicht die Befreiung von kapitalistischen Produktionsverhältnissen, sondern die sukzessive Einführung kapitalistischer Produktionsverhältnisse war die Voraussetzung für eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte. Und dies ist ganz genau das Gegenteil dessen, was die Theorie von Marx besagte.
Führt der Kapitalismus zu Hunger und Armut?
Bei einer Erhebung von Infratest dimap in Deutschland im Jahr 2014 stimmten 33 Prozent der Deutschen (in Ostdeutschland 41 Prozent) der Meinung zu, der Kapitalismus führe „zwangsläufig zu Armut und Hunger“. Das Gegenteil ist jedoch richtig.
Der Kapitalismus ist der Grund für ein ungeheures Wachstum des Lebensstandards, wie es ihn vor der Entwicklung der Marktwirtschaft in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat. Seit den Ursprüngen der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren benötigte es 99,4 Prozent der Menschheitsgeschichte, bis vor etwa 15.000 Jahren ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Weltbevölkerung von 90 internationalen Dollars erreicht wurde (der internationale Dollar ist eine Recheneinheit, die auf der internationalen Kaufkraft des Jahrs 1990 basiert). Bis zum Jahr 1750 brauchte es weitere 0,59 Prozent der Menschheitsgeschichte, um das Welt-BIP pro Kopf auf 180 internationale Dollar zu verdoppeln. Und dann, in weniger als 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte, von 1750 bis zum Jahr 2000, wuchs das Welt-BIP pro Kopf um das 37fache auf 6.600 internationale Dollar. In anderen Worten: 97 Prozent des Reichtums der Menschheit wurden in den vergangenen 250 Jahren, also in 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte, erzeugt. Die Lebenserwartung eines Menschen hat sich in diesem kurzen Zeitraum fast verdreifacht (1820 lag sie noch bei 26 Jahren). Die Menschen sind nicht plötzlich so viel intelligenter oder fleißiger geworden in dieser Zeit, sondern in den westlichen Länder hat sich vor etwa 200 Jahren ein Wirtschaftssystem entwickelt, das allen anderen in der Menschheitsgeschichte überlegen ist – der Kapitalismus.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben belegt: Je mehr wirtschaftliche Freiheit es gibt, also je kapitalistischer ein Land ist, desto wohlhabender sind die Volkswirtschaften, desto wahrscheinlicher erreichen sie ein hohes Wirtschaftswachstum, desto höher ist sogar das Einkommen der ärmsten zehn Prozent des Bevölkerung. Eines der wichtigsten Argumente für den Kapitalismus ist, dass die wirtschaftlich freien Länder geringere Armutsraten haben und eine schnellere Armutsreduktion erreichen. Die Weltbank veröffentlicht regelmäßig Daten zur weltweiten Armutsentwicklung. Diese werden nur für Entwicklungsländer berechnet, nicht jedoch für die industrialisierten Länder mit hohem Einkommen. Eine Untersuchung belegt, dass die Rate extremer Armut in den am wenigsten freien Ländern bei 41,5 Prozent lag, jedoch nur bei 2,7 Prozent unter den freiesten Volkswirtschaften. Die Rate der „moderaten Armut“ lag bei dem Quartil der wirtschaftlich unfreiesten Länder bei 57,4 Prozent, im Quartil der wirtschaftlich freiesten Länder dagegen bei 3,6 Prozent.
Damit zusammen hängt, dass die Lebenserwartung in Ländern mit größerer wirtschaftlicher Freiheit deutlich höher ist als in Ländern mit geringer wirtschaftlicher Freiheit. In dem Quartil der Länder mit der geringsten wirtschaftlichen Freiheit lag die Lebenserwartung bei 60,7 Jahren, im Quartil der wirtschaftlich freiesten Länder dagegen bei 79,4 Jahren. Die Lebenserwartung ist also in wirtschaftlich freieren Ländern fast 20 Jahre höher als in wirtschaftlich unfreien Ländern.
Warum ein System, das so viel zur Beseitigung von Hunger und Armut beigetragen hat als „unmenschlich“ gilt, während der Sozialismus, in dessen Namen 100 Millionen Menschen ermordet wurden, als „human“ und „menschlich“ gilt, bleibt das Geheimnis der antikapitalistischen Intellektuellen.
Warum der Marxismus für Intellektuelle attraktiv ist
Historisch ist der Kapitalismus gewachsen, so wie Sprachen gewachsen sind. Sprachen wurden nicht erfunden, konstruiert und erdacht, sondern sind das Ergebnis von ungesteuerten spontanen Prozessen. Obwohl das treffend als „Plansprache“ bezeichnete Esperanto bereits 1887 erfunden wurde, hat es sich bis heute ganz und gar nicht als weltweit am meisten gesprochene Fremdsprache durchgesetzt, wie es seine Erfinder erwartet hatten. Der Sozialismus ist so etwas wie eine Plansprache, ein von Intellektuellen erdachtes System. Seine Anhänger streben danach, politische Macht zu erringen, um dieses System dann zu implementieren.
In der reinsten Form wurde dieser Ansatz von Lenin in seinem Werk „Was tun?“ formuliert, in dem er die Rolle der Theorie und der Partei beschrieb. Er wandte sich scharf gegen jede „Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung“ und entwickelte in Abgrenzung zu diesem von seinen innerparteilichen Gegnern vertretenen spontanen Ansatz das Konzept einer elitären Kaderpartei, die von einer revolutionären Theorie geleitet ist. „Die Geschichte aller Länder zeugt davon“, so Lenin, „dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an.“
Zustimmend zitiert Lenin den damals führenden marxistischen Theoretiker in Deutschland, Karl Kautsky, der ebenfalls betonte: „Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht … Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz … Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes.“
Solche Sätze schmeichelten natürlich den Intellektuellen, die sich als Avantgarde des Proletariats im Kampf um eine angeblich bessere Welt verstehen konnten.
Es ist kurios, dass sich in diesem Punkt Wladimir I. Lenin, Karl Kautsky und der liberale Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek einig sind. Hayek schrieb: „Der Sozialismus war niemals und nirgendwo ursprünglich eine Arbeiterbewegung. Er ist mitnichten ein offensichtliches Mittel gegen offensichtliche Übel, welches die Interessen dieser Klasse notwendigerweise verlangten. Er ist eine Konstruktion von Theoretikern, abgeleitet aus bestimmten Tendenzen abstrakten Denkens, mit dem lange Zeit nur die Intellektuellen vertraut waren; und es bedurfte lange Anstrengungen der Intellektuellen, bevor die Arbeiterklasse überredet werden konnte, ihn als ihr Programm zu übernehmen.“
Es ist kein Wunder, dass der Marxismus im 20. Jahrhundert eine ungeheure Attraktivität auf Intellektuelle ausübte: Die Theorie wurde von Intellektuellen erdacht und in komplizierten Systemen formuliert. Sie sollte sodann den „Massen“ (vornehmlich den Arbeitern) in ständiger Agitation und Propaganda vermittelt werden. Nach der Machtergreifung durch die Elite, die diese Theorie verstand, sollte sie in die reale Welt implementiert werden. Dabei ging es darum, gewachsene spontane Ordnungen – vor allem die Marktwirtschaft, aber auch Traditionen und gesellschaftliche Normen – zu zerstören und an deren Stelle ein „wissenschaftliches“, vernunftgesteuertes System zu setzen.
Teile dieses Beitrages sind dem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ entnommen: